„Trotz der Diagnose, die wir bekommen haben, fragen wir uns immer wieder, warum sich unser Sohn so komisch verhält“, „Wir warten seit Wochen auf eine Antwort bezüglich des Antrags des Schwerbehindertenausweises. Wieso dauert das so lange?”, „Die Schule unseres Kindes möchte keinen extra Integrationshelfer. Was können wir jetzt machen?“ Dies sind häufig wiederkehrende Aussagen von Eltern mit Kindern, die Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) haben. Sie äußern ihre Fragen und Anliegen in den psychoedukativen Elterngruppen, die ich regelmäßig anbiete. Diese finden in der Ambulanz der Kinder- und Jugendpsychiatrie der LVR-Klinik Viersen statt. Bereits vor meiner Tätigkeit in der kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtung habe ich in einer Praxis viele Kinder mit ASS behandelt. Hier fiel mir zum ersten Mal auf, dass sich viele Fragen der Familien in Bezug auf das Krankheitsbild, die Schulsituation oder Anträge wiederholten.
Daher habe ich im Jahr 2013 begonnen, eine Reihe von Elternabenden zu entwickeln. Sie haben das Ziel, den Familien die nötigen Informationen über die Diagnose, rechtliche Aspekte, aber auch praktische Tipps zu vermitteln. Im Rahmen meiner Masterarbeit im Jahr 2017 konnte ich die Zufriedenheit der Teilnehmer mit den Inhalten, der Didaktik und der Organisation dieses Angebotes evaluieren sowie Verbesserungsvorschläge sammeln und praktisch ausarbeiten. Dies führte zu der Reihe von fünf aufeinander aufbauenden Elternabenden, die ich als Ergotherapeut in der LVR-Klinik Viersen anbiete. Es ist mir ein Anliegen, Familien mit Kindern mit ASS bestmöglich zu unterstützen. Daher möchte ich andere Therapeuten dazu animieren, ähnliche Elternabende zu veranstalten.
Autismus-Spektrum-Störung
Autismus-Spektrum-Störung
In der fünften Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-V) wird die ASS als ein psychiatrisches Krankheitsbild aus der Kategorie der Entwicklungsstörungen bezeichnet. Sie kennzeichnet sich durch qualitative Auffälligkeiten in der sozialen Kommunikation sowie durch begrenzte und stereotype Verhaltensmuster und Aktivitäten [1]. Im deutschen Gesundheitssystem ist diese Störung nach der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) unter den sogenannten Subtypen „frühkindlicher Autismus“, „atypischer Autismus“ und „Asperger-Syndrom“ sowie den „nicht näher bezeichneten tiefgreifenden Entwicklungsstörungen“ bekannt [2]. Die Menschen mit Autismus, aber auch deren Familien erfahren aufgrund der Diagnose und den damit einhergehenden Besonderheiten einen besonders großen Leidensdruck, ein größeres Stresslevel sowie eine deutlich eingeschränkte Lebensqualität [3].
Psychoedukation
Insbesondere Eltern sind auf der Suche nach Informationen bezüglich Diagnose, Epidemiologie, Entwicklungsunterschieden sowie Behandlungsmöglichkeiten [4]. Durch die häufig erst spät gestellte Diagnose sowie verschiedene Differenzial- oder komorbide Diagnosen sind sie verunsichert, welche Informationen verlässlich sind. Sie machen sich häufig selber auf die Suche nach Informationen und Erklärungen, etwa im Internet, das als Quelle nicht verlässlich scheint [5], [6].
In der multidisziplinären AWMF-Leitlinie zu Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter werden psychoedukative Interventionen ausdrücklich empfohlen. Jedoch wird offen gelassen, in welcher Institution bzw. welchem Rahmen diese durchgeführt werden sollen [5]. Die psychoedukativen Elternabende versuchen, diese Lücke zu füllen. Sie sollen die nötige Kenntnis vermitteln, die Eltern zum Verständnis der Krankheit sowie zu den resultierenden rechtlichen und medizinischen Möglichkeiten haben. Ziel ist es, dass die Familien selbstbestimmter und selbstsicherer mit den alltäglichen Herausforderungen umgehen können.
Drei Säulen
Jeder der fünf Elternabende ist so konzipiert, dass er die drei Säulen Informationsvermittlung, Erfahrungsaustausch und Empfehlungen für weiterführende Literatur kombiniert ([ABB. 1]). Die Reihe der Elternabende in der LVR-Klinik besteht aus fünf aufeinander aufbauenden Einheiten, die zwei Mal pro Jahr angeboten werden. Derzeit findet ein Abend pro Monat statt, an dem rund 10 Familien teilnehmen. Die Treffen dauern zwischen 90 und 120 Minuten, abhängig von den Fragen und Bedürfnissen der Teilnehmer. Die Familien werden für alle fünf Abende eingeladen. Es kommt jedoch vor, dass einzelne Abende aufgrund von anderen Terminen oder des häuslichen Umfelds ausgelassen werden.
ABB. 1 Jeder Elternabend beinhaltet die drei Elemente Information, Austausch untereinander und weiterführende Literatur.
Abb.: www.durbandesign.de/Thieme Gruppe
-
Informationsvermittlung: Der größte Teil besteht aus den inhaltlichen Informationen. Anhand eines Handouts und von verschiedenen praktischen Übungen werden die theoretischen Inhalte mit den Eltern erarbeitet. Hierbei ist es wichtig, die teilweise komplizierten Sachverhalte einfach und verständlich darzustellen [7]. Dies erreiche ich durch viele Praxisbeispiele und einfache Übungen, mit denen sich die Eltern in die mögliche Gedankenwelt eines Menschen mit ASS hineinversetzen können ([ABB. 3], S. 42). So wird zum Beispiel das Bedürfnis nach Struktur und wiederkehrenden Elementen anhand des neurologischen Hintergrundes erklärt. Außerdem zeige ich wiederkehrende Elemente im Alltag der Eltern und mir auf (wie die Sitzordnung bei den Elternabenden) und verdeutliche so, dass eine gewisse Struktur für ein Wohlfühlen und das Freimachen von Kapazitäten für andere Aufgaben wichtig ist.
-
Erfahrungsaustausch: Ein zweiter wichtiger Bestandteil ist der gegenseitige Austausch unter den Teilnehmern [8]. Die Familien werden motiviert, von ihren eigenen Erfahrungen zu berichten und sowohl Probleme als auch Tipps in die Gruppe einzubringen. Hierbei besprechen sie nicht nur ihre Gefühle der Hilflosigkeit, sondern vergleichen auch mögliche Lösungsstrategien. Außerdem stehen bei den Gesprächen Strategien zur nötigen Abgrenzung und zum Selbstschutz im Zentrum [9]–[11]. Durch das Teilen ähnlicher Erfahrungen fühlen sich die Teilnehmer weniger gesellschaftlich isoliert und können erkennen, dass andere Eltern mit denselben Problemen konfrontiert sind [12], [13].
Um den Austausch innerhalb der Gruppe zu stimulieren, teile ich den Inhalt in kurze thematische Blöcke ein. Nach jedem Block gebe ich der Gruppe Zeit für Gespräche und motiviere die Familien, persönliche Erfahrungen zu beschreiben. So frage ich beispielsweise nach, ob die Eltern ihr Kind in der Beschreibung der Symptome erkennen, welche Behandlungsmethoden sie bereits kennengelernt haben oder welche Erfahrungen sie mit verschiedenen Schulformen gemacht haben. Häufig versuche ich, aufkommende Fragen zunächst an die anderen Teilnehmer weiterzugeben. Hierdurch fließen verschiedene Sichtweisen und Erfahrungen ein, und die Eltern besprechen individuelle Tipps. Häufig wünschen sie sich auch noch eine abschließende Zusammenfassung und Bestätigung durch den Therapeuten.
-
Weiterführende Materialien: Der dritte Kernaspekt der Elternabende ist die Besprechung empfehlenswerter und nützlicher Literatur bzw. Filmmaterialien. Um den Eltern die Möglichkeit zu geben, das erworbene Wissen zu vertiefen und aufzufrischen, stelle ich an jedem Abend verschiedene Bücher, Filme und Internetseiten vor [14].
Bei der Auswahl der Bücher achte ich auf inhaltlich korrekte und möglichst vollständige Darstellungen aus verschiedenen Perspektiven (Wissenschaftler, Therapeuten, Lehrer, Familien, Menschen mit ASS). Ich stelle sie den Familien vor, erzähle kurz etwas zum Inhalt beziehungsweise zur Relevanz und biete danach die Möglichkeit, einzelne Bücher bis zum nächsten Abend auszuleihen. Hierdurch können die Familien testen, ob sie mit den Inhalten etwas anfangen können, bevor sie selbst in neue Literatur investieren. Das Angebot stößt bisher bei allen teilnehmenden Familien auf positive Resonanz: Häufig werden die Titel der Bücher notiert oder direkt ausgeliehen. Des Weiteren gibt es immer wieder Familien, die eigene Literaturideen in die Gruppe einbringen und den Ideenpool somit bereichern.
Themenschwerpunkte
Die inhaltlichen Elemente sind in fünf aufeinander aufbauenden Einheiten untergebracht ([ABB. 2]). Sie orientieren sich an den Wünschen und Bedürfnissen der Familien. Die Themen wurden sowohl durch persönliche Gespräche als auch durch eine Literaturstudie inventarisiert. Besonders wichtig sind Informationen zum Krankheitsbild, zur Epidemiologie und zu den hieraus entstehenden Entwicklungsrückständen bzw. Schwierigkeiten im Alltag [4]. Außerdem fließen Themen zu spezifischen Situationen aus dem Alltag, der Schule und der Arbeit in die Elterngruppe ein [4]. Ein weiterer wichtiger Bestandteil sind rechtliche Aspekte sowie weiterführende Unterstützungs- und Selbsthilfeangebote, die es Menschen mit ASS und Angehörigen erleichtern, mit der Krankheit umzugehen [9], [15].
ABB. 2 Die Themen der psychoedukativen Elternabende sind über die Jahre gewachsen. Sie bilden das Gerüst, das an jedem Termin individuell nach den Wünschen der Eltern gefüllt wird.
Abb.: D. Wild; Umsetzung: www.durbandesign.de/Thieme Gruppe
ABB. 3 Bei dieser Aufgabe gibt es verschiedene Lösungsansätze: Die meisten Menschen sind geneigt, die jeweils zweite Figur von rechts senkrecht von oben nach unten zu umkreisen. Manch andere sehen aber die Vögel in der dritten Zeile aufgrund der Flugrichtung als Reihe, die von rechts nach links zu lesen ist, und umkreisen deshalb den zweiten Vogel von links.
Den Eltern soll anhand dieser Art von Aufgaben deutlich werden, dass es verschiedene Arten gibt, die Welt zu sehen, und dass ihre Kinder mit ASS oft den „unüblichen“ Weg gehen.
Abb.: D. Wild
Es ist essenziell, Platz für aktuelle Themen der Familien zu schaffen. Am Ende jedes Treffens biete ich daher die Möglichkeit, Themen für die nächste Einheit einzubringen. Diese bereite ich in der Zwischenzeit vor und bespreche sie am Anfang oder Ende des jeweiligen Blocks. In den letzten Jahren wurden die Inhalte zum Beispiel um komorbide Diagnosen oder Behandlungsansätze ergänzt. Auch das Thema Vormundschaft wurde auf Wunsch verschiedener Familien erst nachträglich zu den Inhalten hinzugefügt.
Um die genannten Inhalte möglichst anschaulich darzustellen, integriere ich verschiedene praktische Übungen in die Einheiten. So besprechen wir beispielsweise beim zweiten Elternabend anhand von kurzen Aufgaben verschiedene Denkweisen/Lösungsstrategien (ABB. 4). Diese dienen als Eye-Opener, um im Folgenden über die veränderten Denkweisen von Menschen mit Autismus und deren Einfluss auf den Alltag (wie direkte Kommunikation, deduktives Schlussfolgern) zu reden [16]. Dies lässt die Einheiten lebendiger werden und steigert die Aufmerksamkeit der Teilnehmer. Des Weiteren bringe ich immer wieder Erfahrungsberichte von Menschen mit Autismus ein.
Didaktische Herangehensweise
Didaktische Herangehensweise
Bei der Durchführung der psychoedukativen Gruppe nehme ich als Ergotherapeut verschiedene Rollen ein, die sich regelmäßig abwechseln. Primär bin ich der Sachverständige im Hinblick auf das Krankheitsbild sowie auf thera-peutische Aspekte [17]. Ich sollte in der Lage sein, die teilweise komplexen Sachverhalte verständlich zu erklären. Ebenso muss ich flexibel auf die Fragen und Bedürfnisse der Eltern eingehen und die Informationen individuell aufeinander abstimmen [4].
Ausgehend von der Theorie über Autismus animiere ich die Eltern dazu, eigene Fragen und Probleme einzubringen, aber auch selbst über Lösungen nachzudenken. Dabei entspricht mein Handeln der Rolle eines Coaches [17]. Gleichzeitig sollten auch die anderen Teilnehmer zum Austausch motiviert werden. Hierfür ist es ratsam, als Therapeut positiv verstärkend zu agieren und die individuellen Beiträge der Teilnehmer aufzugreifen und anzuerkennen [18]. Wichtig ist hierbei eine ruhige und sensible Grundhaltung [13]. Durch aktives Zuhören, positive Bestärkung, eine ressourcenorientierte Herangehensweise, Unterstützung positiver Zukunftsaussichten sowie Humor wird das Angebot attraktiv, und die Teilnehmer sind offener, sich der Gruppe mitzuteilen [10], [19]. Dabei werde ich mehr und mehr zum Moderator bzw. Motivator [17].
Positive Erfahrungen
Die Teilnehmer nehmen das Angebot der Elternabende sehr positiv auf und erfahren sie als deutliche Unterstützung. Sie gaben an, teilweise zum ersten Mal verständliche Informationen über die Krankheit und die damit verbundenen Schwierigkeiten ihrer Kinder zu bekommen und so deren Alltag besser verstehen und einschätzen zu können. Besonders die fachliche Begleitung sowie den inhaltlichen Austausch schätzen die Familien, da sie hierdurch unter anderem neue Tipps für den Alltag bekommen. Außerdem erfahren sie, dass sie nicht allein bestimmte Schwierigkeiten im Umgang mit ihren Kindern oder beispielsweise den Behörden haben. Viele geben an, dass sie sich für den weiteren selbstständigen Prozess gestärkt fühlen.
Hindernisse
Bei der Arbeit mit den Familien sind mir bisher zwei große Hindernisse begegnet. Zum einen die Finanzierung des Angebotes: Während die Elternabende innerhalb einer Einrichtung (zum Beispiel in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie) mit dem Therapiebudget abgerechnet werden können, stellt sich in ambulanten Praxen die Frage, ob die Elternabende von den Krankenkassen bezahlt werden können. Dies sollte man im Zweifelsfall mit den jeweiligen Kostenträgern abstimmen. Zum anderen fragte ich immer wieder, ob ich mir diese Form der Elternberatung inhaltlich zutraue. Hierbei war es hilfreich, die Abende in kleinen Schritten aufzubauen – von einem ersten Abend nur über das Krankheitsbild und Tipps zum Umgang über schulische Themen, empfehlenswerte Literatur bis hin zu rechtlichen Aspekten. Das Angebot hat sich im Laufe der Jahre entwickelt (und wird sich noch weiterentwickeln). Und auch ich bin mit dem Programm gewachsen.
Tipps entlasten Familien
In der aktuellen Leitlinie zu Autismus-Spektrum-Störungen gibt es zwar eine klare Empfehlung, ein psychoedukatives Angebot für Familien von Kindern mit ASS durchzuführen [5]. Allerdings wird nicht beschrieben, welche Berufsgruppe dies übernehmen soll. Ich möchte Ergotherapeuten ermutigen, ein solches Angebot zu integrieren. Durch die Vermittlung von theoretischen Informationen und praktischen Tipps kann man es Familien ermöglichen, ihren Alltag stressfreier und mit mehr Kapazitäten für die täglichen Aufgaben zu bewältigen.