Schlüsselwörter
Digital Public Health - Gerechtigkeit - nicht-intendierte Effekte - Prävention - Gesundheitsförderung
Key words
Digital Public Health - Equity - non-intended effects - prevention - health promotion
Einleitung
Der Wissenschaftsschwerpunkt Gesundheitswissenschaften ist einer von 6
Wissenschaftsschwerpunkten (WSP) der Universität Bremen. Das
übergeordnete Ziel des WSP Gesundheitswissenschaften besteht darin, mit
gezielter Forschung zu einem genaueren Verständnis von Gesundheit, Krankheit
und gesundheitlicher Versorgung beizutragen und damit wissenschaftliche Grundlagen
bereitzustellen, um die Gesundheit der Bevölkerung und die Qualität
der Versorgung zu verbessern. Ein Schwerpunkt des WSP in den nächsten Jahren
wird darin liegen, die Potenziale, Grenzen und Risiken der Digitalisierung in Public
Health zu untersuchen. Das vorliegende White Papier wurde als grundlegende
Positionsbestimmung in diesem dynamischen Themenfeld entwickelt. Zudem sollen
Schnittstellen und Ansatzpunkte der interdisziplinären Zusammenarbeit
identifiziert und Querverbindungen und Abgrenzungen zu Themen der Digitalisierung in
der Individualmedizin (Digital Health) aufgezeigt werden.
Das zentrale Anliegen von Public Health und damit auch des Wissenschaftsschwerpunkts
ist es, Nutzen und Effizienz gesundheitsbezogener Interventionen zu erforschen und
zu verbessern und dabei Selbstbestimmung und Beteiligung der Bevölkerung
sowie Verminderung von gesundheitlicher und sozialer Ungleichheit zu thematisieren.
Ausgehend hiervon werden im Folgenden zunächst Bewertungskriterien von
digitalen Technologien konkretisiert, die im Sinne und im Kontext von Public Health
eingesetzt werden. Mit Bezug auf diese Kriterien werden im Anschluss
Forschungsthemen und -bedarfe für die Ursachenforschung,
Gesundheitsförderung und Prävention sowie Versorgung und Pflege
abgeleitet.
Bewertungskriterien für Digital Public Health
Bewertungskriterien für Digital Public Health
Das zentrale Ziel von Digital Public Health ist es, die Verbesserung der Gesundheit
der Bevölkerung durch die Anwendung neuer Technologien auf individueller,
Community- und globaler Ebene voranzutreiben. Vor dem Hintergrund seiner
Grundsätze stellt der WSP folgende übergeordnete Kriterien zur
Bewertung derartiger Technologien in den Mittelpunkt der Forschung zu Digital Public
Health.
Effektivität und Effizienz
Gesundheitsbezogene, digital unterstützte Public Health Interventionen
sollten sich auf die besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse
stützen, damit sie zum Erreichen der Public Health-Ziele beitragen. Der
WSP macht es sich zur Aufgabe, die Evidenzbasis hinsichtlich des Nutzens
digitaler Technologien im Public Health Kontext zu untersuchen und in Bezug zu
den verwendeten Ressourcen zu setzen, um so auch Aussagen zur Effizienz
abzuleiten.
Gerechtigkeit
Gesundheitliche Gerechtigkeit ist ein zentrales Querschnittsthema der
Gesundheitsforschung in Bremen. Gesundheitsbezogene Technologien müssen
sich – den Nachweis des Nutzens vorausgesetzt – auch daran
messen lassen, welche Auswirkungen sie auf gesundheitliche Ungleichheit und
Gerechtigkeit haben. In den Forschungsprojekten des WSP werden diese
Auswirkungen untersucht und ggf. Bedingungen ermittelt, mit denen beim Einsatz
digitaler Technologien verhindert werden kann, dass sich bestehende
gesundheitliche Ungleichheiten durch unterschiedlichen Zugang zu und Expertise
im Umgang mit entsprechender Technik zwischen sozialen Gruppen
vergrößern.
Nicht-intendierte Effekte
Auch digitale Anwendungen sollen nicht nur daran bemessen werden, ob sie effektiv
und effizient sind und ob für beides hinreichende Nachweise vorliegen.
Vielmehr ist jeweils auch zu betrachten, ob und wenn ja, welche
nicht-intendierten negativen und ggf. auch positiven Effekte ausgelöst
werden. Im Zusammenhang mit Digital Public Health ist bspw. zu prüfen,
ob möglicherweise eine Zunahme an Fremdbestimmung und ein
gesellschaftlicher Druck zur gesundheitsschädlichen Selbstoptimierung
oder auch ein Verlust unmittelbarer persönlicher oder gruppenbezogener
Zuwendung und Interaktion festgestellt und wie diese unerwünschten
Effekte vermieden werden können. Dabei stellt sich mit Blick auf den
Klimawandel und den durch digitale Technologien verursachten Ressourcenverbrauch
auch die Frage nach ökologischen Dimensionen der Bewertung.
Forschungsthemen und -bedarf
Forschungsthemen und -bedarf
Digitalisierung und gesundheitsbezogene Ursachenforschung
Digitale Technologien werden vermehrt in der digitalen Epidemiologie eingesetzt
und unterstützen die Datenerhebung z. B. durch mobile Eingabe von Daten
oder durch Zuordnung von raumbezogenen Umweltdaten zu Individuen und Gruppen.
Sie gewinnen täglich an Bedeutung in der Verknüpfung
unterschiedlicher Datenquellen und der Analyse sehr großer, oft von
Personen mittels ihrer Mobiltelefone generierter gesundheitsbezogener Daten, die
häufig nicht primär für epidemiologische Studien erhoben
wurden [1]. Für die Zukunft ist abzusehen, dass digitale Technologien
auch die epidemiologische Ursachenforschung für
nichtübertragbare Erkrankungen prägen werden.
Neben Chancen bergen diese Entwicklungen auch Risiken, insbesondere das Risiko,
dass sich soziale Ungleichheiten in der Generierung von mobilen Daten (z. B.
durch schlechtere technologische Ausstattung von sozioökonomisch
benachteiligten Personen) verfestigen. Möglich ist auch, dass wichtige
Risikofaktoren, die sich mit digitalen Ansätzen weniger gut erfassen
oder messen lassen, auch weniger Beachtung erfahren. So gelingt es bisher
besser, medizinnahe oder von Individuen selbst ermittelte
Lebensstilrisikofaktoren mit digitalen Ansätzen zu erfassen als soziale
Determinanten von Gesundheit und Krankheit. Mögliche Fehlentwicklungen
durch entsprechende Verzerrungen müssen frühzeitig erkannt und
korrigiert werden.
Digitalisierung und
Prävention/Gesundheitsförderung
Für Prävention und Gesundheitsförderung bieten digitale
Technologien Möglichkeiten der breiten Dissemination von
Maßnahmen bei vergleichsweise geringen Kosten. Typische Bereiche sind
die Förderung körperlicher Aktivität und gesunder
Ernährung bzw. die Gesundheitskommunikation in Bezug auf Impfungen oder
Maßnahmen der Sekundärprävention. Da durch digitale
Technologien Daten in Echtzeit auch über die Auswirkungen der
Technologien auf die Nutzer/innen erhoben und ausgewertet werden
können, ergeben sich außerdem neue Möglichkeiten der
Nutzenmessung für Patient/innen und deren Versorgung.
Einschränkend ist allerdings in Rechnung zu stellen, dass viele der
App-basierten Angebote stark verhaltens- und nur wenig
verhältnisorientiert sind. Außerdem sollen Auswirkungen der
Unterschiede in der digitalen Gesundheitskompetenz [2] ebenso überprüft werden
wie der bisher vorliegende Befund der geringen längerfristigen
Wirksamkeit von Digital Public Health Interventionen. Die Evidenzbasis
für webbasierte und mobile Public Health-Maßnahmen der
Prävention und Gesundheitsförderung ist insgesamt noch gering.
Die hohe technologische Entwicklungsdynamik erschwert umfassende Evaluationen
und erfordert neue Vorgehensweisen, da bisher genutzte Methoden angesichts der
Schnelllebigkeit der Entwicklungen womöglich wenig geeignet sind.
Digitalisierung und Versorgungsforschung/Pflege
In den Bereichen gesundheitlicher Versorgung können 3 Schwerpunkte des
Einsatzes digitaler Technologien unterschieden werden: Informations- und
Kommunikationstechnologien, intelligente und vernetzte Robotik sowie vernetzte
Hilfs- und Monitoringsysteme [3].
Während Informations- und Kommunikationstechnologien (z. B.
elektronische Patientendokumentation, Krankenhausinformationssysteme) sowie die
Überwachung von Vitalparametern durch Monitoringsysteme schon
vergleichsweise weit verbreitet sind, befinden sich andere Anwendungsgebiete
digitaler Technologien, etwa altersgerechte Assistenzsysteme für ein
selbstbestimmtes Leben (AAL) oder Roboter, noch in der Erprobung [4].
Auch wenn die Potenziale der Digitalisierung zur Optimierung von
Versorgungsabläufen stellenweise erkennbar sind, manifestieren sich
Grenzen – neben fehlender Nutzennachweise – v. a. in
Implementationsblockaden, die darauf zurückzuführen sind, dass
die Entwicklung digitaler Unterstützungsangebote derzeit v. a.
technologiegetrieben und nicht hinreichend auf die vorhandenen Bedarfe und
Bedürfnisse sowohl von (älteren) versorgungsbedürftigen
Menschen als auch von Akteur/innen der gesundheitlichen Versorgung
abgestimmt ist. Insoweit Robotik menschliche Interaktion ersetzen soll,
eröffnet sich zudem ein Spannungsfeld zwischen zunehmend
individualisierender Technologieorientierung und direktem persönlichen
Austausch sowie dem gemeinschaftlichen gesundheitsbezogenen Engagement auf
lokaler, regionaler und globaler Ebene. Auch Risiken in Bezug auf Vereinzelung
und Vereinsamung und Vergrößerung sozialer Ungleichheiten sind
deutlich erkennbar.
Methodologische und methodische Herausforderungen
Methodologische und methodische Herausforderungen
Neben Forschungsfragen hat der WSP in der Diskussion von Potenzialen und Grenzen von
Digital Public Health einige zentrale, die Methodologie und die Methoden betreffende
Leitsätze identifiziert:
-
Ein transparentes, handlungsleitendes Rahmenkonzept mit gemeinsamen
Definitionen von Konzepten und Begrifflichkeiten zu Digital Public Health
ist für den von der interdisziplinären Public Health
Forschungsgemeinde aktiv vorangetriebenen Erkenntnisgewinn und die
Entwicklung des Gebietes von großer Bedeutung.
-
Auf eine Evidenzbasierung als Basis eines Einsatzes entsprechender
Technologien in Public Health kann nicht verzichtet werden, auch wenn die
Entwicklung von Interventionsansätzen äußerst
schnelllebig ist.
-
Es sind Konzepte zu entwickeln, die angemessene Datensicherheit und
höchsten Datenschutz insbesondere bei breitgefächerten,
viele Menschen einbeziehenden Digital Public Health Anwendungen
gewährleisten können.
-
Digital Public Health sollte gemeinsam mit Bürgerinnen und
Bürgern erforscht werden. Die partizipative Forschung ist nach dem
Verständnis des WSP die Voraussetzung dafür, im Bereich
Digital Public Health gültige und relevante Antworten auf Public
Health-Forschungsfragen zu finden.
Ausblick, Strukturen und Forschungsleitgedanken
Ausblick, Strukturen und Forschungsleitgedanken
Der WSP Gesundheitswissenschaften räumt Digital Public Health einen wichtigen
Platz in seiner Forschung ein. Um die Forschung auf diesem Gebiet zu intensivieren,
hat der WSP mit dem Leibniz WissenschaftsCampus Digital Public Health Bremen (LWC
DiPH) in Kooperation mit vielen inner- und außeruniversitären
Mitwirkenden eine innovative und flexible Forschungsplattform geschaffen, die sich
in 4 Forschungsclustern mit einer breiten Spanne von Aspekten von Digital Public
Health beschäftigt.
Zusammenfassend bestehen die Ziele der international ausgerichteten Bremer Forschung
zu Digital Public Health darin, die offensichtlichen Potenziale für Public
Health genauer zu erforschen und zu optimieren. Dabei soll eine transparente und
interdisziplinär angelegte Analyse und Bewertung von Risiken hohen
Stellenwert erhalten. Mit Digital Public Health verbundene Risiken sollen
tiefergehend untersucht und Konzepte zur Reduzierung der Risiken entwickelt und
evaluiert werden. Diese Forschungsaktivitäten orientieren sich an den
übergeordneten Grundsätzen von Public Health, wonach die Analyse von
Ursachen und die darauf aufbauende Verbesserung der Gesundheit unter
Berücksichtigung von Evidenz, Gerechtigkeit und vorhandenen Ressourcen
angestrebt werden.
Eine Langversion dieses White Paper findet sich unter http://www.healthsciences.uni-bremen.de/