Klinischer Fall
Aus der Urteilsbegründung des Oberlandesgerichtes München [1] ergab sich folgender Krankheits- und Behandlungsverlauf:
Der Patient und Kläger stellte sich dem beklagten Hautarzt wegen einiger Muttermale am Rücken vor. Im Bereich des linken oberen Rückens befand sich ein Pigmentmal, das eine Größe von ca. 4 – 5 mm und eine Tiefe von 1 mm aufwies. Der Hautarzt entfernte unter Lokalanästhesie das Muttermal und verschloss die Wunde mittels einer Verschiebe-/Rotationslappenplastik mit Burrow-Gegendreiecken. Eine Nachbehandlung erfolgte über 2 Monate.
Nachdem der Patient die Rechnung über eine vereinbarte Zuzahlung nicht beglichen hatte und der Hautarzt mahnte, wies der Patient die Mahnung mit folgender Begründung zurück:
„Nach Aussagen mehrerer Ihrer Kollegen aus dem Bekanntenkreis erscheint das Ausmaß des operativen Eingriffs an meinem Rücken weit überzogen. Mit dem Heilungsprozess habe ich noch heute Schwierigkeiten. [...] Den zurückbehaltenen Betrag von 161,06 EUR betrachte ich als bescheidenes ‚Trostpflaster‛ für die erheblichen Nachwirkungen Ihrer Behandlung.“
Der Rechnungsbetrag wurde vom Hautarzt daraufhin nicht weiter geltend gemacht.
Erst 5 Jahre später entschloss sich der Patient nach Hinweisen seiner Nachbehandler, Schadensersatzansprüche wegen Behandlungs- und Aufklärungsfehlern gegen den Hautarzt zivilgerichtlich geltend zu machen.
Beanstandung der ärztlichen Maßnahmen
Der Patient und Kläger vor dem Landgericht trug vor, er sei fehlerhaft behandelt worden. Der Eingriff sei nicht indiziert gewesen. Die Schnittführung habe eine zu große Narbe herbeigeführt, und die Wundnachsorge sei fehlerhaft erfolgt. Die Einrede der Verjährung greife nicht durch, da er die erforderliche sichere Kenntnis von einem ärztlichen Behandlungsfehler frühestens mit Ablauf des Jahres vor Klageeinreichung erhalten habe, als die Nachbehandler den konkreten Verdacht eines Behandlungs-/Aufklärungsfehlers gegenüber dem Kläger erstmals geäußert hätten. Allein die Aussage von Ärzten aus dem Bekanntenkreis des Klägers, dass das Ausmaß des operativen Eingriffs weit überzogen „erscheine“, könne eine die Verjährungsfrist auslösende Kenntnis der hier im Raum stehenden Klage der Abweichung vom medizinischen Standard nicht begründen. Auch bez. der Aufklärung gelte, dass er erst 5 Jahre nach der Behandlung von den Aufklärungsmangel begründenden Umständen Kenntnis erlangt habe.
Stellungnahme des behandelnden Hautarztes
Stellungnahme des behandelnden Hautarztes
Der Hautarzt ließ vortragen, die Ansprüche seien verjährt. Der Kläger habe sich bei ihm bereits im Jahr nach der Behandlung wegen eines Schadensersatzanspruchs für die Behandlung gemeldet, mit dem er gegen seine Honorarforderung aufgerechnet habe. Im Übrigen sei die Behandlung lege artis erfolgt.
Erstinstanzliches Urteil durch das Landgericht
Erstinstanzliches Urteil durch das Landgericht
Das Landgericht wies die Klage als unbegründet ab und begründete dies damit, soweit der Sachverständige hinsichtlich der Größe der Narbe einen Behandlungsfehler bejaht habe, sei der Anspruch verjährt.
Berufungsverfahren vor dem Oberlandesgericht
Berufungsverfahren vor dem Oberlandesgericht
Das Oberlandesgericht gab der Berufungsklage jedoch statt und führte aus:
„Der Sachverständige hat zunächst dargelegt, dass er aufgrund des von ihm nochmals histologisch untersuchten entfernten Muttermals von einem Durchmesser von etwa 5 mm und einer Tiefe von 1 mm ausgeht. Er schilderte weiter, dass nach den Leitlinien ein Sicherheitsabstand von mindestens 5 mm und für den Fall eindeutiger Hinweise auf Bösartigkeit von 10 mm einzuhalten ist, sodass sich ein Durchmesser von 15 mm bzw. 25 mm ergeben hätte. Bei der zweiten Alternative würde dann die Narbenlänge 75 mm betragen. Er erklärte weiter, dass ausweislich des Operationsberichts der Hautarzt des Beklagten eine Lappenplastik durchgeführt hat und bei einer Lappenplastik die Narbe länger wird, da eine Hautverschiebung durchgeführt werden muss. Er vertrat die Auffassung, dass bei einem Muttermal von 5 mm Umfang diese Vorgehensweise unverständlich ist und er diese auch nicht nachvollziehen kann. Er erklärte weiter, dass gerade auf dem Rücken viel Haut für eine Dehnplastik zur Verfügung steht und dass der Schnitt auch deshalb möglichst klein sein soll, um die Wächter-Lymphknotenuntersuchung nicht zu erschweren. Die Ausführungen des Sachverständigen können nicht anders verstanden werden, als dass er die gewählte Wundverschlussmethode und die gewählte Schnittführung als einen Verstoß gegen den Facharztstandard bewertet und dies mit den Worten ‚nicht nachvollziehbar‛ und ‚unverständlich‛ auch klar zum Ausdruck gebracht hat.“
Die Einrede der Verjährung durch den Hautarzt wies das Oberlandesgericht ebenfalls zurück und verwies auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes: „Nach der Rechtsprechung des BGH kann die Kenntnis vom Schaden i. S. d. § 199 Abs. 2 Nr. 2 BGB nicht schon dann bejaht werden, wenn dem Patienten lediglich der negative Ausgang der ärztlichen Behandlung bekannt ist. Denn das Ausbleiben des Erfolgs ärztlicher Maßnahmen kann in der Eigenart der Erkrankung oder in der Unzulänglichkeit ärztlicher Bemühungen seinen Grund haben. Deshalb gehört nach der Rechtsprechung des BGH zur Kenntnis der den Anspruch begründenden Tatsachen das Wissen, dass sich in dem Misslingen der ärztlichen Tätigkeit das Behandlungs- und nicht das Krankheitsrisiko verwirklicht, wobei es hierzu nicht schon genügt, dass der Patient Einzelheiten des ärztlichen Tuns oder Unterlassens kennt. Vielmehr muss ihm aus seiner Laiensicht der Stellenwert des ärztlichen Vorgehens für den Behandlungserfolg bewusst sein. Deshalb beginnt die Verjährungsfrist nicht zu laufen, bevor nicht der Patient als medizinischer Laie Kenntnis von Tatsachen erlangt, aus denen sich ergibt, dass der Arzt von dem üblichen ärztlichen Vorgehen abgewichen war oder Maßnahmen nicht getroffen hatte, die nach ärztlichem Standard zur Vermeidung oder Beherrschung von Komplikationen erforderlich gewesen wären.“
Medizinische und rechtliche Interpretation
Medizinische und rechtliche Interpretation
Der dargestellte Fall ist in zweierlei Hinsicht von Interesse, und zwar bez. der konkreten Behandlung aus medizinischer Sicht und bez. der Verjährung aus rechtlicher Sicht.
Eine frühe Diagnose und operative Therapie eines Melanoms ist entscheidend für die Prävention klinisch progredienter Verläufe, da Melanome mit niedriger Eindringtiefe nach Breslow eine signifikant bessere Prognose aufweisen. Zahlreiche Studien zur Melanomprävention mittels Exzision suspekter melanozytärer Naevuszellnaevi ([Abb. 1]) zeigen jedoch anhand mehrerer Indikatoren, dass es Faktoren gibt, die den Anteil der unnötig behandelten Läsionen erhöhen [2]. Ein mit Sicherheit benigner Naevuszellnaevus bedarf keiner operativen Therapie, es sei denn aus kosmetischen Gründen. Im vorliegenden Fall hielt der Hautarzt die entfernte Pigmentläsion offensichtlich für klinisch „verdächtig“, d. h., er konnte ein malignes Melanom nicht mit Sicherheit ausschließen und entschied sich zur Exzision und histologischen Untersuchung der Läsion. Dieses Vorgehen ist bei einem, wenn auch geringen, Verdacht auf ein malignes Melanom leitliniengerecht, denn die aktuelle Leitlinie betont, dass die chirurgische Exzision die einzige kurative Behandlung des Melanoms ist und dass bei klinischem Verdacht oder der histologischen Diagnose eines In-situ-Melanoms oder einer Lentigo maligna eine komplette Exzision erfolgen soll, um ein fortschreitendes Wachstum und damit den Übergang in ein invasives malignes Melanom zu verhindern [3]. Liegt ein malignes Melanom vor, sollte ein Sicherheitsabstand in Abhängigkeit von der Tumordicke nach Breslow gewählt werden – bis zu 2 mm 1 cm, darüber 2 cm. Ist ein malignes Melanom nicht gesichert, empfiehlt sich die R0-Exzision und ggf. die Nachexzision zur Erreichung des empfohlenen Sicherheitsabstands. Der „vorsichtige“ Hautarzt hat im beschriebenen Fall möglicherweise prima vista den maximalen Sicherheitsabstand von 2 cm zu jeder Seite der kleinen Läsion (Durchmesser 0.5 cm) eingehalten und musste diesen bei einem so entstandenen Defekt von über 4 cm im Durchmesser dann mit einer Lappenplastik decken.
Abb. 1 Dysplastischer Naevuszellnaevus (nicht aktuell vorgestellter Fall).
Bez. des medizinischen Tatbestandes hat sich das OLG München – basierend auf dem ihm vorliegenden Sachverständigengutachten – festgelegt, dass eine Lappenplastik nach Entfernung eines „bedenklichen“ Muttermals von nur 5 mm Durchmesser aus medizinischer Sicht unverständlich und nicht nachvollziehbar ist – es handelte sich im Ergebnis um eine Narbe von 16 cm Länge, wobei der von dem Sachverständigen befürwortete Wundverschluss mittels Dehnungsplastik eine Narbe von nur ca. 75 mm zur Folge gehabt hätte.
Das – allgemein nach Facharztstandard übliche – zweizeitige Vorgehen bei klinisch auffälligen Naevuszellnaevi ohne sichere Melanomdiagnose erfährt so eine richterliche Billigung.
Der rechtlich wichtige Aspekt des Falles betrifft die Verjährung, auf die sich der Hautarzt berufen hatte, nachdem der Patient seine Behandlung reklamiert und die Zahlung der Rechnung verweigert hatte. Eine spezielle Verjährungsfrist für ärztliche Behandlungsfehler gibt es nicht; es greift die regelmäßige Verjährung im Zivilrecht von 3 Jahren. 5 Jahre nach der Kenntnis des Behandlungsfehlers durch den Patienten wäre ein Anspruch auf Schadensersatz und Schmerzensgeld also verjährt gewesen. Allerdings muss die Kenntnis des Patienten von einem Behandlungsfehler eindeutig sein. Allein der Umstand, dass Ärzte aus dem Bekanntenkreis des Patienten das Ausmaß des Eingriffs nicht nachvollziehen konnten, bedeutet demnach nicht, dass dem Patienten bewusst gewesen sein muss, dass seine Narbenbildung behandlungsfehlerhaft herbeigeführt wurde; daher begann die Verjährungsfrist erst zu laufen, als ihn nachbehandelnde Fachärzte auf die aus ihrer Sicht fehlerhafte Behandlung aufmerksam machten. Für Dermatologen bedeutet dies umgekehrt, dass es keine „sichere“ Frist nach einer Behandlung gibt, nach der sie nicht mehr mit Behandlungsfehlervorwürfen rechnen müssen. Allerdings stößt die dem Patienten zivilrechtlich obliegende Beweispflicht für einen Behandlungsfehler insofern an Grenzen, als sich nach § 630f BGB eine Aufbewahrungspflicht des Arztes für die Patientenakte für die Dauer von 10 Jahren nach Abschluss der Behandlung ergibt, soweit nicht nach anderen Vorschriften andere Aufbewahrungsfristen gelten. Auch der Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) und die Berufsordnung für Ärzte schreiben eine 10-jährige Aufbewahrungsfrist vor. Eine – statthafte – Vernichtung der Patientenakte durch den Arzt nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist kann einen Patienten bei späten Behandlungsfehlervorwürfen daher vor Beweisprobleme stellen.
Leitliniengerecht sollten Dermatologen in einem zweizeitigen Vorgehen klinisch suspekte Naevuszellnaevi eng umschrieben exzidieren und erst bei Vorliegen eines dermatohistologisch nachgewiesenen malignen Melanoms eine Nachexzision mit den empfohlenen Sicherheitsabständen von 1 – 2 cm und dann entsprechend erforderlicher Defektdeckung durchführen. Die Verjährungsfrist von 3 Jahren nach ärztlichen Behandlungsfehlern beginnt erst dann, wenn der Patient Kenntnis von Tatsachen erlangt, aus denen sich ergibt, dass der Arzt von dem üblichen ärztlichen Vorgehen abgewichen war oder Maßnahmen nicht getroffen hatte, die nach ärztlichem Standard zur Vermeidung oder Beherrschung von Komplikationen erforderlich gewesen wären.