Schlüsselwörter Thrombophilien - Faktor-V-Leiden-Mutation - APC-Resistenz - Thrombophilie-Screening - Tiefe Beinvenenthrombose
Key words thrombophilia - FV Leiden - activated protein C (APC) resistance - deep vein thrombosis - testing for thrombophilia
Klinischer Fall
Eine 28-jährige Patientin wurde von ihrem Hausarzt mit dringendem Verdacht auf eine
tiefe Beinvenenthrombose (TVT) in die Venen-Ambulanz überwiesen.
Die Patientin berichtete, dass sie seit dem Morgen eine starke Schwellung und
Schmerzen im linken Unterschenkel verspüre. Eine vergleichbare Symptomatik sei
bisher nie aufgetreten. Anamnestisch konnten bei der jungen Frau die klassischen
Risikofaktoren ([
Abb. 1
]) für eine TVT
ausgeschlossen werden. Orale Kontrazeptiva nehme sie keine ein; längere Flug- oder
Busreisen wurden verneint. Auch bestand zum Zeitpunkt der Vorstellung oder über die
vorherigen Tage kein fieberhafter Infekt. Eine Operation in den letzten 12 Wochen
wurde ebenfalls verneint. Die Anamnese nach rezidivierenden Aborten war
unauffällig.
Abb. 1 Die klassischen Risikofaktoren für eine TVT
In der Familienanamnese waren beim Vater mehrfache Thrombosen auffällig; diese hätten
vor 2 Jahren zu einer Lungenembolie geführt. Nun müsse der Vater täglich
blutverdünnende Medikamente einnehmen. Warum der Vater rezidivierende Thrombosen
erlitten hat, sei unklar. Eine altersabhängig empfohlene Vorsorgeuntersuchung habe
keine weiteren Hinweise auf eine Ursache für die Thrombosen ergeben.
Befund
Klinischer Befund
Es zeigte sich eine Schwellung des linken Unterschenkels mit einem eindrückbaren
Ödem und einer etwa 3 cm messenden Umfangsdifferenz zwischen dem linken und dem
rechten Unterschenkel.
Diagnostik
Sonografischer Befund: In der Duplexsonografie zeigte sich beidseits über der V.
femoralis ein atemmodulierter Fluss ohne Refluxphänomen unter Valsalva-Manöver. Die
rechte V. poplitea zeigte ebenfalls einen regelrechten Fluss sowie keinen Reflux.
Auf der linken V. poplitea konnte kein Fluss detektiert werden. In der
Kompressionssonografie fiel ein langstreckiger kompletter Verschluss der V. poplitea
links auf, die Vv. tibiales anteriores sowie posteriores und die Vv. fibulares waren
frei durchgängig und komprimierbar. Rechts waren alle tiefen Venen frei und gut
komprimierbar, ohne Anhalt für eine TVT.
Zur weiteren Verlaufsdiagnostik wurden, obwohl der Wells-Score bei > 2 lag,
zusätzlich die D-Dimere bestimmt. Diese zeigten sich mit 1400 µg/l eindeutig erhöht
(Referenzbereich 0–500 µg/l).
Therapie und Verlauf
Nach Kontrolle der Nierenwerte erfolgte eine leitlinienkonforme orale Therapie mit
Rivaroxaban für vorerst 6 Monate, beginnend mit einer Dosierung von 15 mg 2 ×/Tag
für die ersten 3 Wochen und anschließend 20 mg 1 ×/Tag. Zusätzlich erfolgte eine
Kompressionstherapie mit einem Oberschenkelstrumpf der Kompressionsklasse II, zum
einen, um die akuten Beschwerden der Patientin zu lindern, und zum anderen, um dem
Auftreten eines postthrombotischen Syndroms vorzubeugen [1 ].
Verlaufskontrollen fanden nach 3 Wochen sowie nach 6 Monaten statt.
In der Duplexsonografie des betroffenen Beines zeigte sich in der zweiten
Verlaufskontrolle nach 6 Monaten eine ungenügende Rekanalisation der V. poplitea mit
ca. 10 % Restlumen. Unter Valsalva-Manöver zeigte sich außerdem ein beginnender
Reflux von 0,5 m/s. Die D-Dimere zeigten sich zu diesem Zeitpunkt mit 856 µg/l
weiterhin erhöht.
Aufgrund des jungen Alters der Patientin, der unklaren Genese und der positiven
Familienanamnese wurde der Patientin eine weiterführende Diagnostik im Sinne einer
Thrombophiliediagnostik in einem hierfür spezialisierten Zentrum empfohlen.
Über zwei Tage vor dem Termin in der Gerinnungsambulanz wurde die Einnahme von
Rivaroxaban bei normaler Nierenfunktion pausiert. Es wurden die üblichen Parameter
bestimmt. Laborchemisch konnte eine heterozygote Faktor-V-Leiden-Mutation
(Arg506Gln) diagnostiziert werden, dem häufigsten Grund einer APC-Resistenz. Nach
Erhalt der Gerinnungsparameter wurde ebenfalls eine Vorstellung des Vaters in einem
spezialisierten Zentrum empfohlen. Bei ihm konnte eine homozygote
Faktor-V-Leiden-Mutation nachgewiesen werden. Obwohl es sich bei der heterozygoten
Faktor-V-Leiden-Mutation nicht um eine schwere Thrombophilie handelt, entschieden
wir uns gemeinsam mit der Patientin aus den folgenden Gründen für eine prolongierte
Antikoagulation: spontanes Auftreten einer langstreckigen, formal proximalen TVT;
ungenügende Rekanalisation nach 6-monatiger Therapie; pathologisch erhöhte D-Dimere
nach kurzzeitigem Pausieren der Antikoagulation. Für die Phase der Langzeiterhaltung
erfolgte nach den Ergebnissen der EINSTEIN CHOICE-Studie eine zulassungskonforme
Reduktion der Rivaroxaban-Dosis von 20 mg auf 10 mg 1 ×/Tag [2 ]. Im Rahmen der Entscheidungsfindung wurde
insbesondere auch die persönliche Präferenz der Patientin berücksichtigt, die eine
Fortführung der Antikoagulation eindeutig bevorzugte. Wesentlicher Grund hierfür
waren ihre Erfahrungen aus der Familie mit den rezidivierenden Thrombosen und der
Lungenembolie beim Vater, welche bei der Patientin Angst und Unsicherheit
hervorriefen.
Argumente, die für und gegen eine verlängerte Antikoagulation sprechen, finden sich
in [
Tab. 1
].
Tab. 1
Kriterien für und gegen eine verlängerte Erhaltungstherapie mit
Antikoagulanzienzien [1 ]
Kriterium
für fortgesetzte Therapie
gegen fortgesetzte Therapie
Risikofaktor
fortbestehend
passager
Genese
unklar
getriggert
Rezidiv
ja
nein
Blutungsrisiko
gering
hoch
D-Dimere (nach Therapieende)
erhöht
normal
Residualthrombus
vorhanden
fehlend
Geschlecht
Mann
Frau
Thrombus-Ausdehnung
langstreckig
kurzstreckig
Thrombus-Lokalisation
proximal
distal
Schwere Thrombophilie
ja
nein
Patientenpräferenz
dafür
dagegen
Diskussion
Bei den Thrombophilien handelt es sich um angeborene oder erworbene Veränderungen der
Blutgerinnung und Fibrinolyse, die nicht nur das Erstauftreten, sondern abhängig vom
Befund auch das Wiederkehren einer venösen Thromboembolie (VTE) begünstigen. Die
Thrombophiliediagnostik hat zum Ziel, diese Veränderungen nachzuweisen oder
auszuschließen und somit eine weitere Entscheidungshilfe zu liefern bei der Frage,
ob eine Antikoagulation beendet werden kann oder nicht. Auch bei der Klärung der
Frage, ob > 6 Monate nach dem VTE-Akutereignis eine dosisreduzierte
Antikoagulation möglich ist, gewinnt die Thrombophiliediagnostik im klinischen
Alltag an Bedeutung.
Einen Überblick über die häufigsten hereditären Thrombophilien und das damit
verknüpfte VTE-(Rezidiv-)Risiko zeigt [
Tab.
2
].
Tab. 2
Hereditäre Thrombophilie; VTE = Venöse Thromboembolie; FVL =
Faktor-V-Leiden; PT = Prothrombin [11 ],
[12 ]
Thrombophilie
Prävalenz (%)
Relatives Risiko (%)
Normalbevölkerung
VTE-Patienten
Erst-VTE
Rezidiv-VTE
FVL-Mutation
heterozygot
5
20
5–7
1,5
FVL-Mutation
homozygot
0,02
1,5
40–80
–
PT-G20210A-Mutation
heterozygot
2
6
3–4
1,5
PT-G20210A-Mutation
homozygot
0,02
< 1
20–30
–
Antithrombin-Mangel
0,02–0,2
1
4–50
2,5 (?)
Protein C-Mangel
0,2–0,4
3
15
2,5 (?)
Protein S-Mangel
0,03–0,1
2
5–10
2,5 (?)
Die APC-Resistenz bei heterozygoter Faktor-V-Leiden-Mutation ist die häufigste
Thrombophilie in der westlichen Bevölkerung [3 ].
Die Namensgebung bezieht sich in diesem Fall nicht auf das Leid oder Gebrechen,
sondern auf die niederländische Stadt „Leiden“, wo die Mutation erstmalig
beschrieben worden ist [4 ]. Aufgrund des
autosomalen Vererbungsmodus werden neben den häufigeren heterozygoten (nur ein Allel
betroffen) sehr viel seltener auch homozygote Veränderungen (beide Allele betroffen)
angetroffen. Die heterozygote Mutation ist gegenüber der Referenzbevölkerung mit
einem eher geringen Risiko für das Erstauftreten einer VTE assoziiert (siehe [
Tab. 2
]). Liegt dagegen eine homozygote
Mutation vor, ist das Risiko um den Faktor 80 gesteigert. Hierbei ist jedoch zu
bedenken, dass das relative Risiko gegenüber der Referenzbevölkerung zwar erhöht
ist, das absolute Risiko, eine erste VTE zu erleiden, aber weiterhin als gering
eingestuft werden muss, sodass auch bei Nachweis einer homozygoten
Faktor-V-Leiden-Mutation in der Regel keine kontinuierliche primärprophylaktische
Antikoagulation indiziert ist.
Auch das Risiko für ein VTE-Rezidiv ist bei den meisten Thrombophilien eher niedrig
[5 ]. Hierzu zählen die heterozygote
Faktor-V-Leiden-Mutation und die heterozygote Prothrombin-G20210A-Mutation [6 ]. Patienten mit einem Mangel an Antithrombin,
Protein C oder Protein S sowie mit Antiphospholipidsyndrom haben dagegen ein
relevant gesteigertes Risiko, ein thromboembolisches Rezidivereignis zu erleiden.
Die Kenntnis über das Vorliegen einer schwerwiegenden Thrombophilie ist wichtig, um
eine differenzierte Entscheidung über die Notwendigkeit einer Langzeiterhaltung nach
TVT treffen zu können. Die Thrombophiliediagnostik hat dagegen bei einer akuten VTE
in der Regel keinen Einfluss auf die unmittelbaren therapeutischen Entscheidungen
[7 ].
Sollte jedoch aufgrund der klinischen Vorgeschichte oder bei auffälliger Häufung von
thromboembolischen Ereignissen in der direkten Verwandtschaft der Verdacht auf eine
schwerwiegende Thrombophilie wie z. B. eine homozygote Faktor-V-Leiden-Mutation oder
ein Antiphospholipidsyndrom bestehen, ist eine weiterführende Diagnostik durchaus
sinnvoll. Denn aus den Untersuchungsergebnissen könnten sich Konsequenzen
hinsichtlich der Einschätzung des Rezidivrisikos und damit hinsichtlich der
Empfehlung einer prolongierten Antikoagulation ergeben [8 ].
Wird die Entscheidung zur Thrombophiliediagnostik getroffen, ist diese entweder vor
Beginn oder nach Beendigung der Therapie durchzuführen – ohne den Einfluss von
Antikoagulantien.
In der akuten Phase ist außerdem zu bedenken, dass die Gerinnungsinhibitoren wie z.
B. Protein S vermindert sein können, sodass pathologische Ergebnisse zu diesem
Zeitpunkt möglich sind. Sollte eine Thrombophiliediagnostik am geplanten Ende der
Therapie stattfinden, ist zu berücksichtigen, dass die Antikoagulation zu diesem
Zeitpunkt ausreichend lange pausiert wird, um eine Beeinflussung der funktionellen
Labordiagnostik zu vermeiden. Patienten, die mit einem direkten oralen Antikoagulanz
(DOAK) therapiert wurden, sollten bei normaler Nierenfunktion die Einnahme des
Medikaments über zwei Tage vor der Diagnostik pausieren. Eine alternative
Antikoagulation mit niedermolekularem Heparin ist in den meisten Fällen nicht
erforderlich. Patienten, die mit einem Vitamin K-Antagonisten therapiert werden,
sollten, sofern eine komplette Thrombophiliediagnostik mit Bestimmung von Protein C
und Protein S für die Entscheidungsfindung unbedingt erforderlich ist, das
Medikament 10 bis 14 Tage vorher absetzen. Wenn das VTE-Rezidivrisiko als sehr hoch
eingestuft wird, kann bei einem INR-Abfall auf < 1,5 bis 2,0 ggf. eine
überbrückende prophylaktische oder halbtherapeutische Antikoagulation mit einem
niedermolekularen Heparin notwendig sein.
Zum „kleinsten gemeinsamen Nenner“ einer standardmäßigen Thrombophiliediagnostik
gehören die folgenden Parameter:
APC-Resistenz, Faktor-V-Leiden-Mutation, Prothrombin-Mutation G20210A, Protein C,
Protein S, Antithrombin, Lupusantikoagulans, Antikörper gegen Cardiolipin und
Beta2-Glycoprotein-I, Faktor VIII und D-Dimere.
Die Relevanz der Polymorphismen in den Genen für MTHFR, PAI-1 und PAI-2 ist nicht
abschließend geklärt, sodass eine Testung bei positivem Ergebnis nur zur
Verunsicherung von Ärzten und Patienten beiträgt. Zudem ergibt sich bei gesunden
Personen ohne auffällige Familienanamnese in der Regel keine Indikation zur
umfassenden Thrombophiliediagnostik, da die Testresultate trotz ausführlicher
Beratung Ängste auslösen können und nur in den seltensten Fällen Konsequenzen mit
sich bringen.
Die Leitlinien halten sich an den hippokratischen Grundsatz „primum non nocere“:
Keine ausführliche Thrombophiliediagnostik ohne therapeutische Konsequenz.
Unter anderem sind hiermit ältere Patienten gemeint, denn ein sprunghafter
Anstieg der VTE-Prävalenz um die 6. Lebensdekade ist bekannt [9 ]. Man geht davon aus, dass sich eine
schwerwiegende angeborene Thrombophilie bis zum 50. Lebensjahr klinisch
manifestiert hat, weshalb eine Testung im Alter in der Regel nicht sinnvoll ist;
hier sollte bei unklaren oder rezidivierenden Thrombosen eher an ein
Antiphospholipidsyndrom oder Malignom gedacht und eine Aktualisierung der
alters- und geschlechtsspezifischen Untersuchungen Krebsvorsorge/-früherkennung
empfohlen werden [1 ].
Zudem hat eine Thrombophiliediagnostik bei eindeutig provozierten Thrombosen
keinen relevanten Einfluss auf die Rezidivrate und führt bei positivem Ergebnis
häufig zu Angst und Unsicherheit beim Patienten. Daher empfiehlt es sich, auch
in diesen Fällen bei fehlenden weiteren Indikatoren auf eine umfassende
Labordiagnostik zu verzichten [10 ].
Anders sind die Empfehlungen bei jungen Patienten mit einer spontanen VTE; hier
sollte an die Möglichkeit einer Thrombophilie gedacht werden. Anamnestisch
können rezidivierende Aborte und eine positive Familienanamnese zusätzliche
Hinweise auf das Vorliegen einer Thrombophilie liefern. Sollte eine
Thrombophiliediagnostik sinnvoll sein, empfiehlt es sich, die Patienten an
spezialisierte Zentren oder Spezialisten zu überweisen und die
antikoagulatorische Therapie entsprechend rechtzeitig zu pausieren.