Keywords
Ethnomedizin - Ethnologie - Schamanismus - Kulturexport - Ethnozentrismus - Ayahuasca
- psilocybinhaltige Pilze - Psilocybin - Magic Mushrooms - Trance - heilen - indigen
„Das zunehmende Unbehagen in unserer Gesellschaft gegenüber Konzepten und Behandlungsmethoden
des wissenschaftlich-medizinischen Establishments führt unter Patienten zu einer seit
Jahren steigenden Nachfrage nach alternativen Heilverfahren und veranlasst einige
Therapeutenkreise zu entsprechenden Angeboten, wobei teils auch explizit schamanische
Behandlungsansätze angepriesen werden“, beobachtet Dr. med. Michael Schlichting. Doch
welche Risiken verbergen sich hinter dem Import von indigenen Heiltechniken, herausgelöst
aus ihrem kulturellen und rituellen Kontext? Dieser zentralen Frage gehen er und die
Interviewerin Dr. Claudia Müller-Ebeling nach.
Michael, wir kennen uns seit Mitte der 1980er-Jahre, als wir Mitglieder im Europäischen
Collegium für Bewusstseinsforschung (ECBS) (Anmerkung der Redaktion: siehe Kasten)
waren und gemeinsam Symposien und Kongresse organisierten, Du als Sekretär im Vorstand
und ich im wissenschaftlichen Beirat. Du bist gut vertraut mit therapeutischen Kreisen
und diversen Forschungen, die auch ethnomedizinische Ansätze berücksichtigen. Welche
schamanischen Behandlungsansätze hast Du im Sinn? Kannst Du ein Beispiel nennen?
Einen Schwerpunkt der Bestrebungen des ECBS bildeten ethnomedizinische Studien über
die Induktion tranceartiger Bewusstseinszustände im Rahmen indigener Heilrituale –
sei es durch Trommeln, Tanz, Gesänge, Schlafentzug oder durch den traditionellen Gebrauch
einheimischer psychoaktiver Pilze und Pflanzenmischungen, um unter der Leitung eines
Schamanen eine Verbindung mit der Jenseits-Welt herzustellen und Hinweise zu empfangen
für die Lösung individueller oder kollektiver Probleme. Besondere Bekanntheit haben
zum Beispiel der Gebrauch der heiligen Pilze in den Heilritualen der Mazateken-Schamanin
Maria Sabina in Mexiko und die Ayahuasca-Sitzungen indigener Schamanenkulturen in
Peru erreicht. Die Folge war, dass sich auch einige abenteuersuchende Touristen aus
Europa und Nordamerika für diese Heilrituale interessierten und daran teilnahmen.
Manche von ihnen berichteten anschließend emphatisch von ihren tiefgründigen Erlebnissen.
Sie empfanden ihre Teilnahme an diesen indigenen Heilzeremonien teilweise als eine
Art Berufung oder Initiation und suchten nach ihrer Rückkehr nach Möglichkeiten, auch
hier entsprechende psychoaktive Pilze oder Pflanzenmischungen in einem therapeutischen
Kontext anzuwenden.
Abb. 1 Psilocybinhaltige Pilze: In indigenen kulturellen und rituellen Kontexten können
sie ihre volle heilige und heilsame Kraft entfalten. In der westlichen Welt werden
sie in der Regel auf ihre psychotrope Wirkung reduziert genutzt – und so nicht nur
zum rechtlichen, sondern auch gesundheitlichen Risiko (Symbolbild). © Alexander /
stock.adobe.com
Wann ist es problematisch, einzelne Behandlungselemente aus dem spezifischen Kontext
ihrer Herkunftskultur zu isolieren und sie als bloße Technik mit unserer anderen westlichen
Weltanschauung zu vermischen? Weshalb ist der kulturelle Kontext elementar für eine
mögliche Heilung?
Das Herauslösen einzelner Behandlungselemente aus ihrem kulturellen und rituellen
Zusammenhang und ihre Verwendung in einem gänzlich anderen Kontext kann dazu führen,
dass zum Beispiel die in einigen indigenen Heilritualen verwendeten heiligen Pilze
oder Ayahuasca-Pflanzenmischungen nicht mehr als Repräsentanten der geistigen Welt
der Indigenen erlebt und verstanden werden. Sie werden dann gemäß unserer westlich-positivistischen
Weltanschauung auf ihre psychotropen Wirkeigenschaften reduziert und nur noch wie
ein Medikament oder eine Droge konsumiert, um die Psyche des isolierten, von der inneren
und äußeren Natur weitgehend entfremdeten Individuums zu beeinflussen. Das kann in
einigen Fällen erlebnisintensiv sein, ist aber eben nicht mehr das Gleiche wie bei
der traditionellen Anwendung im Kontext der Herkunftskultur dieser Pilze und Pflanzen.
Deren spezielle Sprache und Botschaften werden von vielen westlichen Anwendern häufig
nicht richtig verstanden. Dadurch kann dann auch der therapeutische Nutzen verfehlt
werden: Denn er kann sich nur bei Einbettung dieser Pilze oder Pflanzen in den rituellen
Kontext ihrer Herkunftskultur und unter sachkundiger Anleitung eines erfahrenen Schamanen
voll entfalten.
Das Europäische Collegium für Bewusstseinsstudien
Das 1985 von Hanscarl Leuner und Albert Hofmann gegründete Europäische Collegium für
Bewusstseinsstudien (ECBS) war ein multidisziplinäres Forum verschiedener Fachrichtungen,
das sich der Erforschung von veränderten Bewusstseinszuständen widmete und deren therapeutische
Anwendungsmöglichkeiten diskutierte.
Du sagtest einmal, beim Import schamanischer Heilmethoden müsse beachtet werden, dass
dies möglicherweise gegen geltende Rechtsvorschriften, zum Beispiel das Arzneimittelgesetz,
verstößt. Insbesondere, wenn die importierten Methoden den Gebrauch biologischer Wirkstoffe
zur innerlichen oder auch nur äußerlichen Anwendung beinhalten …
Ja, das ist richtig. In den hier beispielhaft genannten Pilzen ist als psychoaktiver
Wirkstoff das natürliche Alkaloid Psilocybin enthalten. Die Ayahuasca-Pflanzenmischungen
wiederum enthalten das Halluzinogen Dimethyltryptamin (DMT). Diese Substanzen gelten
gemäß dem Betäubungsmittelgesetz als nicht verkehrsfähig, und ihre Anwendung – zu
welchem Zweck, mit welcher Intention und in welchem Kontext auch immer – ist verboten
und wird strafrechtlich verfolgt.
Unabhängig davon müssen beim Gebrauch jeglicher – auch nicht dem Betäubungsmittelgesetz
unterstehender – Substanzen in einem westlich-therapeutischen oder neo-schamanischen
Kontext auch die Rechtsvorschriften des Arzneimittelgesetzes (AMG) beachtet werden.
Das AMG dient dem Verbraucherschutz und soll insbesondere den Schutz der Menschen
vor möglichen Gesundheitsschäden durch nicht oder nur unzureichend auf Qualität, Wirksamkeit
und Unbedenklichkeit geprüfte Stoffe gewährleisten. Nach der Arzneimitteldefinition
des AMG stellt auch jegliches (zum Beispiel aus indigenen Kulturen importierte) pflanzliche
oder andere Heilmittel, in welcher Zubereitungsform auch immer, ein Arzneimittel dar.
Als solches muss es sämtliche Phasen der klinischen Prüfung gemäß AMG durchlaufen
haben und zur Anwendung bei Menschen amtlich zugelassen sein. Das ist bei den Heilmitteln
außereuropäischer indigener Kulturen in der Regel nicht der Fall – sofern sie nicht
bereits von der westlichen Pharmaindustrie gekapert wurden und als Medikament oder
Nahrungsergänzungsmittel vermarktet werden wie zum Beispiel Extrakte aus Ginkgo, Kava
Kava und Maca.
In schamanisch geprägten außereuropäischen Gesellschaften gelten zum Beispiel bewusstseinsverändernde
Pilze, der San Pedro-Kaktus oder das Ayahuascagebräu als probate und anerkannte Heilmittel
mit langer kultureller Tradition und rituellem Gebrauch. In unseren Breitengraden
führt ihr illegaler Status jedoch dazu, dass das nicht nur die Patienten verunsichert
und sie möglicherweise unbekannten Gesundheitsrisiken aussetzt. Auch die verantwortlichen
Therapeuten – selbst die wohlmeinenden und gut informierten unter ihnen – gehen dabei
hohe Risiken ein. Welche gesundheitlichen Risiken gäbe es möglicherweise?
Psilocybinhaltige Pilze, der meskalinhaltige San-Pedro-Kaktus, DMT-haltige Ayahuasca-Pflanzenmischungen
und andere psychoaktive Substanzen wirken immer auf den ganzen menschlichen Organismus.
Sie können bei nicht fachgerechter Anwendung, bei falscher Dosierung oder auch in
einem ungeeigneten Setting zu einer gesundheitsgefährdenden Beeinträchtigung sowohl
körperlicher als auch psychischer Funktionen führen, insbesondere bei vorbestehenden
somatischen oder psychischen Erkrankungen. Diese werden durch den Gebrauch der psychoaktiven
Substanzen eben nicht automatisch oder auf magische Weise geheilt, sondern können
sich unter Umständen sogar verschlimmern. Als Kontraindikation für ihren Gebrauch
müssen alle ernsthaften internistischen und neurologischen Erkrankungen sowie psychotische
oder wahnhafte Störungen, schwere affektive – also depressive, manische oder bipolare
– Störungen, schwere Angsterkrankungen, schwere Persönlichkeitsstörungen oder auch
eine vorbestehende Suchtmittelproblematik angesehen werden. Besondere Vorsicht ist
darüber hinaus geboten bei regelmäßiger Einnahme von Medikamenten, da es möglicherweise
zu unvorhersehbaren Wechselwirkungen kommt. Auch sollte bei einer Schwangerschaft
vom Gebrauch psychoaktiver Substanzen unbedingt abgesehen werden.
Was ist mit der Wirkung der genannten psychoaktiven Substanzen auf die Psyche? Kann
es nicht sein, dass unter ihrer Einwirkung auf das Nerven- und Gesamtsystem psychische
Anteile und Unbewusstes zu Tage treten, auf die Klienten nicht vorbereitet und für
die Therapeuten nicht geschult sind?
Dies ist ein wichtiger Hinweis. Halluzinogene und andere ähnlich wirkende psychoaktive
Substanzen induzieren einen passageren außergewöhnlichen Bewusstseinszustand mit erhöhter
innerer Reizproduktion und veränderter kognitiver Informationsverarbeitung, einhergehend
mit Veränderungen der Wahrnehmung, des Denkens und des Selbsterlebens sowie einer
Aktivierung von ansonsten unterschwelligen oder verdrängten beziehungsweise unbewussten
Erlebnisinhalten. Dies wurde zum Beispiel in den 1950er- bis 1980er-Jahren von der
Psycholytischen Therapie zur Intensivierung und Vertiefung des therapeutischen Erkenntnisund
Veränderungsprozesses genutzt. Man setzte hierfür LSD oder ähnlich wirkende psychoaktive
Substanzen als Hilfsmittel in der Psychotherapie von neurotischen und psychosomatischen
Störungen ein. Heute ist das aufgrund der genannten gesetzlichen Restriktionen nicht
mehr zulässig. Bei unvorbereiteten, psychisch labilen, ich-schwachen oder an einer
schweren psychischen Störung erkrankten Personen besteht tatsächlich ein erhöhtes
Risiko für unerwünschte abnorme und angsterfüllte Erlebnisreaktionen und andere psychopathologische
Symptome. Dasselbe gilt bei einem ungeeigneten Setting ohne ausreichenden Angstschutz
und ohne die haltgebende Funktion eines erfahrenen Therapeuten. Die Symptome können
bis hin zur Entwicklung einer reaktiven Mini-Psychose reichen, die bei einer fachgerechten
psychiatrischtherapeutischen Betreuung jedoch in der Regel komplikationslos wieder
abklingt.
Vielen Dank, Michael, für das erhellende Gespräch.
Das Interview führte Claudia Müller-Ebeling.
Dr. med. Michael Schlichting war als Psychiater und Psychotherapeut jahrzehntelang
Oberarzt an einer psychiatrischen Klinik in Göttingen und danach an universitären
Einrichtungen in Basel und Bern tätig. Seit 2017 arbeitet er als forensisch-psychiatrischer
Gutachter in eigener Praxis in Basel.
Dieser Artikel ist online zu finden:
http://dx.doi.org/10.1055/a-1212-9776