Neonatologie Scan 2020; 09(02): 83-84
DOI: 10.1055/a-1078-2911
Editorial

Sensorische Bedürfnisse und pandemische Hygieneregeln

Axel Hübler
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Roland Hentschel
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Axel Hübler
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Roland Hentschel

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

die letzten Monate der Corona-Pandemie haben uns gezeigt, wie verwundbar wir sind, auch im hoch entwickelten Industriestandort Deutschland mit seinem exzellenten Gesundheitswesen. Die Beschränkungen zur Virus-Eindämmung trafen uns ebenso unvorhergesehen wie ein Frühgeborenes seine notfallmäßige und nicht zeitgerechte Entbindung. Und wir waren auf die plötzlichen Begrenzungen des gesellschaftlichen Lebens ebenso wenig vorbereitet wie ein Frühgeborenes auf die extrauterine Umgebung. Unvermindert haben in dieser Zeit alle im Krankenhaus Tätigen unter Berücksichtigung der teilweise unklaren Risikolage für andere und für sich selbst die ihnen anvertrauten Patienten betreut. Das ist eine großartige und dankenswerte Leistung!

Die zum Schutz vor COVID-19 eingeführten Umgangsregeln beeinflussen elementar die Form unserer Kommunikation sowie die Wahrnehmung unserer Mitmenschen und unserer Umgebung. Je länger dieser Zustand dauert, desto deutlicher wird uns allerdings auch, dass strengste Hygieneregeln unseren grundlegenden sensorischen Bedürfnissen widersprechen. In diesem Spannungsfeld bewegt sich auch die moderne Neonatologie: Einerseits gelten unsere Bemühungen dem Ziel, nosokomiale Infektionen zu verhindern. Andererseits bilden der zeitige Eltern-Kind-Kontakt, möglichst noch im Kreißsaal, sowie die gezielte Stimulation der Sinnesmodalitäten Elemente einer entwicklungsfördernden Behandlung, die sich positiv auf die Stabilisierung Risikoneugeborener auswirken. Diesem Balanceakt stellen wir uns jeden Tag.

Die kindliche Fähigkeit, Verhalten zu regulieren, entwickelt sich durch kontinuierliche Interaktion mit der Umwelt. Bei Reifgeborenen sind die neurobehavioralen Fähigkeiten für diese Wechselwirkung ausgereift und integriert. Frühgeborene sind dagegen nicht oder nur teilweise in der Lage, mit Umgebungseinflüssen umzugehen. Die Lebenssituation einer NICU hat sich dabei ein Risikoneugeborenes ebenso wenig ausgesucht wie wir die aktuellen Kontaktbeschränkungen. Darüber hinaus sind die kleinen Patienten zu 100 % von uns als professionellen Bezugspersonen abhängig.

Alle miteinander nehmen wir gerade sehr unmittelbar wahr, wie Änderungen von Umgebungsbedingungen Stress erzeugen können. Gründlicher als sonst gleichen wir aus Gründen des Selbst- und Fremdschutzes unsere taktilen, gustatorischen, olfaktorischen, auditiven und visuellen Aktionen mit der Umgebung ab. Vielleicht erlaubt uns diese schicksalhafte Erfahrung jedoch auch, die Bedeutung einer adäquaten sensorischen Stimulation Frühgeborener noch besser zu reflektieren und gezielter auf deren Bedürfnisse einzugehen. Im Gegensatz zu den Beschränkungen der Corona-Pandemie ist dies nicht unmittelbar von kurzfristigen gesellschaftlichen Schwankungen abhängig. Wir sind es, welche die Umgebungsbedingungen für unsere Patienten in der Neonatologie gestalten können, indem wir Einfluss auf die räumliche Situation nehmen, den Tagesablauf einschließlich der medizinischen Therapie organisieren und für einen signifikanten Teil der Interaktionen Verantwortung tragen.

Durch unseren täglichen Umgang mit perinatologischen Notfällen und der sich anschließenden, mitunter langwierigen und risikobehafteten Behandlung vulnerabler Frühgeborener wissen wir allerdings auch: Es wird dauern, gesellschaftliche Normalität wiederherzustellen, wie auch immer wir sie definieren. Nutzen wir die jetzige Zeit trotz aller Belastungen dafür, uns über die bestmöglichen Behandlungsstrategien der uns anvertrauten kleinen und kleinsten Patienten zu informieren. In diesem Zusammenhang bedanken wir uns auf das Herzlichste bei allen Kolleginnen und Kollegen, die mit ihren Beiträgen aktiv die nun vor Ihnen liegende neue Ausgabe der Neonatologie Scan mitgestaltet haben!

Ihre Herausgeber

PD Dr. med. Axel Hübler
Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin
Klinikum Chemnitz gGmbH

Prof. Dr. med. Roland Hentschel
Leiter des Funktionsbereichs Neonatologie/Intensivmedizin
Universitätsklinikum Freiburg



Publication History

Article published online:
27 May 2020

© Georg Thieme Verlag KG
Stuttgart · New York