Fortschr Neurol Psychiatr 2019; 87(02): 90-91
DOI: 10.1055/a-0802-9679
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Blind – ohne es zu bemerken

Blind – without noticing
Johannes Kornhuber
Further Information

Publication History

Publication Date:
25 February 2019 (online)

Bei dem seltenen, nach seinem Erstbeschreiber benannten Anton-Syndrom [1], [2] sind die Patienten blind, bemerken dies jedoch nicht. Diese Patienten verhalten sich so, als wäre nichts geschehen. Sie verneinen die Frage nach schlechter gewordenem Sehen und reagieren mit Konfabulationen, Entschuldigungen und Rationalisierungen. Ursache des Anton-Syndroms ist eine beidseitige Schädigung der Sehrinde; es handelt sich also um eine kortikale Blindheit. Die Gehirnregion, die über Sehen / Blindheit entscheidet, ist gestört. Daher fällt den Patienten ihre Blindheit nicht auf. Das Anton-Syndrom gehört zu den Anosognosien.

Aufgrund seiner Seltenheit werden nur wenige klinisch Tätige Patienten mit Anton-Syndrom zu Gesicht bekommen. Dafür sind praktisch alle Menschen nahezu täglich mit einem analogen Syndrom konfrontiert, das nach den beiden Erstbeschreibern Dunning-Kruger-Effekt [3] genannt wird: die Tendenz wenig kompetenter Menschen, eigenes Können zu überschätzen und die Kompetenz anderer zu unterschätzen. Natürlich ist dieser Effekt schon seit Langem bekannt. So befand Charles Darwin beispielsweise: „Ignorance more frequently begets confidence than does knowledge.“ Aber erst seit der Arbeit von Dunning und Kruger [3] wird dieser Effekt systematisch untersucht.

Schwache Leistungen gehen mit größerer Selbstüberschätzung einher als starke Leistungen. Inkompetente Personen überschätzen ihre Fähigkeiten verglichen mit objektiven Kriterien und haben geringe metakognitive Fähigkeiten, Kompetenz bei anderen zu erkennen. Der relevante Punkt: Inkompetente Personen können ihre tatsächlichen Fähigkeiten nicht besser einschätzen, nachdem sie soziale Vergleichsinformationen erhalten haben [3]. Gerade hier zeigt sich die Analogie zum Anton-Syndrom und zu anderen Anosognosien; es handelt sich sozusagen um eine „Meta-Ignoranz“, also Unwissen über das Unwissen. Im übertragenen Sinn sind diese Personen blind, ohne es zu bemerken. Dies alles führt zu einer mehrfachen Behinderung durch Inkompetenz: (1) schlechte Entscheidungen durch Inkompetenz; (2) geringe metakognitive Fähigkeit, die schlechten Entscheidungen als solche zu erkennen; (3) die metakognitive Fähigkeit verbessert sich nicht durch Rückmeldung zur Performanz [3]; (4) Kränkung bei Rückmeldung zur Performanz und (5) geringe Bereitschaft zur Verbesserung der eigenen Leistung [6]. Der letzte Punkt ist natürlich nachvollziehbar, da inkompetente Personen aufgrund der überhöhten Selbsteinschätzung nur wenig Verbesserungspotenzial bei sich erkennen können.

Anders als beim Anton-Syndrom ist der Zustand der Inkompetenz jedoch veränderbar; nicht jedoch, wie häufig angenommen und praktiziert, durch Rückmeldung, sondern paradoxerweise durch Verbesserung der Kompetenz [3]. Erst die verbesserten metakognitiven Fähigkeiten versetzen die Personen in die Lage, frühere Fehler und Schwächen adäquater einzuschätzen.

Der Dunning-Kruger-Effekt lässt uns die Welt besser verstehen. So beispielsweise die Bemerkung Donald Trumps aus dem Jahr 1984: „It would take an hour and a half to learn everything there is to learn about missiles. I think I know most of it anyway.“ Oder auch die zunehmende Impfverweigerung aufgrund medizinisch nicht begründeter Vorbehalte [5]. Über ein Drittel der Laien nimmt an, mehr über Ursachen von Autismus zu wissen als Ärzte oder Wissenschaftler. Dabei werden Impfungen als Ursache von Autismus angenommen. Dieses übersteigerte Selbstvertrauen ist mit einer Ablehnung von Impfungen assoziiert [4]. Die Impfverweigerung ist laut WHO eines der derzeit größten medizinischen Probleme [7].