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DOI: 10.1055/a-0985-8127
Wo ist die Evidenz? – „Homo Heidelbergensis“ und die Suche nach der Qualität im Gesundheitssport
Publication History
Publication Date:
09 October 2019 (online)
Mit einem Studium der Sportwissenschaft, Politikwissenschaft und Germanistik an der Universität Heidelberg ist Gerhard Huber die Interdisziplinarität quasi in die „wissenschaftliche Wiege“ gelegt. Gemeinsam mit seinem Heidelberger Mentor Professor Hermann Rieder stand das Handlungsfeld des Gesundheitssports sowie des Sports mit Sondergruppen seit Beginn seiner Tätigkeit im Jahr 1987 am Institut für Sport und Sportwissenschaft der Universität Heidelberg im Fokus seiner wissenschaftlichen Aktivitäten. Mit seiner Dissertation „Sport und Depression – ein bewegungstherapeutisches Modell“ (1990) beschritt er in der Sportwissenschaft Neuland. Auch angeregt durch das Salutogenese-Modell von Antonovsky (1987) gehörte er früh zu den Protagonisten einer bio-psycho-sozialen Sichtweise auf Gesundheitswirkungen von körperlich-sportlicher Aktivität, die über die bis dahin dominierende rein medizinische Betrachtung in der Sportwissenschaft hinausging.
Es verwundert daher nicht, dass Gerhard Huber einer der „Gründungsväter“ der Kommission Gesundheit in der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft (dvs) war, die 1995 gegründet wurde mit dem Ziel, Beiträge zur Theoriebildung, Methoden- und Programmentwicklung sowie Evaluation von Gesundheitssport in Prävention und Rehabilitation zu leisten und dieses Themenfeld innerhalb der dvs weiterzuentwickeln.
Gerade in diese Anfangszeit der Kommission Gesundheit fiel die Abschaffung des „allgemeinen Präventionsauftrages der Krankenkassen“ im § 20 des SGB V im Jahr 1996. Diese wurde vor allem begründet mit dem Argument des fehlenden Qualitätsnachweises gesundheitlicher Wirkungen von Gesundheitsförderungsprogrammen. „Nicht jeder Bauchtanzkurs ist förderwürdig“, so titelte der damalige Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer.
Gerade dem Thema „Qualität“ hat sich Gerhard Huber in seiner wissenschaftlichen Arbeit verschrieben. Mit seiner Habilitationsschrift (1997) „Evaluation gesundheits-orientierter Bewegungsprogramme“ leistete er einen bedeutsamen Beitrag zur Qualitätsentwicklung sportwissenschaftlicher Gesundheitsforschung. „Wo ist die Evidenz?“ ist bis heute eine seiner wissenschaftlichen Lieblingsfragen geblieben. Er selbst hat vor dem Hintergrund des Ansatzes einer „evidence based medicine“ zahlreiche Überblicksbeiträge geschrieben – das Spektrum reicht von den Wirkungen körperlich-sportlicher Aktivität auf Übergewicht, Diabetes, Krebs, Rücken- und Herz-Kreislauf-Probleme bis hin zu psychischen Erkrankungen. Inzwischen liegt eine „erdrückende Evidenz“ – so Huber – für die gesundheitliche Wirksamkeit von körperlich-sportlicher Aktivität vor. Es verwundert daher nicht, dass er sich nicht nur mit der Frage nach dem „Ob“, sondern auch mit dem „Wie“ des Zusammenhangs von Sport und Gesundheit beschäftigt. Sein Augenmerk liegt dabei auf der Frage zur inhaltlichen Gestaltung von Gesundheitssportprogrammen. In seinem wissenschaftlichen Oevre finden sich Arbeiten zur gesamten Interventionskette. Dabei überwindet Huber die lange Zeit strikt voneinander getrennten Säulen der Prävention und Rehabilitation und erarbeitet „grenzüberschreitend“ z. B. Konzepte der Prävention in der Pflege.
In den verschiedenen Interventionsschritten leistet er Beiträge z. B. in der klinischen Bewegungstherapie vor allem mit dem Kollegen Wiskemann, über die medizinische und berufliche Rehabilitationsforschung mit den Kollegen Sudeck und Pfeifer sowie in enger Abstimmung mit dem DVGS (Angelika Baldus) und der Deutschen Rentenversicherung Bund (Silke Brüggemann). Hier ist es in den letzten Jahren gelungen, in der Deutschen Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften eine „Arbeitsgruppe Bewegungstherapie“ zu etablieren. Dies hat zu einer – längst überfälligen – größeren Sichtbarkeit der sportwissenschaftlichen Gesundheitsforschung geführt und trägt dem Umstand Rechnung, dass nach einer Studie von Huber und Kollegen 60 % aller Interventionen im Reha-Bereich bewegungstherapeutischer Natur sind.
In der deutschen Sportwissenschaft sozialisiert hat sich Gerhard Huber seit 2010 auf den Globalisierungs- und Internationalisierungstrend im Wissenschaftsbetrieb eingestellt. Er publiziert zentrale Erkenntnisse in renommierten internationalen Zeitschriften und kann seither auf einen enorm gestiegenen Zitationsindex im Web of Science verweisen. Die verstärkte Internationalisierung seiner Arbeit zeigt sich z. B. in verschiedenen Lehraufträgen an europäischen Universitäten sowie durch die „visiting Professur“ an der Universität Leuven (Belgien) im Rahmen des europäischen Studienganges „Adapted Physical Activity“.
Die Entwicklung von Studiengängen und -angeboten liegt ihm am Herzen. So war er zentral beteiligt am ersten deutschen Diplomaufbaustudiengang „Prävention und Rehabilitation“ an der Universität Heidelberg im Jahr 1990. Auch heute bringt er sein Wissen in neue Bildungskonzepte ein und unterstützt u. a. auch Universitäten in Afrika und Südamerika in ihren Entwicklungsprozessen im Bereich des Gesundheitssports.
Gerhard Huber ist jedoch nicht nur Forscher und Hochschullehrer, sondern auch in zentraler Weise „Lobbyist für Bewegung“. In den verschiedensten Verbänden und Organisationen setzt er sich für die sportwissenschaftliche Gesundheitsforschung ein: sei es bei der Plattform für Ernährung und Bewegung, im wissenschaftlichen Beirat des Deutschen Netzwerkes für gesundheitsfördernde Krankenhäuser oder auch in der Deutschen Rentenversicherung Bund. Sein Herz schlägt für den DVGS, dessen Präsident er ist.
Zu Beginn seines beruflichen Wirkens stand die Diskussion um den § 20 SGB V – zum Ende seiner beruflichen Tätigkeit ist das Präventionsgesetz seit 2016 in Kraft. Mit einer zentralen Prüfstelle Prävention (ZPP) wird die Qualitätsprüfung, die in den 1990er-Jahren für das Scheitern der damaligen § 20 verantwortlich war, gesichert. Eine formale Qualitätsprüfung reicht jedoch langfristig nicht aus. Huber fordert vermehrte Anstrengungen der gesundheitsorientierten Sportwissenschaft zur Evaluation im Sinne einer „evidence based practice“. Als „TÜV-zertifizierter Qualitätsauditor im Gesundheitswesen“ ist für Gerhard Huber die Qualitätsentwicklung ein nicht mit einer formalen beruflichen Altersgrenze endender Prozess, sondern sicherlich eine lebenslange Aufgabe!
So ist mit dem anstehenden (Un-)Ruhestand nicht zu befürchten, dass „Ruhe“ zur „tödlichen Gefahr werden kann“, wie einer seiner plastischen Zeitschriftenüberschriften suggeriert. Vielmehr freuen sich die Kommission Gesundheit und ich als ihr Sprecher im Besonderen auf die künftigen Beiträge des manchmal mit Freude gegen den Strom schwimmenden Fisches Gerhard Hubers: in Sitzungen, in denen mindestens einmal gelacht werden muss, und in guten Gesprächen mit einem vielseitigen, interdisziplinär gebildeten Menschen über die aktuellen (Wissenschafts-)Probleme unserer Zeit.
Die Kommission Gesundheit der dvs wünscht Gerhard Huber für das Ende der formalen Arbeitszeit und den Übergang in das „informale Wirken“ alles erdenklich Gute – eine positive Einzelfallanalyse von Theorien und Konzepten „erfolgreichen Alterns“, eine leichte Verlagerung der Aktivitätsschwerpunkte zugunsten der motorischen Entwicklungsanalyse der Enkel sowie die Pflege der eigenen (musikalischen) Talente!
Prof. Dr. Alexander Woll