Der Klinikarzt 2019; 48(10): 432
DOI: 10.1055/a-1018-8643
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Über- und Unterversorgung in der Onkologie: Off-Label-Use von experimentellen Krebsmedikamenten bei gleichzeitigem Fehlen von Standardtherapien

Günther J. Wiedemann
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Publication Date:
17 October 2019 (online)

Überversorgung sind diagnostische oder therapeutische Maßnahmen, die durchgeführt werden, obwohl sie nachweislich nicht nützlich oder sogar schädlich sind. Sowohl experimentelle wie zugelassene Krebsmedikamente sind aufgrund ihrer Wirkmechanismen immer auch schädlich, ihr Einsatz ist nur durch ein Überwiegen des Nutzens zu rechtfertigen. Dieser ist jedenfalls bei nicht zugelassenen Medikamenten nicht ausreichend bekannt. Dennoch werden sie gegeben, oft aufgrund von Patientendruck und wissenschaftlich faszinierender, aber klinisch ungeprüfter Vorstellungen.

In den USA fanden Radley und Mitarbeiter heraus, dass 73 % aller Off-Label-Verschreibungen in den USA ohne Evidenz einer klinischen Effektivität durchgeführt wurden und es bei knapp einem Drittel überhaupt keine Hinweise auf eine starke wissenschaftliche Evidenz gab (Radley DC, Finkelstein SN, Stafford RS. Arch Intern Med 2016; 166: 1021–1026). Entsprechend gering war der klinische Nutzen und bei kritischer Analyse im Nachhinein sprach das Verhältnis des Nutzens zum Schaden klar gegen die Verordnung von Off-Label-Medikamenten.

Auch ein weiteres essenzielles Problem der Krebsmedizin wurde in den USA identifiziert: die Unterversorgung mit zugelassenen, leitliniengerechten Krebsmedikamenten (Metzger ML, Billett A, Link MP. The impact of drug shortages on children with cancer – the example of mechlorethamine. N Engl J Med 2012; 367: 2461–2463).

Zu viel …

Auch in Deutschland gibt es Off-Label-Use; gleichzeitig fehlen regelmäßig essenzielle, leitliniengerechte Krebsmedikamente. Zugespitzt kann man sagen: Während in hohem Maße Ressourcen für nicht zugelassene, potenziell schädliche Therapien in palliativer Intention ver(sch)wendet werden, fehlen immer wieder Standardtherapeutika einer potenziell kurativen medikamentösen Behandlung. In einer Befragung der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin erklärten 44,5 % der über 4000 befragten DGIM-Mitglieder, dass sie mehrmals pro Woche Überversorgung beobachteten; 25,9 % machten diese Beobachtung sogar täglich. Als Hauptursache für die Überversorgung wurden die Sorge vor Behandlungsfehlern und Druck der Patienten genannt. Neben der Steigerung der Gesundheitsausgaben haben solche nicht indizierten Maßnahmen auch potenzielle Schäden und eine Verunsicherung der Patienten zur Folge.

Das gleiche gilt im Bereich der Diagnostik: Auch hier gibt es Tendenzen zur Überversorgung, beispielsweise bezüglich der molekularen Tumordiagnostik. Eine solche soll nur bei Patienten durchgeführt werden, bei denen dies eine relevante therapeutische Konsequenz hat. Leider erlebt man auch hier nicht selten, dass diese eigentlich selbstverständliche Grundvoraussetzung nicht beachtet wird.


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… und zu wenig

Lieferengpässe für die „alten“, jedoch potenziell kurativ wirksamen Therapeutika, haben neben den unmittelbaren Folgen für die Patienten auch weitere, mittelbare Folgen: Medikamente, die seltener zum Einsatz kommen (können), geraten in jüngeren Medizinergenerationen zunehmend in Vergessenheit, die darüber hinaus nicht selten innovative Arzneimittel allein aufgrund dessen, dass sie „neuer“ sind, per se für wirksamer halten. Hier geht auf Dauer womöglich ein ganzer kurativer Erfahrungsschatz verloren.

Damit dies nicht geschieht, haben wir auch dieses Jahr wieder ausgewiesene Experten gebeten, im klinikarzt innovative Therapien an den etablierten Standardtherapien zu messen.


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