Deutsche Heilpraktiker-Zeitschrift 2019; 14(08): 28-33
DOI: 10.1055/a-0922-4326
Praxis
Fallbericht
© Karl F. Haug Verlag in Georg Thieme Verlag KG

Nerv unter Druck

Kerstin Kaiser
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Publication Date:
19 December 2019 (online)

 

Summary

Lena T. leidet unter Lumboischialgien, Blasenentzündungen mit Nierenbeteiligung, Kopfschmerzen und Verdauungsstörungen, die ärztliche Diagnose lautet Piriformis-Syndrom. Blockaden im Bereich von Iliosakralgelenk, Symphyse, Sakrum, zervikothorakalem Übergang und HWS sowie eine eingeschränkte Blasen- und Nierenbeweglichkeit lassen auf eine Störung des ligamentären, faszialen und reflektorischen Zusammenspiels zwischen Beckenstrukturen, Wirbelsäule und Schädelbasis schließen. Nach Mobilisation von Blase, Niere, Beckenboden sowie Nervenund Muskeldehnungen verschwinden die Symptome innerhalb weniger Wochen.


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Viszerale osteopathische Techniken bei Lumboischialgie durch PIRIFORMIS-SYNDROM

DIE 42-JÄHRIGE Sekretärin Lena T. (Name von der Redaktion geändert) leidet seit rund vier Wochen beidseitig unter starken Lumboischialgien. Ihre Schmerzen beginnen in der Gesäßmitte und strahlen über die Oberschenkelrückseiten bis in die Waden aus. In den Beinen und Füßen spürt sie ein Kribbeln und Kältegefühl. Ihre Schmerzen im unteren Rücken beschreibt sie als Gefühl des Durchbrechens. Aufgrund der Beschwerden kann Lena T. ihre sitzende Tätigkeit kaum noch ausüben.

Die schulmedizinische Abklärung und ein MRT ergaben keinen pathologischen Befund. Lena T.s Abschlussdiagnose lautete: Piriformis-Syndrom, eine Kompression des N. ischiadicus durch den M. piriformis, der zu den tiefen Hüftmuskeln zählt. Als Therapie wurde ihr symptomatisch Ibuprofen verordnet, das aber keine Besserung erzielte.

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Abb. 1 Muskeln, die von direkten Ästen des Plexus sacralis innerviert werden. Beim Piriformis-Syndrom liegt eine Kompression des N. ischiadicus durch den M. piriformis vor. Quelle: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2011
Hintergrundwissen

Steckbrief Piriformis-Syndrom

Der M. piriformis („birnenförmiger Muskel“) hat seinen Ursprung an der Vorderseite des Sakrums und setzt am Trochanter major des Oberschenkels an. Unter ihm verläuft der N. ischiadicus auf seinem Weg zur unteren Extremität. Beim Piriformis-Syndrom handelt es sich um eine Engpasssituation durch Druck des M. piriformis auf den N. ischiadicus im Bereich des Foramen infrapiriforme (Durchtrittstelle für wichtige Leitungsbahnen des Beckens), unter anderem durch Traumen im Gesäßbereich oder Fehlbelastungen wie falsche Körperhaltung, heftige Bewegungen und einseitiges Sitzen.

Zu den typischen Symptomen zählen starke Schmerzen im Gesäß mit Ausstrahlung in die Rückseiten der Beine, die auch mit Parästhesien einhergehen können. Differenzialdiagnostisch sind Nervenwurzelreizungen und Bandscheibenvorfälle vorab auszuschließen.

Blasenentzündungen: Blockaden im Beckenbereich als Ursache?

In der weiteren Anamnese erfahre ich, dass die Beschwerden im letzten Jahr immer wieder auftraten, aber sich jeweils wieder besserten. Auf Nachfrage berichtet Lena T. über ihr schlechtes Immunsystem. Seit einigen Jahren plagten sie häufig Blasenentzündungen mit Nierenbeteiligung (siehe Kasten, S. 29). Sie sei zudem oft erkältet. Um die lästigen Blasenentzündungen loszuwerden, nehme sie häufig Antibiotika ein. Zusätzlich leide sie seit etwa zwei Jahren unter hartnäckigen Kopfschmerzen, die sie wie einen ständig drückenden Helm empfinde. Sie nehme fast tgl. 1- bis 2-mal Ibuprofen, um den Kopfschmerz auf einem erträglichen Level zu halten. Er verschlimmere sich im Lauf des Tages während der Büroarbeit und ziehe dann vom Nacken über den Hinterkopf bis hin zu den Augenbrauen. Ihre Verdauung wechsle zwischen Durchfall und Verstopfung. Nahrungsmittelunverträglichkeiten sind keine bekannt. Lena T. ist 1,75 m groß, wiegt 65 kg, raucht zwischen 10 und 15 Zigaretten am Tag, treibt keinen Sport und hat keine Kinder.

Wie die körperliche Untersuchung zeigt, ist über dem Sakrum die Gewebezone für die Organe des Urogenitaltrakts (L5–S3) geschwollen und die Haut dort aufgetrieben. Dies deutet, ebenso wie die Anamnese, auf eine Beckenbeteiligung hin. So ergibt die nähere Untersuchung des Beckens rechtsseitig eine Blockade des Iliosakralgelenks und einen Symphysenhochstand. Lokale fasziale Tests weisen außerdem auf eine starke Spannung über der Symphyse und ein fixiertes Sakrum hin. Ich finde außerdem Blockaden am zervikothorakalen Übergang (CTÜ) und in den HWS-Segmenten C1 und C2. Aufgrund der Blasenproblematik (Fixation rechts) sind also offenbar Blockaden im Beckenbereich entstanden (rechts), die möglicherweise einen Reizzustand des Piriformis verursachen: Blockaden im Bereich von CTÜ und C1/2 lassen sich über die Zentralsehne erklären sowie über das Zusammenspiel der kraniosakralen Diaphragmen (Beckenboden, Zwerchfell, Diaphragma zervikothorakale und Schädelbasis).

Kurz Gefasst
  1. Lena T. leidet unter Lumboischialgien, Blasenentzündungen mit Nierenbeteiligung, Kopfschmerzen und Verdauungsstörungen, die ärztliche Diagnose lautet Piriformis-Syndrom.

  2. Blockaden im Bereich von Iliosakralgelenk, Symphyse, Sakrum, zervikothorakalem Übergang und HWS sowie eine eingeschränkte Blasen- und Nierenbeweglichkeit lassen auf eine Störung des ligamentären, faszialen und reflektorischen Zusammenspiels zwischen Beckenstrukturen, Wirbelsäule und Schädelbasis schließen.

  3. Nach Mobilisation von Blase, Niere, Beckenboden sowie Nervenund Muskeldehnungen verschwinden die Symptome innerhalb weniger Wochen.

Hintergrundwissen

Piriformis-Syndrom und Urogenitaltrakt

Die von der Patientin erwähnten Blasenentzündungen mit Nierenbeteiligung finden sich bei einem Piriformis-Syndrom häufig in der Anamnese. Denn nicht selten liegen im Bereich des Urogenitaltraktes Auslöser für eine Irritation des M. piriformis und eine damit verbundene Lumboischialgie: Rezidivierende Infektionen lassen die Harnblase häufig mit ihrer Umgebung verkleben und spastisch werden. Dies führt zu einer eingeschränkten Beweglichkeit des Organs, aber auch der umgebenden Strukturen. Die direkte Verbindung der Blase zur Symphyse über dieses Band verändert die Beweglichkeit des Beckenrings: Die Symphyse ermöglicht die Bewegung der beiden Beckenschaufeln in Zusammenarbeit mit dem Iliosakralgelenk gegeneinander, zum Beispiel beim Gehen. Fixiert das Ligamentum pubovesikale die Symphyse durch Adhäsionen, ist diese Bewegung eingeschränkt und überträgt Spannungen auf die untere Extremität. Dies wirkt sich auch über den Piriformis durch die Einschränkung am Iliosakralgelenk auf den M. obturatorius internus aus. Seine Muskelfaszie liegt direkt der Blase an. Verklebungen zwischen M. obturatorius internus und Blase übertragen sich wiederum über den Ansatz des Muskels am Trochanter major des Oberschenkels auf die untere Extremität: Die Blase „klemmt“ nicht alleine an der Symphyse. Sie ist zusammen mit Uterus und Rektum in einer Art Hängematte aus Bindegewebe über dem muskulären Beckenboden – der Lamina von Delbet – zwischen Symphyse und Kreuzbein aufgespannt. Wenn es an der Symphyse Fixierungen gibt, ist das Kreuzbein beziehungsweise Iliosakralgelenk auch betroffen – und somit mehr oder weniger alle Muskeln, die von Becken und Kreuzbein zum Bein verlaufen.


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Mobilitätstest und Behandlung der Harnblase über das Ligamentum pubovesicale

Zur weiteren Diagnostik untersuche ich die Beweglichkeit der Blase über das Ligamentum pubovesicale: Die Patientin befindet sich dazu mit angestellten Beinen in Rückenlage. Ich stehe seitlich auf Kopfhöhe mit Blickrichtung zu ihren Füßen. Meine Fingerkuppen lege ich beidseitig oberhalb der Symphyse auf. Die Finger gleiten in das Gewebe hinter der Symphyse und nehmen mit dem Ligamentum pubovesicale Kontakt auf. Nach Registrieren der lokalen Spannung versuche ich, das Gewebe in alle Richtungen zu verschieben. Die Region sollte hier weich und elastisch sowie in alle Richtungen verschieblich sein. In Lena T.s Fall ist die Beweglichkeit nach links eingeschränkt. Somit kommt es rechts zu einer schmerzhaften zirkulatorischen Stauungsproblematik, links zu einer chronischen Überdehnung beziehungsweise Überlastung.

Der Test kann direkt in die Behandlung übergehen (siehe Abb. 2). Ich palpiere dementsprechend mit meiner kranialen Hand mit Zeige- und Mittelfinger das Ligamentum pubovesicale bilateral et-was über und lateral der Symphyse. Meine kaudale Hand führt die Beine in ipsioder kontralaterale Rotation (Knie in Richtung Bank absenken). Meine kraniale Hand hält oder verstärkt dabei den erzeugten Zug. Die damit erzeugte Dehnung des Ligamentum pubovesicale löst die Fixierung und verbessert die Zirkulation.

Kontraindikationen dieser Behandlung sind Schwangerschaft, Katheter, Spirale, Hämaturie und Zystitis.

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Abb. 2 Test Mobilisation des Ligamentum pubovesicale n. Barral. Quelle: Hebgen E. Viszeralosteopathie. 6., unveränderte Auflage. Stuttgart: Thieme; 2018

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Abb. 3 Test und Mobilisation der Niere in Rückenlage. Quelle: Hebgen E. Viszeralosteopathie. 6., unveränderte Auflage. Stuttgart: Thieme; 2018

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Nieren: Verklebungen im Gleitlager setzen Psoas unter Druck

Die Nieren verlieren durch häufige entzündliche Prozesse ihre atemabhängige Gleitfähigkeit auf dem M. psoas major (Psoas). Der Muskel reagiert auf den daraus folgenden erhöhten Druck des Nierengleitlagers mit Anspannung. In seinem Ursprungsbereich umhüllt den Muskel eine Faszie, die Teil der großen Rückenfaszie (Fascia thorakolumbalis) ist. Fasziale Fixierungen übertragen wiederum erhöhte Muskelspannungen auf weitere Strukturen – hier: die autochthone Rückenmuskulatur – mit Rückenschmerzen als Folge. Ich halte eine Beteiligung der Nieren daher für wahrscheinlich und teste deren Gleitfähigkeit auf dem M. psoas major.


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Mobilitätstest und Behandlung der Nieren auf dem M. psoas major

Für den Test (siehe Abb. 3) befindet sich die Patientin mit angestellten Beinen in Rückenlage, ich stehe seitlich auf Kopfhöhe mit Blickrichtung zu den Füßen der Patientin. Auf Höhe der Fossa iliaca (Knochenmulde auf der Innenseite der Darmbeinschaufel) senke ich die Fingerspitzen der übereinandergelegten Hände langsam ins Abdomen. Um die richtige Position auf dem M. psoas major zu prüfen, lasse ich Lena T. das Bein auf der betroffenen Seite kurz anheben. Eine spürbare Muskelkontraktion identifiziert den M. psoas major. Ich wandere mit den Fingern weiter nach kranial bis zum unteren Nierenpol. Die Handposition halte ich und bitte sie, tief ein- und auszuatmen. Während der Einatmung sollte sich die Niere nach kaudal, bei der Ausatmung nach kranial bewegen. Beide Nieren bewegen sich hinsichtlich der physiologischen Gleitfähigkeit deutlich eingeschränkt nach kranial. Somit ergibt der Test eine eingeschränkte Nierenmobilität.

Ich setze daher direkt im Anschluss den M. psoas major ein, um die Nieren in ihrem Gleitlager zu lösen. Dafür fixiere ich nacheinander auf beiden Seiten mit einer Hand den unteren Nierenpol nach kranial-medial. Das angestellte Bein auf der betroffenen Seite wird nun in der Ausatmung langsam ausgestreckt. Dies führt zu einer Dehnung des M. psoas major und in der Folge zu einer Mobilisation der Niere.

Kontraindikationen (für Test und Mobilisation): akute Entzündungen, Hämaturie, Neoplasien, Zystennieren.

Merke: Die Palpation der Niere wird oft als unangenehm empfunden, sollte aber auf keinen Fall schmerzhaft sein.


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Nerven, Bänder, Faszien: Wirkungsketten hinter dem Geschehen

Mehrere anatomische und physiologische Netzwerke und Wirkungsketten stellen einen Bezug zwischen den geschilderten Symptomen her und geben wichtige Hinweise auf mögliche Ursachen.

Ligamentäre und fasziale Verbindungen zwischen Becken, Rücken und Schädelbasis

Im weiblichen Becken sind Harnblase, Uterus und Rektum durch die bindegewebige Lamina von Delbet ligamentär von anterior nach posterior miteinander verbunden. Diese Verbindung fasst die drei Organe zu einer funktionellen Einheit zusammen. Sie beginnt am Os pubis und endet am Sakrum. Spannungen innerhalb dieser Struktur können Symphyse, Sakrum, Iliosakralgelenke und Beckenbodenmuskulatur beeinflussen. Die Lamina von Delbet ist der Endpunkt der Zentralsehne. Dieser fasziale Strang von der Schädelbasis bis zum Beckenboden arbeitet als eine Einheit und kann entsprechend Spannungen übertragen. Als Auslöser für den Spannungskopfschmerz der Patientin kommt daher dieser Zusammenhang infrage.


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Irritierter Plexus sacralis: Neurologisches Dauerfeuer durch segmentale Reflexe

Eine Irritation der Blase kann außerdem über segmentale Reflexe über das Rückenmark eine sensible Information in eine motorische Efferenz an den M. piriformis umwandeln. Dies geschieht über direkte Äste des Plexus sacralis aus den Segmenten L5–S2. Der Muskel kontrahiert sich somit und engt den darunter verlaufenden N. ischiadicus ein. Über dessen neurologische Verbindung mit den anderen Nerven des Plexus sacralis treten auch Irritationen anderer peripherer Nerven aus diesem Geflecht auf, die für die sensible Versorgung der Oberschenkelrückseite zuständig sind. So lassen sich die Missempfindungen in den Beinen erklären.

Ein sympathisch innervierter Hypertonus der segmental mit der Harnblase verbundenen Muskulatur kann ebenfalls Rückenschmerzen auslösen oder verstärken: Die sympathische Innervation der Blase erfolgt über die Segmente Th10– L2. Aus einigen davon entspringt der Plexus lumbalis sowie die Innervation des Psoas.


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Durale Spannung durch Hypertonus des Beckenbodens

Auch der muskuläre Beckenboden reagiert über den irritierten Plexus sacralis mit reflektorischem Hypertonus. Seine Ursprünge liegen als M. levator ani an Symphyse, Os pubis und der Faszie des M. obturatorius internus. Sie enden gemeinsam am Steißbein. Dieses reagiert auf die veränderten Beckenbodenspannungen. Die Dura mater ist dort wiederum mit ihrem Endpunkt am Periost befestigt. Weitere Befestigungen im Wirbelkanal sind die Segmente S2, C2, C3 und das Foramen magnum. Diese Kontaktlinie erklärt eine Spannungsübertragung auf den Piriformis (S2). Kopfschmerz ist ein typisches Zeichen für kopfnahe durale Spannungen.

Die veränderte parasympathische Innervation der Nieren über den N. vagus irritiert die obere HWS. Häufig kommt es in diesem Zusammenhang zu Dysfunktionen des OAA-Komplexes mit Hartspann der subokzipitalen Muskulatur (C1) und Irritation des N. occipitalis major (C2). Dieser vermittelt in vielen Fällen Spannungskopfschmerzen. Seine topografische Nähe zur Nackenmuskulatur begünstigt auch Nackenverspannungen. Sie lassen den Kopfschmerz im Lauf des Tages schlimmer werden.


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Sitzen am Bildschirm: Gift für Becken- und Gesäßmuskulatur

Langes Sitzen mit Bildschirmarbeit wie in Lena T.s Fall verstärkt zusätzlich Rücken- und Nackenbeschwerden. Die ischiocrurale Muskulatur und der Psoas verkürzen und beengen auf Dauer den Ischiasnerv und Plexus lumbalis. Das ständige Sitzen komprimiert außerdem das Gesäß mit den darunter liegenden Strukturen. Die entsprechende Verminderung von Durchblutung und Gewebestoffwechsel sorgt für zusätzliche Verklebungen des Bindegewebes.

Auch die Dauermedikation mit Ibuprofen könnte zur Klinik beitragen: Das Medikament hemmt die Prostaglandinsynthese direkt an der Niere. Dieses Gewebshormon regelt unter anderem die Durchblutung sowie die Perfusionsrate in der Niere. Dies kann zu einer Überlastung des Organs durch eine erhöhte Durchblutung und vermehrte Reninproduktion führen. Sekundär sind Hypertonie und Kopfschmerzen möglich. Unter der Einnahme bemerkt die Patientin die Erstsymptome der Blasenentzündung zudem möglicherweise erst im späteren Stadium und leitet daher zu spät geeignete Maßnahmen ein. Die folgenden Antibiosen zerstören die Darmflora und beeinträchtigen das Immunsystem. In der Folge stellen sich eine schlechte Immunlage und eine unregelmäßige Verdauung ein. Somit lassen sich alle Symptome und Umstände miteinander in Beziehung setzen.


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Release des Beckenbodens über die Lamina von Delbet in Bauchlage

Um die Beckenorgane zu entlasten, entspanne ich die Lamina von Delbet (siehe Abb. 4). Die Patientin befindet sich dazu in Bauchlage. Ich stehe auf Beckenhöhe daneben. Meine kraniale Hand bildet eine lockere Faust, die ich unter den Bauch der Patientin knapp oberhalb der Symphyse auflege. Die kaudale Hand lege ich auf das Sakrum. Die Finger zeigen zum Kopf der Patientin.

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Abb. 4 Mobilisation der Lamina von Delbet. Quelle: Langer W, Hebgen E, Hrsg. Lehrbuch Osteopathie. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart: Thieme; 2017

Über die kaudale Hand baue ich leichten Druck am Bauch der Patientin nach ventral auf. Sollte dieser nicht gut spürbar sein, weist das auf eine Spannung innerhalb der Struktur hin. In dem Fall wird der Druck zwischen den Händen so lange gehalten, bis eine Entspannung eintritt.

Diese Haltetechnik erreicht eine Mobilisierung der Unterbauchorgane und einen Spannungsausgleich der Bänder. Alternativ kann über eine rhythmische Pumpbewegung der Hand auf dem Sakrum die Zirkulation reguliert werden.


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Öffnen des Foramen infrapiriforme und Dehnung des M. piriformis

Für das Öffnen des Foramen infrapiriforme (siehe Abb. 5) liegt die Patientin auf dem Bauch. Ich stehe auf Beckenhöhe daneben. Das Bein der zu behandelnden Seite ist im Knie gebeugt. Ich umgreife den Unterschenkel etwas oberhalb der Knöchel.

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Abb. 5 Öffnen des Foramen infrapiriforme und Dehnung des M. piriformis. Quelle: Dierlmeier D. Nervensystem in der Osteopathie. Stuttgart: Thieme; 2015

Zur Öffnung des Foramen infrapiriforme liegt das Foramen mittig auf einer Linie zwischen Spina iliaca posterior superior und Tuber ischiadicum. Ich lege den Daumen in das Foramen und mobilisiere gleichzeitig die Hüfte in Innenrotation. So mobilisiere ich auch die weiteren Strukturen, die das Foramen begrenzen, entlang meines Daumens.

Zur Dehnung des M. piriformis liegt meine kraniale Hand flächig auf dem Sakrum und fixiert es nach kaudal. Die kaudale Hand umgreift den Unterschenkel etwas oberhalb der Knöchel und bringt das Hüftgelenk bis zur Bewegungsgrenze in Außenrotation. Ich halte die Position für mindestens 30 sec. Die Technik ist auch als Muskelenergietechnik nutzbar. Dazu spannt die Patientin mit ca. 20 % Kraft das Bein in Adduktion und Innenrotation gegen den Widerstand meiner Hand am Unterschenkel an.


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Ergänzende Dehnungs- und Releasetechniken

Ergänzend behandle ich noch ihre Beine mit faszialen Releasetechniken, um die vom N. ischiadicus versorgten Gebiete zu entspannen. Den Nerv selbst behandle ich mit Querdehnungen in seinem Verlauf: N. ischiadicus zwischen der ischiocruralen Muskulatur aufsuchen, nach fixierter Stelle suchen, beide Daumenkuppen dann auf den Nerv an diese Stelle setzen und auseinanderziehen.

Die Blockaden im Becken und an der Wirbelsäule löse ich chiropraktisch. Zur Linderung der Kopfschmerzen dehne ich unter anderem den M. trapezius und den M. occipitalis major. Da der „Helmschmerz“ vermutlich durch Spannungen der intrakraniellen Membranen ausgelöst wird, verwende ich Techniken aus der kraniosakralen Therapie zur Entspannung der Falx cerebri (senkrechte Dura-Membran, die beide Großhirnhemisphären voneinander trennt) und des Tentorium cerebelli (quer aufgespanntes Duraseptum zwischen mittlerer und hinterer Schädelgrube). Abschließend schaffe ich über die sogenannte Duraschaukel den faszialen Ausgleich zwischen Kopf und Sakrum: Kraniale Hand am Okziput, kaudale Hand auf dem Sakrum (Patientin in Rückenlage), kraniosakralen Rhythmus zwischen den beiden Strukturen wahrnehmen und auf „Release“ beziehungsweise Harmonisierung warten.

Als Hausaufgabe soll Lena T. mit einigen funktionellen Übungen ihre „Problemzonen“ behandeln. Dazu gehören mehrfaches tägliches Dehnen von Psoas, Piriformis und der ischiocruralen Muskulatur sowie eine Bewegungsroutine zur venösen Entlastung des kleinen Beckens und der Beine: Beine in Rückenlage anstellen, einatmen und dabei das Becken anheben und oben halten, ausatmen und mit angehobenem Becken Beine auseinander drücken, einatmen und Beine wiederzusammen führen, ausatmen und dabei Becken absenken – insgesamt 10 × wiederholen. Eine abendliche Kopfmassage unterstützt weiterhin die Mobilisation des N. occipitalis major.

Ich rate ihr zu einer täglichen Trinkmenge von 2–3 l Wasser oder ungesüßten Kräutertees, um die Nieren zu unterstützen. Lena T.s weitere Behandlung verläuft erfolgreich: Nach zwei weiteren Sitzungen erscheint sie zum vierten Termin nur noch pro forma – Ischialgie und Kopfschmerzen sind seit der dritten Behandlung verschwunden. Nach einer folgenden Darmsanierung mit Probiotika traten schließlich auch keine weiteren Blasenentzündungen und Verdauungsstörungen mehr auf.

Dieser Artikel ist online zu finden:
http://dx.doi.org/10.1055/a-0922-4326


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HP Kerstin Kaiser DO.CN®

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Kerstin Kaiser ist seit 2012 Heilpraktikerin mit den Schwerpunkten Osteopathie, Chiropraktik und Darmsanierung. Vor der Eröffnung ihrer eigenen Praxis 2018 war sie als freie Mitarbeiterin in einer Gemeinschaftspraxis tätig. 2018 beendete sie das ACON Colleg mit dem Abschluss DO.CN®.

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Abb. 1 Muskeln, die von direkten Ästen des Plexus sacralis innerviert werden. Beim Piriformis-Syndrom liegt eine Kompression des N. ischiadicus durch den M. piriformis vor. Quelle: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2011
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Abb. 2 Test Mobilisation des Ligamentum pubovesicale n. Barral. Quelle: Hebgen E. Viszeralosteopathie. 6., unveränderte Auflage. Stuttgart: Thieme; 2018
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Abb. 3 Test und Mobilisation der Niere in Rückenlage. Quelle: Hebgen E. Viszeralosteopathie. 6., unveränderte Auflage. Stuttgart: Thieme; 2018
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Abb. 4 Mobilisation der Lamina von Delbet. Quelle: Langer W, Hebgen E, Hrsg. Lehrbuch Osteopathie. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart: Thieme; 2017
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Abb. 5 Öffnen des Foramen infrapiriforme und Dehnung des M. piriformis. Quelle: Dierlmeier D. Nervensystem in der Osteopathie. Stuttgart: Thieme; 2015