Einleitung
Mit der Umsetzung des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen
(UN-BRK) hat das bio-psycho-soziale Modell und die darauf basierende Internationale
Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation
(WHO) im deutschen Sprachraum an Bedeutung gewonnen [1]. Ein Beispiel dafür ist das deutsche Bundesteilhabegesetzes (BTHG) im Jahr 2016.
Es revidierte das Neunte Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) und definierte Behinderung
neu.
In §2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX heißt es:
„Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder
Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten
Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit
länger als sechs Monate hindern können“.
Ein weiteres Beispiel ist die in §§ 13 und 19 SGB IX im Rehabilitationsrecht verankerte
„individuelle und funktionsbezogene“ Ermittlung von Rehabilitationsbedarfen. Für den
Bereich der Eingliederungshilfe ist die ICF als Maßstab der Instrumente der Bedarfsermittlung
benannt (§ 118 Abs. 1 SGB IX).
Mehr Autonomie für Leistungsberechtigte bedeutet: Kontextfaktoren werden wichtiger
Mit dem SGB IX schafft der Gesetzgeber die Voraussetzungen für ein hohes Maß an Autonomie
der Leistungsberechtigten in ihrer Lebensgestaltung. Die Interessen und Bedürfnisse
der Leistungsberechtigen sind handlungsleitend, Beurteilungen der Leistungserbringer
sowie die sich daraus ableitenden Empfehlungen und deren Umsetzung müssen mit ihm
abgestimmt werden.
Diese Zielsetzung zu realisieren, bedeutet für alle Personen im Gesundheitsbereich,
sich dezidiert mit den Kontextfaktoren auseinanderzusetzen, sofern sie als Förderfaktor
oder Barriere für die Funktionsfähigkeit des betroffenen Menschen relevant sind. Kontextfaktoren
können sowohl als Umweltfaktoren als auch von der Person selbst ausgehend als PF mit
der Funktionsfähigkeit interagieren.
Zu einer bio-psycho-sozialen Perspektive auf Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit
gehört die Berücksichtigung von positiven wie negativen Wechselwirkungen (Förderfaktoren
und Barrieren) zwischen dem Gesundheitsproblem, seinen Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit
sowie den modulierenden Kontextfaktoren. Nur so können die notwendigen Maßnahmen individuell
umfassend ermittelt, passgenau geplant, durchgeführt und evaluiert werden.
Mithilfe der ICF lassen sich die individuellen Auswirkungen eines Gesundheitsproblems
auf die Funktionsfähigkeit systematisch und standardisiert beschreiben und dokumentieren.
Während die Umweltfaktoren in der ICF klar konzeptualisiert und klassifiziert sind,
stellt die WHO für die PF nur eine stark vereinfachte konzeptionelle Definition zur
Verfügung: „Personbezogene Faktoren sind der spezielle Hintergrund des Lebens und
der Lebensführung eines Menschen und umfassen Gegebenheiten des Menschen, die nicht
Teil ihres Gesundheitsproblems oder -zustands sind“ und hinterlegt diese mit einigen
Beispielen wie Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Alter, Fitness, Lebensstil, Gewohnheiten,
Bewältigungsstile [1]. Die Beurteilung dieser Faktoren sei, falls notwendig, den Anwendern überlassen.
Relevanz personbezogener Faktoren
Die Haltung der WHO, PF nicht zu klassifizieren, erschwert die Verständigung in einer
gemeinsamen, von Anwendungsfeldern und Disziplinen/Professionen unabhängigen Sprache
im Sozial- und Gesundheitswesen sowie die Vergleichbarkeit medizinischer Evaluation
und der darauf basierenden Berichte und Entscheidungen. Eine allgemein anerkannte
Systematik der PF bietet nicht nur ein gemeinsames Arbeitswerkzeug für die Anwender,
sondern auch einen Standard, der von allen in die Bedarfsermittlung involvierten Personen
bei Entscheidungen berücksichtigt werden kann. Dies begünstigt die Interraterreliabilität
von Entscheidungen und trägt zur Vergleichbarkeit im Entscheidungsprozess bei [2]. PF sind zudem ein zentraler Bestandteil einer ganzheitlichen Betrachtung der Situation
von Menschen mit Behinderungen [1]. Faktoren wie Selbstvertrauen oder Ernährungsgewohnheiten stellen nicht nur wesentliche
Determinanten von Gesundheit und Funktionsfähigkeit dar, sondern sind als Ansatzpunkte
für Interventionen der Rehabilitation und Integration systematisch zu berücksichtigen
[3]. Eine systematische Beschreibung von relevanten PF erhöht die Transparenz und Nachvollziehbarkeit
der im Rahmen der Bedarfs- und Leistungsermittlung gefällten Entscheidungen und sichert
eine personenzentrierte Rehabilitations- und Integrationsstrategie. Die explizite
statt implizite Dokumentation personbezogener Förderfaktoren und Barrieren für die
Funktionsfähigkeit steigert zudem die Verständlichkeit medizinischer Gutachten und
gibt den Betroffenen die Möglichkeit, bei als ungerechtfertigt empfundenen Aussagen
und Entscheidungen zu intervenieren [4]. Dies liefert ein zentrales ethisch-moralisches Argument für die strukturierte Berücksichtigung
von PF bei der Bedarfsermittlung und Durchführung von Teilhabeleistungen.
Systematisierung personbezogener Faktoren
Aufgrund einer aufkommenden Unzufriedenheit mit der unzureichenden Konzeptualisierung
und fehlenden Systematisierung der PF in der ICF haben sich in den vergangenen Jahren
verschiedene Arbeitsgruppen mit der Kategorisierung von PF beschäftigt [3, 5–12]. Jedoch beschränken sich die meisten dieser Vorschläge entweder auf spezifische
Anwendungsbereiche (z. B. Arbeitsreintegration) oder bestimmte Teilaspekte der PF
(z. B. Lifestyles oder subjektive Erfahrungen). Der einzige Vorschlag, der einen umfassenden
Blick auf PF erlaubt, ist jener von Geyh et al. [3]. Auch die DGSMP stellte sich der Herausforderung, eine Systematik zu PF für den
deutschen Sprachraum zu entwickeln. Der Entwurf wurde 2010 in einer ersten Fassung,
2012 mit Beispielen unterlegt [13]
[14] und für eine internationale Diskussion in englischer Sprache [15] publiziert. Die DGSMP-Systematik wurde in Deutschland wie international intensiv
diskutiert, so auch auf der ICF-Anwenderkonferenz im Rahmen einer WHO Tagung im April
2018 in Hamburg.
Als Grundlage für die sozialmedizinische Begutachtung von Rehabilitations- und Teilhabeleistungen
sowie für eine umfassende Betrachtung im Rahmen des gesamten Reha-Prozesses hat sie
Eingang in zahlreiche Schriften der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR)
gefunden [16]. Bei der Erarbeitung des vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Auftrag
gegebenen Basiskonzepts für die Bedarfsermittlung in der beruflichen Rehabilitation
[17] wurde diese Systematik für die Zuordnung der Instrumente zur ICF-Komponente PF verwendet.
Daneben findet sie in wissenschaftliche Arbeiten Berücksichtigung, so bei Geyh et
al. [3], Rapp [18] und Mahdi [19].
Ziel der vorliegenden Arbeit ist eine Aktualisierung der DGSMP-Systematik zu PF aus
2010 auf der Grundlage einer diskursiven Auseinandersetzung mit Vorschlägen anderer
Autoren, insbesondere von Geyh et al. [3] sowie den bis dato vorliegenden Rückmeldungen.
Methodik
Die 2010 publizierte DGSMP-Systematik zu PF bildete die Grundlage für die Überarbeitung
durch eine multiprofessionelle deutsch-schweizerische Arbeitsgruppe der DGSMP.
Beteiligte
Beteiligt waren mit der ICF vertraute Personen von Leistungsträgern und -erbringern,
der Wissenschaft und Selbsthilfe unterschiedlicher Professionen und Funktionen: Sozialmedizin,
Rehabilitationsmedizin, Gesundheits- und Rehabilitationswissenschaft, Rehabilitationsmanagement,
berufliche Integration, Rechtswissenschaft, Physio-/Ergotherapie, Sozialpädagogik,
Psychologie, Gesundheitsökonomie, Politikberatung und Verwaltungswirtschaft.
Grundlagen für die Überarbeitung
Es bestand Konsens, die Konzeptualisierung personbezogener Faktoren als meist überdauernde
Merkmale einer Person beizubehalten. Ebenso sollte die Struktur der Systematik nach
Möglichkeit gleichbleiben, damit Anwender in Studien und Formularen zur Bedarfsermittlung
bereits erfasste Daten weiterhin nutzen können. Dabei waren Spezifität und Praktikabilität
für die Ermittlung von Teilhabebedarfen in Einklang zu bringen.
Die Grundsätze für die Faktorenauswahl (umfassend, universell, wertneutral, handhabbar,
relevant, eindeutig, final ausgerichtet und nicht diskriminierend) galten analog zur
Erstpublikation [13].
Zusätzlich wurden die folgenden Quellen für die Überarbeitung der Systematik verwendet:
-
Fachspezifische Rückmeldungen:
-
aus den ICF-Anwenderkonferenzen seit 2010
-
der ICF Plattform und Anwendertagungen der Swiss Association of Rehabilitation (SAR)
-
im Fachaustausch mit anderen Fachgesellschaften
-
im Rahmen des b3-Bedarfsermittlungskonzeptes
-
aus dem ärztlichen Sachverständigenrat der BAR
-
von Anwendern aus dem Bereich der sozialmedizinischen Begutachtung
-
Bisher publizierte Ansätze zur Systematisierung personbezogener Faktoren [3]
[5]
[6]
[7]
[8]
[9]
[10]
[11]
[12]
Die genannten neun Ansätze zur Systematisierung von PF wurden im Hinblick auf evtl.
fehlende Kategorien in der DGSMP-Systematik analysiert. Im Ergebnis war nur der Ansatz
von Geyh et al. für die weitere Diskussion von Bedeutung, da dieser als einziger umfassend
angelegt ist [3]. Ein Co-Autor der Publikation konnte für die Überarbeitung der DGSMP-Systematik
gewonnen werden.
Geyh et al. entwickelten ihre Systematik zu PF in einem mehrstufigen Ansatz. Neben
der Sichtung von wissenschaftlicher Literatur und strukturierten Diskussionsrunden
wurden Sekundäranalysen von qualitativen Daten aus der Entwicklung von ICF Core Sets
unter Zuhilfenahme der Inhaltsanalyse nach Schreier [20] verwendet. Im Ergebnis entstand eine Systematik von PF, die sich in drei Teile mit
sieben Bereichen unterteilt. Die Struktur der Systematik nach Geyh et al. findet sich
in [Tab. 1]; die Struktur der DGSMP-Systematik von 2010 in [Tab. 2].
Tab. 1 Struktur der Systematik von Geyh et al. aus 2019 [3].
|
Kapitel
|
Anzahl Kategorien
|
|
Gesamt
|
2. Ebene
|
3. Ebene
|
4. Ebene
|
|
Individuelle Fakten
|
|
|
|
|
|
i1 Soziodemographische Charakteristika
|
11
|
8
|
3
|
|
|
i2 Position im unmittelbaren sozialen Kontext
|
7
|
5
|
2
|
|
|
i3 Persönliche Lebensgeschichte und Biographie
|
2
|
2
|
|
|
|
Subjektives Erleben
|
|
|
|
|
|
i4 Gefühle
|
10
|
2
|
8
|
|
|
i5 Gedanken und Überzeugungen
|
83
|
8
|
51
|
24
|
|
i6 Motive
|
37
|
3
|
18
|
16
|
|
Wiederkehrende Muster des Verhaltens und Erlebens
|
|
|
|
|
|
i7 Übergreifende Verhaltens- und Erlebensmuster
|
17
|
4
|
8
|
5
|
|
Gesamt
|
167
|
32
|
90
|
45
|
Tab. 2 Struktur DGSMP-Systematik von 2010.
|
Kapitel
|
Anzahl Kategorien
|
|
Gesamt
|
2. Ebene
|
3. Ebene
|
4. Ebene
|
|
i1 Allgemeine Merkmale einer Person
|
9
|
3
|
6
|
|
|
i2 Physische Faktoren
|
9
|
2
|
7
|
|
|
i3 Mentale Faktoren
|
10
|
10
|
|
|
|
i4 Einstellungen, Grundkompetenzen und Verhaltensgewohnheiten
|
20
|
20
|
|
|
|
i5 Lebenslage und sozioökonomische/-kulturelle Faktoren
|
9
|
9
|
|
|
|
i6 Andere Gesundheitsfaktoren
|
2
|
2
|
|
|
|
Gesamt
|
59
|
46
|
13
|
|
Vorgehen
Die Überarbeitung der Systematik erfolgte in acht strukturierten und moderierten 1-
bis 2-tägigen Sitzungen der Arbeitsgruppe von Oktober 2017 bis Juli 2019. In den Sitzungen
wurden Arbeitsaufgaben auf die Mitglieder der Arbeitsgruppe entsprechend deren Tätigkeitsschwerpunkt
und Expertise verteilt und zum darauffolgenden Treffen zur Kommentierung in die Gruppe
zurückgegeben. Bestand innerhalb der Gruppe keine ausreichende Expertise für bestimmte
Themen, wurden externe Experten konsultiert. In den Sitzungen erfolgte die Diskussion
und ggf. Spezifizierung sowie Revision der vorgelegten Beiträge im Konsensverfahren.
Auch die Ergebnisse der Konsultationen wurden in der Arbeitsgruppe diskutiert und
ggf. modifiziert.
Ergebnisse
Im Folgenden ist die Kurzversion der Systematik (2. Ebene Kategorien) mit ihren fünf
Kapiteln dargestellt.
Die Langversion der Systematik mit Definitionen, Beispielen sowie Ein- und Ausschlusskriterien
kann von der DGSMP-Homepage heruntergeladen werden (https://www.dgsmp.de/).
Kapitel 1
Allgemeine Merkmale einer Person
Dieses Kapitel befasst sich mit vorgegebenen allgemeinen Merkmalen einer Person wie
Alter und Geschlecht, die sich als Barriere oder Förderfaktor auf die Funktionsfähigkeit
auswirken können. Das Kapitel umfasst nicht Merkmale, die einer Gesundheitsstörung
oder Krankheit entsprechen.
Alter (i110–119)
Entwicklungsstand einer Person unter kalendarischen, psychosozialen und biologischen
Aspekten
i110 Kalendarisches Alter
i112 Psychosoziales Alter
i114 Biologisches Alter
i118 Alter, anders bezeichnet
Geschlecht (i120–129)
Die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht (z. B. männlich, weiblich, divers) in Bezug
auf das biologische Geschlecht sowie die geschlechtliche Identität (erlebtes und gelebtes
geschlechtliches Selbst).
i120 Biologisches Geschlecht
i122 Soziales Geschlecht (Gender)
i128 Geschlecht, anders bezeichnet
i129 Geschlecht, nicht näher bezeichnet
Kapitel 2
Physische Faktoren
Das Kapitel befasst sich mit der angeborenen oder erworbenen körperlichen Konstitution
wie Faktoren des Körperbaus und anderen physischen Faktoren, die die Funktionsfähigkeit
und ihr Veränderungspotenzial beeinflussen können. Körperliche Potenziale/Talente
sind eingeschlossen.
Es betrifft nicht Schädigungen von Körperfunktionen -strukturen.
i210 Körpermaße, Körperform und Körperzusammensetzung
i298 Physische Faktoren, anders bezeichnet
i220 Bewegungsbezogene Faktoren
i299 Physische Faktoren, nicht näher bezeichnet
i221 Faktoren des Herz-, Kreislauf- und Atmungssystems
i222 Faktoren des Stoffwechsels
i223 Faktoren der Sinnesorgane
Kapitel 3
Mentale Faktoren
Das Kapitel befasst sich mit den grundlegenden Faktoren der Persönlichkeit sowie kognitiven
und mnestischen Faktoren, die als Förderfaktoren und Barrieren die Funktionsfähigkeit
beeinflussen können. Enthalten sind Intelligenz und angeborene mentale Talente. Es
betrifft nicht Schädigungen mentaler Funktionen. Haben die Merkmale Krankheitswert,
werden sie nicht als PF klassifiziert, sondern bei den mentalen Funktionen.
Faktoren der Persönlichkeit (i310–349)
Hierbei handelt es sich um mentale Faktoren, die das Naturell einer Person betreffen,
individuell auf Situationen zu reagieren, einschließlich der psychischen Charakteristika,
die eine Person von einer anderen unterscheiden.
i310 Extraversion
i315 Faktoren der Emotionalität
i320 Gewissenhaftigkeit
i325 Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen
i330 Umgänglichkeit
i335 Selbstvertrauen
i340 Optimismus
i348 Faktoren der Persönlichkeit, anders bezeichnet
i349 Faktoren der Persönlichkeit, nicht näher bezeichnet
Kognitive und mnestische Faktoren (i350–369)
Hierbei handelt es sich um mentale Faktoren, die die Intelligenz, Kognition und Informationsverarbeitung
betreffen und für die Funktionsfähigkeit von Relevanz sein können.
i350 Faktoren der Intelligenz
i355 Kognitive Faktoren
i360 Mnestische Faktoren
i368 Kognitive und mnestische Faktoren, anders bezeichnet
i369 Kognitive und mnestische Faktoren, nicht näher bezeichnet
i398 Mentale Faktoren, anders bezeichnet
i399 Mentale Faktoren, nicht näher bezeichnet
Kapitel 4
Einstellungen, Handlungskompetenz und Gewohnheiten
Das Kapitel befasst sich mit persönlichen Einstellungen, Kompetenzen und Gewohnheiten,
die als Förderfaktoren und Barrieren die Funktionsfähigkeit beeinflussen und von großer
Bedeutung für die Motivation sein können. Es befasst sich nicht mit Aktivitäten, die
infolge eines Gesundheitsproblems beeinträchtigt sind.
Einstellungen (i410–429)
Einstellungen haben in unterschiedlichem Umfang emotionale, kognitive und motivationale
Anteile, die das eigene Handeln und Leben in bestimmten Bereichen betreffen und sich
auf meist überdauernde Überzeugungen, Sichtweisen und Wertvorstellungen beziehen.
Die emotionalen Anteile betreffen Gefühle und emotionale Bewertungen. Kognitive Anteile
reflektieren Anschauungen, Erwartungen, Erklärungs- und Attributionsansätze sowie
rationale Bewertungen. Motivationale Anteile beziehen sich auf Interessen, Präferenzen
und persönliche Ziele. Einstellungen können die Sicht auf die Welt und deren Deutung
betreffen, die generelle Zuschreibung von Ursachen zu Ereignissen, die Rolle des Einzelnen
in der Gesellschaft oder seine Sicht auf die Gesellschaft.
i410 Weltanschauung
i411 Einstellung zur eigenen Person
i413 Lebenszufriedenheit
i416 Einstellung zu Gesundheit, Krankheit und Behinderung
i418 Einstellung zur Unterstützung durch andere Personen
i419 Einstellung zu Interventionen und technischen Hilfen
i420 Einstellung zu finanziellen Versicherungs- und Versorgungsleistungen
i421 Einstellung zur Bildung
i422 Einstellung zur Arbeit
i425 Einstellung zum sozialen Leben und zur Gesellschaft
i428 Einstellungen, anders bezeichnet
i429 Einstellungen, nicht näher bezeichnet
Handlungskompetenz (i430–449)
Persönliche Kompetenzen können für die Bewältigung der Auswirkungen von Krankheit
und Behinderung relevant sein. Zur Handlungskompetenz gehören Kenntnisse, Fähigkeiten
und Fertigkeiten, die Entwicklung von Handlungsstrategien, die Planung von Handlungen
und deren zielgerichtete Ausführung sowie die dazugehörige Handlungsbereitschaft und
die Reflexion über das eigene Tun.
In diesem Teilkapitel (i430–i449) werden Faktoren subsumiert, die eine Grundlage für
eine entsprechende Handlung bilden, nicht jedoch das Handeln selbst.
i430 Sozialkompetenz
i431 Sprachkompetenz
i433 Methodenkompetenz
i436 Selbstkompetenz (Empowerment)
i438 Fachkompetenz
i442 Medienkompetenz
i448 Handlungskompetenz, anders bezeichnet
i449 Handlungskompetenz, nicht näher bezeichnet
Gewohnheiten (i450–479)
Durch Wiederholung selbstverständlich gewordene Verhaltensmuster.
i450 Ernährungsgewohnheiten
i453 Gewohnheiten beim Konsum von Genussmitteln
i456 Bewegungsgewohnheiten
i459 Gewohnheiten in alltäglichen Routinen
i460 Freizeitgewohnheiten
i462 Sexualgewohnheiten
i465 Kommunikationsgewohnheiten
i468 Hygienegewohnheiten
i471 Gewohnheiten im Umgang mit Geld und materiellen Gütern
i478 Verhaltensgewohnheiten, anders bezeichnet
i479 Verhaltensgewohnheiten, nicht näher bezeichnet
i498 Einstellungen, Handlungskompetenz und Gewohnheiten, anders bezeichnet
i499 Einstellungen, Handlungskompetenz und Gewohnheiten, nicht näher bezeichnet
Kapitel 5
Lebenslage
Das Kapitel befasst sich mit dem Status einer Person in ihrem unmittelbaren und weiteren
Umfeld. Dieser kann die Funktionsfähigkeit und ihr Veränderungspotenzial beeinflussen.
i510 Familiärer Status
i513 Status im unmittelbaren und weiteren sozialen Kontext
i515 Wohnsituation
i520 Beschäftigungsstatus
i525 Wirtschaftlicher Status
i527 Rechtlicher Status
i530 Gesellschaftlicher Status
i535 Kultureller Status
i540 Zugehörigkeit zu ethnischen Gruppen
i550 Bildungsstatus
i598 Lebenslage, anders bezeichnet
i599 Lebenslage, nicht näher bezeichnet
Eine Übersicht zur Struktur DGSMP-Systematik von 2019 ist in [Tab. 3] enthalten.
Tab. 3 Struktur DGSMP-Systematik von 2019.
|
Kapitel
|
Anzahl Kategorien
|
|
Gesamt
|
2. Ebene
|
3. Ebene
|
4. Ebene
|
|
i1 Allgemeine Merkmale einer Person
|
5
|
5
|
|
|
|
i2 Physische Faktoren
|
5
|
5
|
|
|
|
i3 Mentale Faktoren
|
10
|
10
|
|
|
|
i4 Einstellungen, Grundkompetenzen und Verhaltensgewohnheiten
|
25
|
25
|
|
|
|
i5 Lebenslage und sozioökonomische/-kulturelle Faktoren
|
10
|
10
|
|
|
|
Gesamt
|
55
|
55
|
|
|
Änderungen zum Vorentwurf und Erläuterungen
Kapitel 1 und 2
-
Genetische Faktoren
Die Kategorie „Genetische Faktoren“ wurde in der überarbeiteten Systematik nicht
mehr aufgeführt, da fast jede Ausprägung eines Menschen (Körperstrukturen/-funktionen,
PF) auf der Basis von genetischen Faktoren betrachtet werden kann.
-
Auflösung der 3. Ebene
In beiden Kapiteln wurde im Hinblick auf die Einheitlichkeit der Gliederung die 3.
Ebene neu bewertet und in die zweite Ebene eingeordnet [Tab. 4].
Tab. 4 Veränderungen in der Systematik 2010 zu 2019.
|
Anzahl:
|
2010
|
2019
|
|
|
Kapitel
|
6
|
5
|
|
|
Blöcke
|
7
|
7
|
|
|
Kategorien
|
59
|
55
|
|
|
Veränderungen von 2010 zu 2019
|
Anzahl
|
betroffene Items/Kategorien
|
|
Kategorien neu
|
|
13
|
i215, i225, i230, i411, i418, i420, i421, i431, i436, i438, i460, i513, i527
|
|
Kategorien gestrichen
|
|
5
|
i130, i439, i459, i610, i615
|
|
Bezeichnung der Kategorien geändert
|
|
10
|
i122, i130, i210, i220, i320, i453, i,510, i525, i530, i550
|
Kapitel 3
-
Verortung von Talent und Begabung - Das komplexe Konstrukt Intelligenz
Die überarbeitete Fassung der Einführungssätze in Kapitel 2 „Physische Faktoren“ und
Kapitel 3 „Mentale Faktoren“ orientiert sich am Modell von Deiglmayr, Schalk & Stern
[20] . Der Begriff Begabung beschreibt das Potenzial eines Menschen in einem spezifischen
Leistungsbereich. Darunter fallen einerseits kognitive Begabungen, z. B. die mathematische
und sprachliche Begabung, andererseits auch soziale, motorische sowie künstlerische
Begabungen. Eine Begabung kann vorliegen, auch wenn diese nicht umgesetzt oder angewandt
wird.
Intelligenz ist ein multimodaler, aus Elementen des Verstehens, des Abstrahierens,
des Schlussfolgerns, der Problemlösung und der Situationsbewältigung bestehender Faktor.
Der Verbleib der Kategorie „Faktoren der Intelligenz“ wurde kontrovers diskutiert,
da es sich einerseits um ein komplexes Konstrukt aus kognitiven und mnestischen Anteilen
handelt, andererseits aber auch Talent (z. B. musische Begabung) enthalten sind. Aufgrund
seiner praktischen Relevanz verblieb die Kategorie in der Systematik. Ebenso wurden
für eine differenzierte Beschreibung die spezifische Kategorie „Kognitive und mnestische
Faktoren“ (i 350–369) in der Systematik belassen.
Um in Abgrenzung zur Intelligenz die realisierte Begabung in einem nicht-kognitiven
Bereich zu beschreiben, wird der Talentbegriff verwendet. Genauso wie die Intelligenz
entwickelt sich das Talent aus dem Zusammenspiel von Begabung und Person-Umwelt-Interaktion.
-
Faktoren der Persönlichkeit
Mit der Umbenennung des Items „Zuverlässigkeit“ (i320) in „Gewissenhaftigkeit“ orientiert
sich die Systematik an empirisch begründeten psychologischen Theorien [21]. Zuverlässigkeit bildet neben u. a. Sorgfalt, Genauigkeit und Prinzipientreue lediglich
einen Teilaspekt von Gewissenhaftigkeit ab, der als übergeordneter Faktor zu betrachten
ist.
Kapitel 4
-
Einstellungen
Die Struktur des Teilkapitels „Einstellungen“ blieb größtenteils erhalten. Im Gegensatz
zum Ansatz von Geyh et al., der differenziert Gefühle, Gedanken/Überzeugungen und
Motive unterscheidet, subsumiert der DGSMP-Ansatz diese Bereiche im Teilkapitel „Einstellungen“,
da sie sowohl emotionale, kognitive als auch motivationale Anteile enthalten. Die
den Einstellungen zugrundeliegenden spezifischen Anteile könnten in einer weiteren
Entwicklung der Systematik auf der dritten Ebene weiter differenziert werden.
-
Die komplexen Konstrukte Motivation und Selbstwirksamkeit
Motivation wird auch weiterhin nicht als eigenständige Kategorie aufgeführt, auch
wenn sie in vielen Fragestellungen von großer Bedeutung ist, da es sich nicht um ein
eigenständiges und trennscharfes Konstrukt handelt. Motivation beinhaltet emotionale
Faktoren, die zur Verfügung stehende Energie, Antrieb, Willen und Handlungsmotive.
Begriffe wie Beweggründe, Handlungsbereitschaft, Bedürfnis, Wirksamkeitsstreben, Selbstmanagement,
Streben, Drang, Wünsche, Triebkraft, Begierde, Ziele, Motive, Motivierung, Wille,
Selbstbestimmung, Bereitwilligkeit werden oft mit dem Begriff Motivation verbunden.
Zudem wird in diversen Modellen zwischen extrinsischer und intrinsischer Motivation
bzw. Quellen der Motivation unterschieden.
Die der Motivation zugrundeliegenden Einzelitems finden sich bei den mentalen Faktoren
und den Einstellungen. Einstellungen bspw., die unzweifelhaft in das Gesamtkonzept
Motivation einfließen, können spezifiziert wesentlich differenzierter als Förderfaktoren
oder Barrieren wahrgenommen und Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Faktoren dargestellt
werden.
Die Frage, ob ein Mensch gewillt, bereit oder mental in der Lage ist, eine Rehabilitation
durchzuführen, ist unter Einbezug des Betroffenen vom Sachverständigen zu beurteilen.
Die ggf. zusammenfassende Erkenntnis in einer bestimmten Situation „Reha-Motivation
nicht gegeben“ darf nicht als PF missverstanden werden.
Vergleichbar komplex ist das Konstrukt der Selbstwirksamkeit, das in verschiedenen
Bereichen der Rehabilitation (z. B. der beruflichen Integration) eine zentrale Rolle
spielt. Selbstwirksamkeitsüberzeugungen, d. h. die Überzeugung gewisse Handlungen
ausführen und Ziele erreichen zu können, sind primär kognitiver Natur und können sich
im Rahmen von traumatischen Ereignissen (z. B. Querschnittlähmung) verändern. In der
DGSMP-Systematik sind sie daher im Teilkapitel „Einstellungen“ verortet. Gleichzeitig
ist Selbstwirksamkeit aber auch geprägt von eher überdauernden Merkmalen (z. B. hohes
Selbstvertrauen) und kann im Rahmen einer depressiven Symptomatik beeinträchtigt sein
(z. B. Wertlosigkeitsgefühle). Insofern ist Selbstwirksamkeit ein Konstrukt mit stabilen
und variablen Anteilen, das sich sowohl auf Ebene mentaler Funktionen als auch PF
manifestieren kann.
-
Kompetenzen
Zwischenzeitliche Diskussionen im Zusammenhang mit der deutschen Gesetzgebung (BTHG)
und hierbei insbesondere der Bedarfsermittlung von Teilhabeleistungen haben die Arbeitsgruppe
zu einer Schärfung des Begriffs „Kompetenzen“ bewogen.
Der 2010 gewählte Begriff der „Grundkompetenz“ als Kapitelüberschrift wurde erweitert
zu „Handlungskompetenz“, da Kompetenzen nicht nur auf der Grundlage von physischen
Potenzialen, kognitiven Begabungen und mentalen Talenten, sondern auch vom Wissenszuwachs
in den einzelnen Entwicklungsstufen abhängen.
Ein Zusammenhang zwischen Kompetenzen und Aktivitäten besteht insofern, als Kompetenz
einerseits das Ergebnis eines Lernprozesses ist, andererseits eine Grundlage für effektives
und effizientes Handeln bildet. Die Abgrenzung ergibt sich aus der unterschiedlichen
Perspektive: Aktivitäten fokussieren darauf, ob und in welchem Ausmaß eine bestimmte
Tätigkeit im Zusammenhang mit einem Gesundheitsproblem nicht oder nur unter Schwierigkeiten
ausgeführt werden kann. Kompetenz als PF bestimmt neben Umweltfaktoren und weiteren
PF die Qualität des Handelns. Kompetenzen können als Förderfaktor oder als Barriere
für Aktivitäten und Teilhabe wirken.
Eine Aphasie nach einem Schlaganfall würde beispielsweise zu einer Beeinträchtigung
der Aktivität Sprechen (d330) führen. Die Fähigkeit, sich grammatikalisch korrekt
und dem jeweiligen Kontext entsprechend auszudrücken, ist hingegen in der überabeiteten
Systematik unter „Sprachkompetenz“ (i431) zu verorten. Der Beschreibung der Kategorie
Sprachkompetenz liegt das Verständnis einer operationalen Sprachkompetenz zugrunde,
die neben der Kenntnis über die Regeln einer Sprache auch die Fertigkeit zur praktischen
Anwendung der Sprache einbezieht. Das Item Sprachliche Verständigung in der Systematik
von 2010 (i545) wurde umbenannt in Sprachkompetenz und demzufolge in Kapitel 4 „Handlungskompetenz“
verortet, da die Sprachkompetenz wesentlich zur Ausbildung sämtlicher Teilkompetenzen
von Handlungskompetenz, insbesondere dem Aufbau von Sach- und Sozialkompetenz, beiträgt.
Kapitel 5: Lebenslage
Als Lebenslage wird die Gesamtheit der äußeren Bedingungen bezeichnet, durch die das
Leben von Personen beeinflusst wird und innerhalb derer eine Person sich entsprechend
ihrem Handlungsspielraum entwickelt.
Durch Einbindung in meist mehrdimensionale soziale Bezüge, in denen sich Interessen
und Handlungsziele von Personen entwickeln, ergeben sich Spielräume oder Begrenzungen
für individuelle Handlungsmöglichkeiten (Output). Diese sind in der vorgelegten Systematik
als PF unter dem Begriff „Lebenslage“ zusammengefasst.
Davon abzugrenzen sind materielle und immaterielle Ressourcen wie Vermögenswerte oder
familiäre Unterstützung, also Umweltfaktoren im Sinne der ICF. Sie bilden Handlungsvoraussetzungen
(Input).
Während z. B. die technische Ausstattung einer Wohnung ein Umweltfaktor ist, stellt
das Wie und Wo man lebt einen PF dar.
Aus den Handlungsvoraussetzungen und Handlungsmöglichkeiten der Lebenslage resultieren
individuelle Einstellungen (Kap.4).
Kapitel 6 – Streichung
Die WHO hat den PF auch „Andere Gesundheitsprobleme“ zugeordnet, die nicht Teil des
aktuellen Gesundheitsproblems sind. Diese beziehen sich auf zurückliegende Krankheiten,
Gesundheitsstörungen, Verletzungen und Traumata. Sie werden in der vorliegenden Überarbeitung
nicht mehr aufgeführt, da ihre Auswirkungen im „Hier und Jetzt“, also im Sinne einer
finalen Betrachtungsweise auf unterschiedlichen Ebenen der ICF abgebildet werden können.
Diskussion
Der Ansatz der DGSMP-Systematik wurde unter Berücksichtigung zwischenzeitlich publizierter
Arbeiten, insbesondere der von Geyh et al. [3] und weiterer Rückmeldungen aktualisiert. Unter Beibehaltung der Grundprinzipien
wurden die Grundstruktur auf Konsistenz überprüft und neue Aspekte einbezogen. Einige
Kategorien wurden eingefügt, gestrichen, zusammengefasst, verschoben sowie redaktionell
oder inhaltlich überarbeitet. Zu einer grundlegenden Anpassung kam es nicht, die Grundstruktur
der Systematik blieb erhalten.
Der konzeptionelle Zugang der DGSMP zu PF und die Abgrenzung zu anderen ICF-Komponenten
PF sind in der Person liegende Faktoren, die in Wechselwirkung zu den anderen Komponenten
der ICF stehen können. Sie umfassen Gegebenheiten, die nicht Teil des Gesundheitsproblems
oder -zustands und nicht Teil der Umwelt sind. Personbezogene Faktoren klassifizieren
nicht Personen, sondern sind im Einzelfall bedeutsame Einflussfaktoren einer Person
auf deren Funktionsfähigkeit.
Zentral im DGSMP-Ansatz ist die finale Betrachtung der Funktionsfähigkeit als Ausdruck
eines Grundprinzips der ICF. Nicht die lebenszeitliche Entwicklung, sondern die Ausprägung
zum Beurteilungszeitpunkt wird betrachtet. So wird z. B. nicht der Bildungsprozess,
sondern dessen Ergebnis als Bildungsstatus in der ICF erfasst.
Die Betrachtung von PF bezieht sich auf den jeweils aktuellen Zeitpunkt (z. B. Begutachtung)
und berücksichtigt in der Regel überdauernde Gegebenheiten. Kurzfristige emotionale
Schwankungen werden nicht einbezogen.
In der Vergangenheit wurde kritisiert, dass fast wortgleiche Items in der DGSMP-Systematik
und der ICF-Komponente „Körperfunktionen“ die Abgrenzung der Komponenten voneinander
erschweren (insbesondere PF von mentalen Funktionen). Gemäß Geyh et al. [3] lassen sich Körperstrukturen, -funktionen und PF auf konzeptueller Ebene wie folgt
unterscheiden: Körperstrukturen bilden den Akteur (z. B. die Amygdala als das für
die Emotionen verantwortliche Hirnareal), Körperfunktionen den Prozess (z. B. emotionale
Funktionen) und personbezogene Faktoren das Ergebnis im Sinne der daraus entstehenden
Erfahrung (z. B. die Emotion Traurigkeit). Auf klinischer Ebene ergibt sich die Unterscheidung
in PF und Körperfunktionen aus der unterschiedlichen Perspektive. Betrachtet man bspw.
die Persönlichkeitseigenschaft „Optimismus“, so ist ihre für die Funktionsfähigkeit
als Förderfaktor oder Barriere bedeutsame Ausprägung ein PF. Betrachtet man hingegen
die Körperfunktion Optimismus, richtet sich der Fokus auf die Schädigung dieser Funktion.
Die Körperfunktion bewegt sich vorwiegend im biomedizinischen Modell von Normerwartung
und Abweichung.
Die Abgrenzung von PF zur ICF-Komponente „Aktivitäten & Partizipation“ lässt sich
anhand des PF „Gewohnheiten“ nachvollziehen. Aktivitäten beziehen sich auf die Durchführung
von Handlungen, während Gewohnheiten im Sinne von PF Verhaltensmuster beschreiben.
Nahrung zu sich zu nehmen, ist eine Aktivität. Sich ausschließlich vegetarisch zu
ernähren, ist eine Ernährungsgewohnheit und somit ein PF.
Die Abgrenzung von Teilhabe zu PF erschließt sich am Beispiel der Beschäftigung. Der
PF beschreibt den Status, bspw. Angestellter sein, während die Teilhabe der gesellschaftlichen
Einbindung in eine Bezahlte Tätigkeit entspricht.
Abgrenzungsfragen zwischen PF und Umweltfaktoren zeigen sich insbesondere im Kapitel
5 „Lebenslagen“. Während externe Gegebenheiten Umweltfaktoren darstellen, sind PF
in der Person liegende Merkmale. So bezieht sich der PF „Rechtlicher Status“ auf die
aus dem Rechtssystem resultierenden Rechte und Pflichten eines Individuums; das Rechtssystem
selbst ist ein Umweltfaktor.
Vergleich zwischen DGSMP-Entwurf und der Systematik nach Geyh
Bei der Revision der DGSMP-Systematik fand eine intensive Auseinandersetzung mit dem
Ansatz von Geyh et al. [3] statt. Beiden Ansätzen ist gemeinsam, dass sie generisch sind. Sie bieten eine klare
Konzeptualisierung der PF in Abgrenzung zu anderen ICF-Komponenten, erlauben eine
Gesamtschau auf PF und decken nicht nur Teilaspekte ab. Unterschiede bestehen indes,
weil der Ansatz von Geyh et al. auf einem systematischen Review der (insbesondere)
psychologischen Literatur sowie ICF-basierter Forschung basiert. Die DGSMP-Systematik
wurde primär mittels Expertenkonsensus erarbeitet und berücksichtigt die Forschungsliteratur
weniger systematisch. Geyhs Ziel war die Entwicklung eines auf den Klassifikationsprinzipien
der WHO basierenden umfassenden und detaillierten internationalen Rahmens zur Entwicklung
von Instrumenten für spezifische Anwendungsbereiche. Die DGSMP-Systematik wurde hingegen
für den deutschsprachigen Raum mit Fokus auf die (sozialmedizinische) Bedarfsermittlung
und Rehabilitation entwickelt.
Auch auf konzeptueller Ebene unterscheiden sich die beiden Ansätze. Die Systematik
nach Geyh et al. ist theoriegeleitet. Zudem ist sie psychologisch geprägt und beinhaltet
einen großen Anteil an psychologischen PF. Im Gegensatz zur eher praxisorientierten
DGSMP-Systematik nehmen bei Geyh et al. Faktoren zur Lebenssituation (z. B. berufliche
Situation) und körperliche PF (z. B. körperliche Veranlagungen) weniger bis keinen
Raum ein. Der Ansatz nach Geyh et al. klassifiziert sowohl stabile Faktoren (Traits
wie z. B. übergreifende Verhaltensmuster) als auch kurz- und mittelfristige psychische
Zustände (States wie z. B. Gefühle, Motive), während die DGSMP-Systematik aufgrund
ihres finalen Ansatzes primär überdauernde PF fokussiert.
Schließlich verwenden Geyh et al. für die Konzeptualisierung der PF einen Lebensspannenansatz,
der auch vergangene Erfahrungen berücksichtigt, während die DGSMP-Systematik einen
finalen Ansatz verwendet und daher ätiologische Aspekte nicht einbezieht.
Nutzung der Systematik
Die Systematik soll die Anwender bei der umfassenden Bedarfsermittlung sowie Planung
und Durchführung von Teilhabeleistungen unterstützen und sicherstellen, dass alle
relevante Aspekte im Zusammenhang mit den Auswirkungen eines Gesundheitsproblems strukturiert
berücksichtigt werden. Handlungsleitend ist hierbei, dass PF nur dann zu berücksichtigen
sind, wenn sie die Funktionsfähigkeit einer Person beeinflussen.
Vereinzelt vorgetragene grundsätzliche, datenschutzrechtliche Bedenken gegen eine
Systematik der PF teilen die Autoren nicht, da mit einer Strukturierung als solcher
keine Aussage darüber verbunden ist, welche Faktoren im Einzelfall relevant sind und
wie mit diesen verfahren wird. Auch nach Inkrafttreten der Datenschutzgrundverordnung
der Europäischen Union und der entsprechenden Umsetzungsgesetze gilt im deutschen
Sozialdatenschutzrecht weiterhin: Die Zulässigkeit einer Datenverarbeitung wird danach
beurteilt, ob sie im Einzelfall für die Erfüllung einer gesetzlichen Aufgabe erforderlich
ist.
Für die Rehabilitation hat der deutsche Gesetzgeber in § 14 Abs. 2 S. 1 SGB IX für
alle Leistungsbereiche verbindlich bestimmt, dass im Reha-Prozess eine Bedarfsfeststellung
„umfassend“ anhand der Instrumente der Bedarfsermittlung nach § 13 SGB IX zu erfolgen
hat. Diese Festschreibung ist gegenüber den für einzelne Leistungsträger geltenden
Spezialgesetzen abweichungsfest. Sie ist also als „Aufgabe“ im Sinne des Sozialdatenschutzrechts
zu qualifizieren. Die Frage, welche Informationen für die Erfüllung dieser Aufgabe
„erforderlich“ sind, ist maßgeblich aus fachlicher Sicht zu bestimmen – selbstverständlich
im jeweils gesetzlich vorgegebenen Rahmen. Als eine erste Stufe für die fachliche
Umsetzung der gesetzlichen Aufgabe „umfassende Bedarfsermittlung/-feststellung“ haben
die Reha-Träger in der Gemeinsamen Empfehlung „Reha-Prozess“ Grundsätze für Instrumente
der Bedarfsermittlung in einer Gemeinsamen Empfehlung konkretisiert (§§ 35–46) [16].
Diese Grundsätze bekräftigen die Bedeutung der ICF und auch der Kontextfaktoren. Die
Erhebung von PF im Rahmen der Bedarfsermittlung und -feststellung kann datenschutzrechtlich
grundsätzlich als unproblematisch angesehen werden. Die Zulässigkeit der Erhebung
und ggf. weiteren Verarbeitung von Kontextfaktoren bestimmt sich allerdings danach,
ob sie im Einzelfall zur Erfüllung der gesetzlichen Aufgabe „Bedarfsermittlung und
-feststellung“ erforderlich sind. Dies verantwortlich zu beurteilen, obliegt in erster
Linie der mit der Aufgabe der Bedarfsermittlung konkret betrauten Person. Sie hat
dabei die o.g. Grundsätze für die Bedarfsermittlung und den spezifischen gesetzlichen
Auftrag des jeweils verantwortlichen Trägers zu berücksichtigen.
Die überarbeitete DGSMP-Systematik der Personbezogenen Faktoren wird gestützt durch
die verstärkte Verankerung der ICF und des ihr zugrundeliegenden bio-psycho-sozialen
Modells im neuen trägerübergreifenden Recht des SGB IX. Diese Systematik soll es Nutzern
ermöglichen, relevante Einflüsse aus dem Lebenshintergrund einer Person strukturiert
zu beschreiben und zu dokumentieren.
Mit ihr können Einflüsse auf die Teilhabe eines Menschen auf Grundlage des bio-psycho-sozialen
Modells umfassend und transparent dargestellt werden. Dem Betroffenen selbst wird
damit der Weg zu einer justiziablen Leistungsallokation erleichtert. Insbesondere
in der Sozialmedizin, im Rehabilitationswesen sowie im (sozial-)rechtlichen Kontext
(SGB IX; UN-BRK) ist dieses Vorgehen anerkannt und Grundlage für das Handeln der jeweiligen
Akteure.
Die Anwendbarkeit und der Nutzen der vorliegenden Systematik sind in den nächsten
Jahren mittels Validierungsstudien im Kontext der Bedarfsermittlung und in Rehabilitations-
und Eingliederungsprozessen zu evaluieren.