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DOI: 10.1055/a-0959-2034
ADHS und hochfunktionale Autismus-Spektrum-Störungen
Komorbidität oder Differenzialdiagnose? Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Diagnostik und BehandlungKorrespondenzadresse
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
04. September 2019 (online)
- ZUSAMMENFASSUNG
- Abstract
- Einleitung
- Diagnostische Besonderheiten und Komorbiditäten
- Differenzialdiagnostische Unterschiede
- Psychopharmakologische Behandlung der ADHS bei ASS
- Literatur
ZUSAMMENFASSUNG
ADHS und ASS sind früh beginnenden neuronale Entwicklungsstörungen, die häufig gemeinsam vorkommen. Sie haben anteilig eine gemeinsame genetische Grundlage, die sich sowohl in der Auftretenswahrscheinlichkeit beim selben Individuum als auch in den Familien der Betroffenen zeigt. Die Unterscheidung, um welche Störung es sich handelt oder ob diese als Komorbidität vorliegt, erfordert eine genaue diagnostische Längsschnittuntersuchung unter Einbeziehung von möglichst viel Fremdinformation. Die psychopharmakologische Behandlung der ADHS ist ähnlich wie beim alleinigen Vorliegen einer ADHS, allerdings sollten die eingesetzten Substanzen zunächst in deutlich niedrigerer Dosierung begonnen und nach Klinik gesteigert werden.
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Abstract
ADHD and ASD are neurodevelopmental disorders beginning early in life and frequently occurring together. Both disorders share part of a common genetic basis, which can be seen in the higher probability that they co-occur in the same individual or in their families. To differentiate the two disorders and to assess if these are single disorders or comorbidities, a detailed diagnostic assessment including a third-party anamnesis about the long-term development has to be conducted. The psychopharmacological treatment of ADHD is similiar to the one without a comorbid ASD, but the medication should be started in a lower dosage than usual and be changed slowly according to the clinical symptoms.
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Einleitung
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
Die ADHS oder hyperkinetische Störung gehört wie die Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) zu den neuronalen Entwicklungsstörungen, die sich im frühen Lebensalter der Betroffenen manifestieren und ist eine der häufigsten Störungen im Kindes- und Jugendalter. Beide Störungen sind jeweils als auf einem Spektrum liegend anzusehen und befinden sich auf einem Kontinuum zwischen leichtgradiger (teils ohne Krankheitswert) und schwergradiger Ausprägung.
Im Kindesalter wird bei der ADHS von einer Prävalenz von ca. 3–5 % ausgegangen, wobei Jungen wahrscheinlich 3- bis 4-mal häufiger als Mädchen betroffen sind [1], [2]. Die männliche Dominanz verringert sich allerdings deutlich, wenn epidemiologische anstatt klinische Stichproben betrachtet werden, sowie im weiteren Lebensverlauf (2:1) [3], [4]. Ca. 40–50 % der Betroffenen sind auch weiterhin im Erwachsenenalter betroffen, sodass von einer Prävalenz der adulten ADHS von ca. 2,5 % ausgegangen wird [5]. Die Betroffenen zeigen aufgrund der vorhandenen Symptomatik fortlaufende Beeinträchtigungen in verschiedenen Lebensbereichen in einer für das Alter, den Entwicklungsstand und die Intelligenz unangemessenen Ausprägung [6]. Die Heritabilität wird mit ungefähr 75 % angegeben [7]. Wenn ein Familienmitglied an ADHS erkrankt ist, so steigt das Risiko selbst eine ADHS zu haben bei erstgradig Verwandten auf das 5- bis 9-Fache [8] an. Eine familiäre Häufung zeigt sich zudem nicht nur in Form weiterer ADHS-Diagnosen in der Familie, sondern auch dadurch, dass häufig Familienmitglieder subklinische ADHS-Züge („broader ADHD phenotype“) aufweisen. Häufig erreichen Betroffene trotz eigentlich guter kognitiver Voraussetzungen nicht ihre beruflichen Ziele und scheitern aufgrund der mit ADHS einhergehenden Besonderheiten im beruflichen und privaten Bereich.
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Autismus-Spektrum-Störungen
In den letzten Jahren ist das Interesse an ASS deutlich gestiegen, sodass auch immer mehr Erwachsene sich zur Diagnostik vorstellen, bzw. diagnostiziert werden [9], [10]. Während schwer betroffene Kinder häufig früh auffällig sind und erkannt werden (bei ca. 30–50 % der Betroffenen liegt zusätzlich eine Intelligenzminderung vor, oft mit früh zu bemerkenden Verhaltensauffälligkeiten), wird gerade bei hochfunktionalen Menschen mit ASS mit einer durchschnittlichen oder überdurchschnittlichen Intelligenz häufig die autistische Basisstörung übersehen oder „hinter“ den augenscheinlichen Komorbiditäten nicht erkannt [11]. Während man früher annahm, dass es sich um ein seltenes Störungsbild handele (Prävalenzannahme 1975 bei 0,02 %), wird aktuell von einer Lebenszeitprävalenz für ASS von ca. 1 % ausgegangen [9]. Jungen scheinen hierbei deutlich häufiger (2–3:1) als Mädchen betroffen zu sein, wobei sich dieser Unterschied in den letzten Jahren, auch abhängig von der gewählten Stichprobe, reduzierte [12]. Während die Gründe für den Anstieg unterschiedlich sind (z. B. bessere und genauere Diagnostik, Alter der Eltern, veränderte Umwelteinflüsse) liegt eine Ursache für den Anstieg auch in der zunehmend besseren Erkennung von geringer ausgeprägten autistischen Störungen, wie dem Asperger-Syndrom oder hochfunktionalem Autismus gerade bei den spät zur Diagnostik kommenden erwachsenen Betroffenen [13], [14].
Ähnlich wie bei der ADHS ist die Erblichkeit sehr hoch und wird mit 74–93 % angegeben [15]. Die hohe Heritabilität zeigt sich auch bei den Geschwistern von Betroffenen. Autismus als Folge monogenetischer Erkrankungen (wie z. B. bei Fragile X bei ASS: 2 %) ist bei ca. 10–15 % der Betroffenen festzustellen, wobei insgesamt von einem multifaktoriellen Vererbungsmodell ausgegangen wird [16]. In den Familien der Betroffenen finden sich infolgedessen häufig andere Menschen mit ASS oder zumindest mit autistischen Zügen („broad autism phenotype“) [17]. Häufig zeigen sich gerade bei diesen hochfunktionalen Autisten die Einschränkungen, die sie in verschiedenen Lebensbereichen haben, nicht offensichtlich, dennoch können diese aufgrund der Basisstörung in verschiedenen Lebensbereichen Bereichen scheitern.
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Diagnostische Besonderheiten und Komorbiditäten
Während die Diagnostik und Behandlung von beiden Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter gut etabliert ist, stehen viele Erwachsene – besonders in der Transitionsphase am Übergang von der Adoleszenz ins Erwachsenenalter – vor der Herausforderung, geeignete Anlaufstellen für Diagnostik und Therapie zu finden [4], [18], [19].
ADHS
Im ICD-10 und DSM-5 [20] wird die Kernsymptomatik der ADHS mit der Symptomtrias Unaufmerksamkeit, Impulsivität und/oder motorischer Unruhe beschrieben, wobei es Unterschiede zwischen den Klassifikationssystemen gibt. Während die ICD-10 (F90.0) keine Subtypen unterscheidet, wird im DSM-5 diese Subklassifizierung in der Beschreibung als „Erscheinungsbilder“ vorgenommen. Zudem wurde stärker das Erwachsenenalter berücksichtigt und die Anzahl der für die Diagnose erforderlichen Symptome ab dem 17. Lebensjahr reduziert und die Altersgrenze für das Erstauftreten der Symptomatik vom 7. auf das 12. Lebensjahr erhöht. Außerdem können nun ASS als komorbide Störungen diagnostiziert werden und stellen kein Ausschlusskriterium mehr dar.
Die Symptomatik ändert sich im Laufe der Zeit häufig mit einer Abnahme von (äußerlich sichtbarer) motorischer Unruhe im Erwachsenenalter bei jedoch meist nur gering veränderter Konzentrationsstörung [21]. Die Diagnostik im Erwachsenenalter stellt den Untersucher oft vor Herausforderungen, da zum einen Symptome aus der Kindheit schwerlich erinnert werden, Erwachsene mit ADHS häufig eine schlechte Selbstwahrnehmung haben und zu wenig Symptome berichten und z. B. funktionelle Beeinträchtigungen nicht mit Symptomen in Verbindung gebracht werden oder eine Fremdanamnese durch die Eltern nicht möglich ist [22]–[27]. Entstandene Komorbiditäten, wie Suchterkrankungen, können den Blick auf die ADHS-Symptomatik verdecken, zudem haben viele (häufig sehr intelligente) Erwachsene gelernt, die Symptome zu kompensieren, sodass diese überdeckt werden [22], [23], [27], [28].
Das Vorliegen einer ADHS ist häufig mit Komorbiditäten verbunden, wobei mindestens eine zusätzliche Störung bei bis zu 85 % der Betroffenen und mehrere Komorbiditäten bei ca. 60 % vorkommen [29], [30]. Die jeweils auftretenden komorbiden Störungen sind alters- und entwicklungsabhängig und bedingen sich teilweise gegenseitig in ihrem sequenziellen Auftreten. Die häufigsten Komorbiditäten sind substanzbezogene Störungen, wie Missbrauch oder Abhängigkeit von Nikotin, Alkohol oder illegalen Drogen, affektive Störungen, Angsterkrankungen und Persönlichkeitsstörungen [19], [31]–[39].
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ASS
ASS können nach DSM-5 auch bei Vorliegen einer ADHS diagnostiziert werden, bleiben aber häufig übersehene Komorbiditäten. Sie gehören zur Gruppe der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen und sind durch qualitative und quantitative Beeinträchtigungen der Interaktion und Kommunikation sowie durch das Auftreten von eingeschränkten, stereotypen, repetitiven Interessen und Verhaltensweisen definiert. Wie bei der ADHS manifestieren sich diese in der frühen Kindheit, wobei bei hochfunktionalem Autismus, wie beim Asperger-Syndrom, die Symptomatik erst später, z. B. mit dem Eintritt in die Grundschule oder am Übergang auf die weiterführende Schule deutlich auffallen kann, wenn die sozialen Anforderungen die sozialen Kompetenzen überschreiten. Im ICD-10 und DSM-IV werden die einzelnen autistischen Störungsbilder untergliedert. Unterschieden wird das das Asperger-Syndrom vom frühkindlicher Autismus durch das Fehlen von kognitiven und sprachlichen Entwicklungsverzögerungen in der frühen Kindheit, während beim atypischen Autismus entweder nicht alle Kriterien in ausreichender Anzahl erfüllt sind oder der Nachweis der autistischen Symptomatik erst nach dem dritten Lebensjahr gelingt. Diese Unterteilung entfällt durch Überführung in eine Gesamtkategorie der ASS im DSM-5. Die Kriterien wurden dahingehend verändert, dass die Defizite in der Interaktion und Kommunikation zu einem Bereich neben dem Symptombereich der stereotypen und repetitiven Verhaltensweisen mit veränderter Zuteilung von Symptomen zusammengefasst wurden, die Einteilung nach Schweregraden hinzugenommen wurde, die Möglichkeit berücksichtigt wurde, dass gerade bei den leichteren Formen die Symptomatik sich erst später manifestieren kann und dass die Diagnose von Komorbiditäten, wie der ADHS, möglich ist.
Während Betroffene mit schwergradiger Ausprägung der primären autistischen Kernsymptomatik früh diagnostiziert werden, ist die Diagnostik im Erwachsenenalter oft herausfordernd. Die Betroffenen haben häufig einen langen Leidensweg hinter sich, währenddessen die verschiedensten Diagnosen festgestellt wurden, die autistische Basisstörung jedoch auch teilweise aufgrund der entstandenen Komorbiditäten häufig übersehen wurde („diagnostic overshadowing“). Viele autistische Menschen mit normaler bis überdurchschnittlicher Intelligenz haben sich im Laufe des Lebens Kompensationsmechanismen angeeignet, die die Kernsymptome weniger offensichtlich in Erscheinung treten lassen. Defizite können z. B. durch Anwendung von auswendig gelernten sozialen Regeln überlernt werden. Dennoch können viele Betroffene im sozialen und beruflichen Alltag scheitern, bzw. aufgrund des damit einhergehenden Aufwands, dann Komorbiditäten entwickeln und trotz guter kognitiver Leistungen erheblich in ihrer Lebensführung eingeschränkt sein [40]. Hinzu kommt, dass gerade Frauen im Laufe des Lebens aufgrund ihrer besseren sozialen Lernfähigkeiten und Kompetenzen sowie des Entsprechens von stereotypen Rollenvorstellungen („schüchternes, zurückhaltendes Mädchen“), weniger auffällig als Jungen und Männer in Erscheinung treten. Die geschlechtsspezifischen Besonderheiten, auch „Female-camouflage-Effekt“ genannt, sollten hierbei in der Diagnostik unbedingt berücksichtig werden und erklären möglicherweise die Männerdominanz in diesem Bereich [41]. Psychische Komorbiditäten im Erwachsenenalter mit hochfunktionalem Autismus sind hierbei häufig, v. a. ADHS, affektive Störungen, Zwangsstörungen, psychotische Störungen und Angststörungen, wobei sämtliche Komorbiditäten (z. B. Persönlichkeitsstörungen) auch als Differenzialdiagnose (Zwangsstörung oder Stereotypie? Psychotische Symptomatik oder ASS-bedingte Wahrnehmungsbesonderheiten/-erklärungen?) in Frage kommen können [42]–[45].
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Gemeinsames Auftreten beider Erkrankungen
Ätiologisch ist beiden Erkrankungen gemein, dass sie einen Teil genetischer Varianz teilen [46]–[51], was möglicherweise deren gehäuftes gemeinsames Vorkommen erklärt. Die meisten Studien beziehen sich auf klinische Populationen, in denen die jeweilige Diagnose schon gestellt wurde. Es ergab sich jedoch auch in einer nicht klinischen Population (n = 334) ein signifikanter Zusammenhang zwischen ADHS- und ASS-„traits“, aus denen die Autoren schlossen, dass beide Erkrankungen genetisch anteilig miteinander assoziiert sind [52]. Die Angaben zum gleichzeitigen Auftreten einer ASS und ADHS schwanken sehr stark, was möglicherweise auch an den symptomatischen Überschneidungen liegt.
Kommen beide Erkrankungen gleichzeitig vor, so ist dies häufig mit einer ausgeprägteren Krankheitsschwere, geringeren Lebensqualität und mehr funktionellen Einschränkungen verbunden [53]. Ferner zeigen Kinder mit beiden Störungen eine ausgeprägtere Angstsymptomatik, mehr Defizite im Arbeitsgedächtnis und weniger Empathiefähigkeiten [54].
Bei Kindern mit ASS wurden in 37–85 % komorbide ADHS-Symptome gefunden [53]. In einer neueren Studie, in der über 90000 Menschen mit ASS in unterschiedlichen Altersgruppen (Kindes- bis Erwachsenalter) untersucht wurden, fanden sich Komorbiditäten bei 41,5 % der Betroffenen, wobei ADHS in dieser Studie die häufigste Komorbidität darstellte [55]. Die komorbiden Häufigkeiten sollten jedoch aufgrund der unterschiedlichen diagnostischen Qualität und den symptomatischen Ähnlichkeiten zwischen beiden Erkrankungen vorsichtig interpretiert werden und liegen nach Ansicht der Autoren deutlich unter den angegebenen 40 %. Die umgekehrte Häufigkeit von autistischen Symptomen bei ADHS-Populationen wurde kaum untersucht, da in vielen ADHS-Studien eine komorbide autistische Störung und/oder Intelligenzminderung Ausschlusskriterium war. Es zeigten sich jedoch bei den ADHS-Betroffenen (Kindern) mehr autistische Züge/Symptome als in der nicht betroffenen Bevölkerung zu erwarten wären [56].
In einer anderen Studie wurden die Kinder von Müttern, bei denen eine ADHS vorlag, untersucht. Deren Kinder hatten nicht nur ein 6-fach erhöhtes Risiko für eine ADHS (OR = 5,02, p < 0,0001) sondern auch ein 2,5-fach erhöhtes Risiko für eine ASS (OR = 2,52, p < 0,01) [57]. Umgekehrt wurden bei den Eltern von autistischen Kindern deutlich erhöhte ADHS-Symptome gefunden. So fanden sich bei 10,4 % der Mütter und 11,3 % der Väter deutliche Hinweise auf das Vorliegen einer ADHS [58]. In unterschiedlichen Untersuchungen, die auch Zwillingsstudien umfassen, wurde festgestellt, dass beide Erkrankungen eine hohe Heritabilität und genetische Überschneidungen haben, die sich der dimensionalen Sichtweise entsprechend entweder subklinisch oder in vollem symptomatischen Ausmaß zeigen können [51], [59]–[61].
In kürzlich veröffentlichten groß angelegten Registerstudien aus Skandinavien konnte der Zusammenhang zwischen beiden Störungen eindrücklich gezeigt werden [62]–[64]. Beide kommen zusammen gehäuft in Familien entweder bei den Betroffenen als Komorbidität oder bei anderen Familienmitgliedern vor [62]–[64].
In einer schwedischen populationsbasierten Studie mit 28468 Menschen mit ASS zeigte sich, dass das Vorliegen einer ASS hierbei mit einer deutlich erhöhten Wahrscheinlichkeit (Odds Ratio (OR) = 22,33, 95 % Konfidence Interval (CI): 21,77–22,92) einherging, dass bei den Betroffenen zusätzlich eine ADHS vorlag, im Vergleich mit denjenigen, die keine ASS hatten. Die Assoziation, die gefunden wurde, war hierbei am stärksten bei denjenigen mit hochfunktionalem Autismus ausgeprägt [62]. Auch Angehörige von autistischen Familienmitgliedern hatten hierbei ein deutlich erhöhtes Risiko für das Vorliegen einer ADHS, wobei die gefundene Assoziation abhängig vom Verwandtschaftsgrad war. Diese war am stärksten bei monozygotischen Zwillingen (OR = 17,77, 95 % CI: 9,80–32,22) im Vergleich zu dizygoten Zwillingen (OR = 4,33, 95 % CI: 3,21–5,85) oder Geschwistern (OR = 4,59, 95 % CI: 4,39–4,80). Eine stärkere Assoziation von ADHS-Symptomen wurde in einer anderen Studie bei nicht betroffenen Geschwistern von Familienmitgliedern mit ASS gezeigt. Die nicht betroffenen Geschwister von Patienten mit diagnostiziertem Asperger-Syndrom (und nicht Autismus) zeigten stärkere hyperaktive und impulsive Auffälligkeiten („traits“) in neuropsychologischen Tests als diejenigen von autistischen Geschwistern [65].
In einer anderen kleineren finnischen Studie mit 3578 autistischen Kindern zeigte sich, dass ASS in 10,5 % der Geschwisterkinder auftrat, was einem deutlich erhöhten Risiko entsprach (adjusted RR, 11,8; 95 %CI, 9,4–14,7) [64]. Das Risiko für das Vorliegen einer ADHS war ebenfalls deutlich erhöht (adjusted RR, 3,7; 95 %CI, 2,9–4,7), eine ADHS fand sich bei 5,3 % der Geschwisterkinder.
Für Eltern ist die Frage nach der Wiederauftretenswahrscheinlichkeit bei später geborenen Kindern relevant. Das globale Wiederholungsrisiko für Eltern eines autistischen Kindes, ein erneut betroffenes Kind zu bekommen liegt bei ca. 10–20 %, bei 2 autistischen Kindern bei über 30 % [66], [67]. In einer Studie von Miller et al. [59] wurde gezeigt, das bei 12 % der nachgeborenen Geschwistern von autistischen älteren Geschwistern ebenfalls eine ASS vorlag, die Wahrscheinlichkeit war in dieser Studie im Vergleich mit nicht betroffenen älteren Geschwistern somit deutlich um den Faktor 30 erhöht (OR: 30,38 (95 %CI, 17,73–52,06). Die Wahrscheinlichkeit, eine ADHS diagnostiziert zu bekommen, war hierbei ebenfalls erhöht mit 3,8 % (OR, 3,70 (95 %CI, 1,67–8,21). In dieser Studie wurden auch diejenigen Geschwister mit einer diagnostizierten ADHS untersucht. Für nachgeborene Geschwister von ADHS-Betroffenen Kindern zeigte sich auch eine erhöhte Auftretenswahrscheinlichkeit für eine ADHS von 12,5 % (OR, 13,05 (95 %CI,9,86–17,27) und für ASS bei 1,92 % (OR, 4,35; 95 %CI, 2,43–7,79) im Vergleich mit denjenigen ohne eine diagnostizierte ADHS [59]. Die Studie zeigt insofern eindrücklich, dass nicht nur die Auftretenswahrscheinlichkeiten für die jeweilige Erkrankung erhöht sind, sondern das Risiko durch möglicherweise gemeinsame ätiologische familär-genetische Faktoren für die jeweils andere Erkrankung erhöht ist, was sich in anderen Studien, wenn auch nicht in allen [68], [69], zeigte [49], [57], [61], [62], [70].
Die Erkrankungshäufigkeit für andere frühe Entwicklungsstörungen und psychische Erkrankungen war in einer anderen Studie bei Geschwisterkindern von ADHS-Betroffenen Geschwistern um den Faktor 2 erhöht (RR = 2,1; 95 % CI 2,0–2,2), wobei sich die stärksten Assoziationen bei ADHS (RR = 5,7; 95 % CI 5,1–6,3) und ASS (RR = 3,9; 95 % CI 3,3–4,6) zeigten [63].
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Differenzialdiagnostische Unterschiede
ASS und ADHS zeigen viele Gemeinsamkeiten. Beide sind früh beginnende Entwicklungsstörungen, kommen häufiger bei Jungen als bei Mädchen vor, teilen gemeinsame genetische Grundlagen und sind beide sowohl bei den Betroffenen (als Komorbidität) und in den Familien der Betroffenen deutlich häufiger anzutreffen. Beide Störungen verbessern sich meist im Laufe des Lebens durch optimierte Kompensationsleistungen, sind jedoch meist auch im Erwachsenenalter mit signifikanten Einbußen in der Lebensqualität assoziiert und können zu erheblichen Schwierigkeiten in beruflichen, familiären und sozialen Bereichen führen. Symptomatisch finden sich ebenso Überschneidungen hinsichtlich Aufmerksamkeitsstörung, Reizüberflutung und Ablenkbarkeit, interaktionellen Schwierigkeiten mit Peers, Schwierigkeiten in der sozialen Kognition, Unruhe und impulsivem Verhalten, Defiziten in den Exekutivfunktionen und der Theory of Mind (TOM) [71]–[76].
Letztere kann wiederum in kognitive Empathie (also die Fähigkeit, aufgrund komplexer Informationsverarbeitungsprozesse spontan die Wahrnehmung, das Denken, Fühlen und Wollen anderen Menschen zu erschließen) und emotionale Empathie (kurz: Mitgefühl) unterteilt werden. Autistische Menschen haben hierbei vor allem Schwierigkeiten in der kognitiven Empathie. Dies kann dann aufgrund von fehlender oder falscher Dechiffrierung von z. B. Gesichtsausdrücken, zu konsekutiv ausbleibender fehlerhafter emotionaler Empathie führen, wobei diese Schwierigkeit deutlich schwächer bei den meisten Menschen mit ADHS ausgeprägt ist. Ein umgekehrtes Bild zeigt sich bei Menschen mit soziopathischer Störung, bei denen die kognitive Empathie gut ausgeprägt ist (gute Menschenkenntnis) die emotionale Empathie aber stark vermindert ausfällt (kaum Mitleid).
Neben Auffälligkeiten in den Exekutivfunktionen wurden ToM-Defizite bei beiden Erkrankungen in Zusammenhang mit dem gehäuften gemeinsamen Auftreten untersucht, da diese auch maßgeblich die sozialen Adapationsprozesse beeinflussen [72]–[74], [76], [77]. Auffälligkeiten in der sozialen Kognition, bzw. dem Erkennen von Emotionen und bei den ToM-Fähigkeiten sind bei ADHS häufig zu finden und wurden in verschiedenen Studien beschrieben [78], [79]. Während bei ASS Einschränkungen in der reziproken Kommunikation und Interaktion charakteristische Merkmale der Störung sind, die auf ein „Kerndefizit“ zurückgeführt werden, so wird dies bei ADHS häufig als Folge der Unaufmerksamkeit und der Ablenkbarkeit angesehen. Dennoch scheint es auch bei von ADHS Betroffenen Einschränkungen in affektiven Verarbeitungsprozessen und der ToM zu geben, wobei die Unterscheidung was ursächlich an den berichteten sozialen Einschränkungen beteiligt ist, klinisch teilweise herausfordernd ist [54], [72], [80]. Liegen beide Störungen gleichzeitig vor, so sind diese Fähigkeiten ausgeprägter eingeschränkt. So können Schwierigkeiten bei der Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit und der inhibitorischen Kontrolle bei Kindern mit ASS und ADHS die Fähigkeit, Gesichtsausdrücke zu erkennen zusätzlich deutlich negativ beeinflussen [78], [81]. Zudem scheint die affektive Prosodie deutlicher eingeschränkt zu sein [82]. Auf lange Sicht bessern sich normalerweise die Verhaltensschwierigkeiten von Kindern mit ASS, dies scheint bei zusätzlichem Vorliegen einer ADHS durch dann deutlicher eingeschränkte Kompensationsfähigkeiten in geringerem Ausmaß einzutreten [83].
Im Nachfolgenden sollen die Kriterien der ADHS beschrieben und anhand dieser die Unterschiede zwischen beiden Störungen dargestellt werden. Die Unterschiede spiegeln die klinische Erfahrung der Autoren wider und haben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Als differenzialdiagnostische Anhaltspunkte sind diese jedoch in unserer Erfahrung sehr hilfreich, um Abgrenzungen zwischen beiden Störungsbildern vornehmen zu können ([ Tab. 1 ]).
ADHS |
ASS |
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Unaufmerksamkeit |
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beachtet Aufgabendetails häufig nicht oder macht Flüchtigkeitsfehler bei den Hausaufgaben, der Arbeit oder anderen Tätigkeiten. |
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ist nicht in der Lage die Aufmerksamkeit beim Spielen oder anderen Aufgaben aufrechtzuerhalten. |
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hört scheinbar häufig nicht, was andere ihm sagen |
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erfüllt häufig Aufgaben und Pflichten nicht oder bringt diese nicht zu Ende (nicht aufgrund oppositionellen Verhaltens). |
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hat Schwierigkeiten Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren |
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vermeidet Aufgaben oder Tätigkeiten, die eine länger andauernde Beschäftigung erfordern (z. B. Mitarbeit bei Hausaufgaben oder im Unterricht) |
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verliert häufig Gegenstände, welche zur Erfüllung von Aufgaben oder Aktivitäten benötigt werden (z. B. Stifte, Spielsachen, Bücher). |
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lässt sich häufig von äußeren Reizen ablenken. |
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ist bei der Durchführung von Alltagstätigkeiten häufig vergesslich. |
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Hyperaktivität und Impulsivität |
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zappelt häufig mit den Händen oder Füßen und rutscht auf dem Stuhl herum. |
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verlässt den Platz im Klassenraum oder anderen Situationen, in denen Sitzenbleiben erwartet wird und läuft häufig herum oder klettert exzessiv in Situationen, in denen diese Verhaltensweisen unpassend sind |
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ist in der Regel unnötig laut bei Freizeitaktivitäten und hat Schwierigkeiten leise zu spielen |
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zeigt ein anhaltendes Muster exzessiver motorischer Aktivität, die durch den sozialen Kontakt oder Verbote nicht durchgreifend beeinflussbar sind. |
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platzt mit der Antwort heraus, bevor die Frage beendet ist. |
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kann häufig nicht warten, bis es/er an der Reihe ist und unterbricht/stört andere |
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redet häufig exzessiv, ohne angemessen auf soziale Beschränkungen zu reagieren |
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Weitere Unterscheidungsmerkmale |
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Die grundlegenden Unterschiede zwischen beiden Störungsbildern finden sich im zeitlichen Verlauf und im Ausprägungsgrad der für die autistische Kernsymptomatik zutreffenden Kriterien. Diese umfassen meist frühere Auffälligkeiten bei ASS, schon sehr früh sich zeigende und deutlich stärker ausgeprägte Interaktions- und Kommunikationsstörungen sowie früh beginnende repetitive und stereotype Verhaltensweisen und ein eingeschränktes Repertoire an Interessen. Meist fallen die Kinder schon im sehr jungen Kindesalter als „anders“ auf, können jedoch bei überdurchschnittlicher Intelligenz und dementsprechenden Kompensationsleistungen auch erst später die Wahrnehmungsschwelle überschreiten, wenn individuelle soziale Fertigkeiten nicht mehr mit den sozialen Anforderungen mithalten können.
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Psychopharmakologische Behandlung der ADHS bei ASS
Die Behandlung der ADHS bei komorbider ASS unterscheidet sich grundlegen nicht von derjenigen einer „reinen“ ADHS. Es können gemäß S3-Leitlinie [84] Stimulanzien oder Nichtstimulanzien zum Einsatz kommen. In der klinischen Praxis zeigt sich immer wieder, dass Menschen mit ASS sehr viel geringere Dosierungen an Medikation benötigen und zudem eine ausgeprägtere Empfindlichkeit für Nebenwirkungen haben.
Es gibt wenige Studien zur Behandlung, wenn beide Störungen vorliegen. Diese stammen aus dem Kinder- und Jugendbereich, nach Wissen der Autoren liegen keine spezifischen Studien aus dem Erwachsenenbereich vor. Liegen ADHS und ASS vor können Stimulanzien eingesetzt werden. Bei Vorliegen beider Erkrankungen scheint die Wirkung im Vergleich mit einer alleinigen ADHS abgeschwächt zu sein, dennoch können diese gut eingesetzt werden, alternativ auch Atomoxetin oder Guanfacin [73], [85]–[96].
Kliniker sollten an die Komorbidität von ADHS und ASS gerade bei Patienten, die diagnostisch schwer einzuordnen sind, denken. Beide Erkrankungen kommen nicht selten miteinander vergesellschaftet vor, erfordern jedoch eine genaue Anamneseerhebung und ausführliche Diagnostik. Die hier angegebenen Unterscheidungsmerkmale können als Orientierungshilfe im diagnostischen Prozess dienen und diesen erleichtern.
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Interessenkonflikt
Daniel Schöttle erhielt Honorare für Vorträge, Reisen und Beratungstätigkeit von Lundbeck, Otuska, Janssen und Takeda. Benno Schimmelmann erhielt Honorare für Vorträge von Shire, InfectoPharm und Takeda. Ludger Tebartz van Elst: Interessenkonflikte: Bezahlte Vorträge, Workshops und Weiterbildungsveranstaltungen zu den Themen Autismus, ADHS, Psychosen, Entwicklungsstörungen, Epilepsie, organische psychische Störungen, Theorie der Psychiatrie. Buchpublikationen.
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