Gesundheitswesen 2019; 81(04): 297-298
DOI: 10.1055/a-0874-4169
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Bewegte Zeiten

Manfred Wildner
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Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Manfred Wildner
Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit
Veterinärstraße 2
85764 Oberschleißheim

Publication History

Publication Date:
24 April 2019 (online)

 

Kennen Sie Minkowski? „Der Minkowski-Raum ist ein vierdimensionaler reeller Vektorraum, auf dem das Skalarprodukt nicht durch den üblichen Ausdruck, sondern durch eine nichtausgeartete Bilinearform vom Index 1 gegeben ist…“ usw. [1]. Um es kurz – und damit zumindest im Ansatz verständlich – zu machen: Hermann Minkowski konnte 1907 Albert Einstein mit dem Vorschlag eines vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuums den mathematischen Bezugsrahmen für seine Relativitätstheorie geben. Und so plagen wir kosmologischen Laien uns seither mit der daraus abgeleiteten Anmutung der Physiker – die im Grunde ja angewandte Naturphilosophie betreiben – dass Zeit womöglich nur der Nebeneffekt eines sich stetig ausweitenden Raumes sei, obendrein beeinflusst von dem Absolutum der Geschwindigkeit des Lichtes. Ohne diese Bewegung bestünde womöglich universelle Gleichzeitigkeit bzw. Zeitlosigkeit, eine echte naturphilosophische Alternative zur immer noch zeitgebundenen Ewigkeit: wir leben sehr handfest in „bewegten Zeiten“.


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Manfred Wildner

Bei einer Übernahme des assoziationsreichen Begriffs der Relativität der Zeit als Analogie für subjektives alltägliches Erleben lassen sich in unserem persönlichen, kleinen Raum-Zeit-Segment ebenfalls eindrückliche, inhaltsreiche Szenerien skizzieren: die flüchtigen Momente des Glücks der frühen Liebe, die Zeit ungeduldigen Wartens dann vor dem Kreißsaal, das Meer an Zeit, das einem als Kind zu Füßen liegt, das aus der Sicht der Eltern oft allzu schnelle Großwerden der Kinder, der Wimpernschlag zwischen Geburt und Tod, der am Ende unser ganzes Leben war. Der Weg von der Gesundheit zur Krankheit ist zudem oft nur ein Schritt und schnell gegangen, der Weg von der Krankheit zur Gesundung dagegen langwierig, wenn er sich denn überhaupt finden lässt.

Die mit ihrer steigenden Verbreitung und unserer eigenen gestiegenen Lebenserwartung alltäglich werdende Erfahrung von chronischen Erkrankungen hat uns mit der Zeitdimension von Monaten und Jahren bei der Betrachtung von Krankheitsentstehung, Krankheitsverläufen und Krankheitsbewältigung vertraut gemacht. Erkenntnisse aus den Bereichen von Genetik und Epigenetik weiten unsere zeitliche Perspektive auf Gesundheit und Krankheit noch einmal erheblich aus. Die Wechselwirkungen zwischen unseren Zellen und Organen und ihrer Umwelt, auf dem Weg von der einzelnen befruchteten Eizelle zu einem menschlichen Organismus mit etwa 30 Billionen Zellen und rund 300 verschiedenen Zellarten, sind schon vor der Geburt in utero nachweisbar. Gen-Umwelt-Interaktionen mit den physikalischen wie auch den sozialen Umwelten können sich insbesondere in den prägsamen ersten 1000 Tagen des Lebens z. B. als metabolische Programmierungen in epigenetischen Strukturen verfestigen – konkret in den drei Formen von DNA-Methylierungen, Histon-Modifizierungen oder RNA-vermittelten Änderungen der räumlichen DNA-Struktur [2]. Wohlgemerkt: diese ersten 1000 Tage des Lebens beginnen vorgeburtlich mit der Befruchtung der Eizelle und enden mit dem zweiten Lebensjahr. Die so in prägsamen Phasen erworbenen epigenetisch vermittelten Strukturen können ein Leben lang wirksam bleiben: Langfristig werden Krankheitsbilder wie z. B. Adipositas, Typ-II Diabetes und das metabolische Syndrom, Herz-Kreislauf- und Atemwegserkrankungen, Angststörungen, antisoziales Verhalten, Schizophrenie, Morbus Parkinson u.v.a.m. davon beeinflusst. Diese neuen Erkenntnisse bieten Erklärungen für die zumeist frustranen Versuche, neue Epidemien wie die Adipostias und ihre Folgekrankheiten in den Griff zu bekommen.

Nur eine lebenslange Einflussnahme? Untersuchungen weisen darauf hin, dass die Einflussnahme erworbener epigenetischer Veränderungen erblich ist und auch noch die Gesundheit von Kindern und Enkelkindern betreffen kann, mit teilweise paradoxen Effekten in unterschiedlichen Generationen. Nachgewiesen wurden z. B. die Effekte von Hungersnöten und Zeiten des Überflusses in Schweden und den Niederlanden als gleichsam väterliches Erbe mit Auswirkungen auf die Krankheitsrisiken von Kindern und Enkelkindern [2] [3] [4]. Womit unsere Gesundheitschancen auch vom Gesundheits- und Konsumverhalten unserer Eltern und Großeltern sowie auch von deren sozialen und physikalischen Umwelten mit beeinflusst scheinen. Generationen-übergreifende Effekte finden sich auch im psychischen und sozialen Bereich bei den Nachkommen von Kriegsteilnehmern: so wurden bei den erwachsenen Kindern australischer Vietnam-Veteranen auffällige Häufungen an Angststörungen, Substanzmissbrauch, Depressionen und Suizidgedanken gefunden, die teilweise das Doppelte und das Dreifache der Prävalenzen in der Allgemeinbevölkerung betrugen [5] [6]. Äußerer Frieden scheint nur ein erster Schritt einer Generationen-übergreifenden Aufgabe der Heilung von Traumatisierungen auf dem Weg zum auch inneren Frieden der Kinder und Enkel zu sein.

Und beeinflussen uns nicht auch Ängste wie Hoffnungen, paradoxerweise in einer zeitlich umgekehrten Kausalität quasi aus einer vorweggenommenen Zukunft heraus, in ähnlichem Maß wie unsere Erlebnisse aus der Vergangenheit? Das Thomas-Theorem aus der Soziologie formuliert bspw. die Erkenntnis, dass Situationen, welche von Menschen als real definiert werden, möglicherweise selbst irreal sind – ihre Konsequenzen in Form von Hoffnungen oder Befürchtungen jedoch objektivierbar real sind und sich entsprechend real auswirken [7].

Auch auf der überindividuellen Ebene, z. B. bei den sozialen und politischen Steuerungsprozessen im System Gesundheitswesen, sind Raum-Zeit-Effekte eigener Art zu beachten. Beispiele sind die zeitlich-inhaltlichen Verdichtungen von Entscheidungsprozessen bei Krisen bzw. empfundenen Krisen, das notwendige Gespür für den „rechten Augenblick“, die teilweise Instrumentalisierung von Zeit im Zusammenhang mit Zeitfenstern wie demokratischen Wahlen. „Die Wahrnehmung ist oft, das die demokratische Politik immer weniger in der Lage ist, ihre Rhythmen an eine beschleunigte technologische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung anzupassen“ mit der Gefahr einer „Aushöhlung von demokratischen Partizipationsverfahren“, so der Politikwissenschaftler Klaus H. Goetz (zitiert in [8]). „Ein parlamentarisches Gesetz sollte üblicherweise nicht in fünf Tagen im Bundestag verabschiedet werden, sondern eher in einem halben bis einem Jahr“, fährt er fort, „und es sollte dem ein Prozess vorausgehen, in dem die Regierung ihre Absichten präsentiert, [und] mit den Betroffenen über ihre Interessen diskutiert“ (ebd., S. 34). Es sind solche „bewegten Zeiten“, Zeiträume bzw. Zeitpunkte mit hoher Ereignis- und Erwartungsdichte, in denen der Ruf nach „mehr Zeit“ laut wird. Mehr Zeit, um Informationen als Entscheidungsgrundlage zu gewinnen, mehr Zeit, um Konsensfindungsprozesse auf den Weg zu bringen, mehr Zeit, um eine prozedural ordnungsgemäße Legitimation für Entscheidungen zu erhalten: durch Information der Beteiligten bzw. Betroffenen, durch Kommentierungen und eine dadurch mögliche Weiterentwicklung und Verbesserung der Beschlussvorlagen. Gute Wissenschaft und Forschung kann helfen, Zeit zu gewinnen. Solche vorausschauende Wissensgewinnung ist jeden Cent wert, wenn dadurch bessere Entscheidungen möglich werden, die dann oft in engen Zeitfenstern getroffen werden müssen.

In diesem Sinne will auch diese Ausgabe wieder dazu beitragen, Zeit für informierte Entscheidungen zu gewinnen und damit auch vorausschauend Handlungsräume zu eröffnen: Durch Beiträge zur Vereinbarkeit von Familie und Arztberuf, einer kritischen Untersuchung der Arbeitszufriedenheit an einer Universitätskinderklinik, zu Ärztinnen und Ärzten an der Schnittstelle zum nicht-medizinischen Hilfs- und Unterstützungssektor für Menschen mit Demenz, zu den Ergebnissen einer Evaluation der hochschulischen Erstausbildung in den therapeutischen Berufen, zu dringenden Hausbesuchen in Altenheimen, zur Struktur- und Prozessqualität der psychosozialen Versorgung in ambulanten psychosozialen Krebsberatungsstellen in Deutschland, zur niedrigschwelligen Begleitung von psychisch belasteten Arbeitslosengeld II Empfängern, zum sozioökonomischen Gradienten bei der Inanspruchnahme zahnärztlicher Leistungen, zu einer Morbiditätskompression bei Schlaganfall, zur Teilnahmemotivation von Männern an bewegungsorientierten Präventionsangeboten sowie zur Erfassung und Bewertung der Kosten von Präventions- und Gesundheitsförderungsmaßnahmen.

Um zum Anfang zurückzukehren: Der zu Albert Einstein kongeniale Mathematiker Hermann Minkowski verstarb 1909, nur 2 Jahre nach seinen mathematischen Ausdeutungen der Relativität der Zeit, im 45. Lebensjahr sicherlich zur Unzeit an einem damals noch nicht behandelbaren Blinddarm-Durchbruch. Er versuchte noch auf dem Sterbebett, unvollendete wissenschaftliche Manuskripte fertigzustellen. Doch welcher Tod kommt nicht zur Unzeit – Gesundheit ist kein natürlicher Zustand, sondern (auch) das Ergebnis menschlicher Anstrengungen (Schipperges). Bedarf für einen Mutmacher in unseren komplexen Raum-Zeit-Interaktionen? Vom Dichter Horaz ist uns der Aufruf des „Sapere aude!“ überliefert: „Wage es, weise zu sein! Fang an! Wer die Stunde des rechten Lebens hinausschiebt, gleicht nur einem Bauern, der darauf wartet, dass der Fluss versiegt, bevor er ihn überquert.“ (Episteln I, 2, 40–43). Uns in den verschiedenen Entscheidungsverantwortungen Stehenden ist dieser Aufruf Mahnung und Trost zugleich. Mahnung zum umsichtigen „weisen“, bisweilen auch mutigen Handeln, wenn die Zeit gekommen ist und keinen Aufschub duldet. Trost können wir darin finden, dass der Fluss der Zeit auch Unvollkommenes in sich aufnehmen und in einem sich ständig weitenden Raum in eine sich immer weiter ändernde Zukunft tragen wird: oft mit Wellen der Veränderungen, deren Amplituden und Längen die Möglichkeiten und zeitlichen Grenzen eines einzelnen menschlichen Lebens weit übersteigen. Zeit ist immer auch Bewegung – was bleibt ist der Wandel.


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Prof. Dr. med. Manfred Wildner
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