Z Sex Forsch 2019; 32(02): 80-89
DOI: 10.1055/a-0897-0404
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Zum Problem der Häufigkeitsbestimmung von Intergeschlechtlichkeit und Varianten der Geschlechtsentwicklung: Eine Übersichtsarbeit

Assessing Incidences of Intersex and Diverse Sex Development (dsd): An Overview
Lena Hauck
Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
,
Hertha Richter-Appelt
Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
,
Katinka Schweizer
Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
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Publication History

Publication Date:
06 June 2019 (online)

Zusammenfassung

Einführung Körperliche Geschlechtsentwicklungen, die auf chromosomaler, gonadaler und/oder anatomischer Ebene untypisch verlaufen, werden als Intergeschlechtlichkeit, Varianten der Geschlechtsentwicklung, Intersex, Intersexualität, Variationen der körpergeschlechtlichen Merkmale und Störungen der Geschlechtsentwicklung bezeichnet. Sie sind alternative Oberbegriffe für eine Reihe verschiedener Besonderheiten der somatosexuellen Entwicklung, für die in der Literatur unterschiedliche Angaben über deren Häufigkeiten kursieren.

Forschungsziele Der Beitrag präsentiert eine Übersicht über aktuelle Angaben zur Häufigkeit und identifiziert Faktoren, welche die Festlegung einer Zahl zur Inzidenz bzw. Prävalenz von Varianten der Geschlechtsentwicklung erschweren.

Methoden Es wurde eine Literaturrecherche in den Datenbanken Medline, Web of Science und PsycINFO durchgeführt. Dabei wurden englisch- und deutschsprachige Studien von 2000 bis 2017 erfasst, die sich mit der Inzidenz von Varianten der körpergeschlechtlichen Entwicklung beschäftigen. Aus den Ergebnissen wurden relevante Treffer ausgewählt, anhand derer aktuelle Zahlen zur Häufigkeit, unterschiedliche Methoden der Häufigkeitserhebung sowie Probleme bei der Ermittlung der Zahlen herausgearbeitet wurden.

Ergebnisse Die analysierten Studien geben Zahlen zwischen 0.018 % und 2.1 % bzw. 3.8 % aller Geburten als Gesamthäufigkeit von Varianten der Geschlechtsentwicklung bzw. des urogenitalen Systems an. Diese hängen stark von der Definition und den eingeschlossenen Formen ab. Die Seltenheit einiger Formen und die kritikwürdigen Untersuchungsmethoden erschweren die Erhebung belastbarer Ergebnisse.

Schlussfolgerung In der Forschung zur Intergeschlechtlichkeit sollte eine transparente, respekvolle und präzise Sprache als Grundlage für einen konstruktiven Diskurs über geschlechtliche Vielfalt eingesetzt werden, auch um Kooperationsprojekte zu stärken. Die angenommene Dunkelziffer der nicht erfassten oder diagnostizierten Fälle sollte nicht unterschätzt werden.

Abstract

Introduction Persons with atypical sex development (on a chromosomal, gonadal and/or anatomical level) are generally referred to as intersex. Alongside the umbrella term intersex, terms such as diverse sex development (dsd), differences/divergences in sex development (dsd) or disorders of sex development (DSD) are used to describe different forms of sex characteristics and features of sex development. Figures of intersex/dsd frequency vary in the literature.

Objectives The article provides an overview of current frequency figures for the various conditions and identifies factors that complicate the accurate definition of incidence and prevalence of intersex/dsd.

Methods A literature review of the databases PubMed, Web of Science and PsycINFO was conducted. Studies on incidence of intersex/dsd that were published in the English or German language between 2000 and 2017 were selected and investigated in detail. Studies that provided current incidence figures were also included. The different methods used as well as as problems in collecting and evaluating incidence rates were discussed.

Results Overall, the analysed studies report an incidence of between 0.018 % and 2.1 % for intersex/dsd and 3.8 % , respectively, for variations in the urogenital system in the general population. These figures depend heavily on the object of investigation and conditions included. Moreover, the rarity of several conditions as well as methodological limitations, e. g. retrospective data from registries, hinder a correct and reliable estimation of frequency.

Conclusions Alongside efforts to conduct cooperative research projects, transparent, respectful and accurate language is of great importance and should be used to describe the different conditions. Out of the debate on terminology a constructive discourse on gender diversity may then evolve. The assumed number of unreported cases should not be underestimated.