Die Lage der Welt ist derzeit bestimmt durch eine globale Pandemie, die zwar vor allem
den Respirationstrakt betrifft, aber auch die Psychiater und Neurologen beschäftigt.
Denn der Erreger SARS-CoV-2 befällt auch Leber, Nieren, Pankreas und das Gehirn, wie
man schon seit Sommer 2020 nicht zuletzt aufgrund von Autopsien weiß [4], [8], [19]. Diese hatten aber auch gezeigt, dass das Virus nur in 20–30 % der Fälle überhaupt
im Gehirn nachweisbar war, was nicht zur klinischen Häufigkeit von Zeichen der ZNS-Beteiligung
(Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Geruchsstörungen) von bis zu 85 % bei symptomatischen
Patienten passte. Eine kürzlich im Fachblatt Nature Medicine publizierte Studie konnte jedoch im Mausmodell mit Hilfe der radioaktiv markierten
S1-Untereinheit des Coronavirus-Spike-Proteins, das intravenös verabreicht worden
war, dessen Gehirngängigkeit nachweisen. Im Gegensatz zum Virus passiert dieses Protein
also die Blut-Hirn-Schranke und findet sich in allen 11 untersuchten Regionen des
Gehirns, wo es toxische Effekte haben und funktionseinschränkend wirken kann. Die
Autoren schreiben: „Coronavirus-Spike-Proteine werden oft durch Proteasen der Wirtszelle
vom Virus abgespalten. Einmal gespalten, sind die Coronavirus-Spike-Untereinheiten
S1 und S2 nicht mehr kovalent durch Disulfid-Brücken gehalten, sodass S1 sich von
den Viruspartikeln trennt. Es besteht daher die Möglichkeit, dass S1-Untereinheiten
während einer Infektion mit SARS-CoV-2 die Blut-Hirn-Schranke überwinden und im Gehirn
pathologische Reaktionen auslösen, ohne dass intakte Viruspartikel ins Gehirn gelangt
sind“ [11].
Psychopathologie
„Jede Grippe macht einen matt und schlapp, Corona auch und ist daher nicht anders
zu beurteilen.“ – So oder so ähnlich denken noch immer viele Menschen über das Virus
SARS-CoV-2 und die dadurch verursachte Erkrankung Covid-19. Diese Meinung hat sich
längst als falsch herausgestellt, sofern man den Anteil der schweren Verläufe, die
weit über eine Lungenentzündung hinausgehende Pathologie und die vergleichsweise deutlich
höhere Letalität berücksichtigt. Aber auch bei der Psychopathologie gibt es klare
Unterschiede. Diese dingfest zu machen, ist jedoch gar nicht so einfach, denn bei
fast allen Studien zu den psychiatrischen Folgen von Covid-19 handelte es sich um
Umfragen zu selbstberichteten Symptomen, nicht jedoch um Diagnosen. Angst und Deprimiertheit
wurden auf diese Weise zwar gefunden, jedoch eher qualitativ, und nur selten fanden
sich Hinweise auf das Risiko einer Demenz als mögliche Folge von Covid-19. Hierzu
bedarf es quantitativer Studien zu faktisch vorliegenden Diagnosen.
Die bislang größte Studie hierzu erschien im Fachblatt Lancet Psychiatry. Insgesamt fast 70 Millionen elektronische Krankenakten wurden nach Fällen von Covid-19
im Zeitraum vom 20.1.2020 bis 1.8.2020 durchsucht. Die gefundenen 62 354 Fälle wurden
im Hinblick auf neuropsychiatrischen Folgen – Ängste, Depression, Demenz, Insomnie
– im Zeitraum von 14–90 Tagen nach Symptombeginn von Covid-19 mit den gleichen Folgen
von anderen häufigen Erkrankungen (Influenza, Gallenblasen-OP, Knochenbruch) in dieser
Datenbank während des genannten Beobachtungszeitraums verglichen [21]. Dies macht den besonderen Charme der Studie aus: Man erhielt das relative Risiko
beispielsweise einer Angststörung im Zeitraum von 2 Wochen bis 3 Monaten nach dem
Beginn einer Covid-19-Erkrankung im Vergleich zu den Folgeerscheinungen nach einer
Grippe (Influenza), einer Gallen-OP oder einem Knochenbruch. Diese „Kontrollbedingungen“
können aus verschiedenen Gründen ebenfalls zu psychologischen Beeinträchtigungen führen,
weswegen ein Vergleich mit ihnen das spezifische Risiko von Covid-19 für die Entwicklung
psychiatrischer Erkrankungen herausarbeitet.
Bei Patienten mit „Zustand nach Covid-19“ und keinen psychiatrischen Vorerkrankungen
war das Risiko einer psychiatrischen Erstdiagnose im Vergleich zu „Zustand nach Influenza“
um den Faktor 2,1 höher. Auch verglichen mit „Zustand nach Gallenstein-OP“ und „Zustand
nach Knochenbruch“ hatte eine abgelaufene Covid-19-Erkrankung ein entsprechendes auf
das 2,2- bzw. 2,1-fach erhöhtes Risiko. Die Inzidenz irgendeiner psychiatrischen Diagnose
nach abgelaufener Covid-19-Erkrankung betrug 18,1 %. Die häufigste psychiatrische
Diagnose nach Covid-19 war mit 12,8 % die Angststörung, gefolgt von affektiven Störungen
(hauptsächlich Depression) mit 9,9 %. Bei den über 65-Jährigen war das Risiko, im
genannten Zeitraum nach einer Covid-19-Erkrankung an Demenz zu erkranken, um 65 %
erhöht, ein besonders wichtiges Ergebnis, das nur aufgrund der hohen Fallzahl überhaupt
gefunden werden konnte, wie die Autoren hervorheben. Auch die Wahrscheinlichkeit des
Auftretens von Schlafstörungen ist nach abgelaufener Covid-19-Erkrankung nahezu verdoppelt
[21]. Die Autoren gingen darüber hinaus der Frage nach dem umgekehrten Zusammenhang –
steigt das Risiko, an Covid-19 zu erkranken, wenn eine psychiatrische Erkrankung im
Jahr davor bereits vorlag? – nach und fanden tatsächlich einen entsprechenden Zusammenhang:
Die Wahrscheinlichkeit, an Covid-19 zu erkranken, ist um 65 % erhöht. Allerdings geben
die Autoren zu bedenken, dass dieser Effekt auf das Konto des sozioökonomischen Status
geht, denn ein geringer sozioökonomischer Status prädisponiert sowohl für Covid-19
als auch für psychiatrische Erkrankungen.
Angesichts dieser Daten wundert es nicht, dass im klinischen Alltag auch in der Psychiatrie
Ulm psychiatrische Konsequenzen bzw. coronabedingte Psychopathologie eine Rolle spielen.
Das Problem dabei ist, dass SARS-CoV-2-positive psychisch kranke Menschen für alle
an der Behandlung beteiligten Berufsgruppen einen deutlichen Mehraufwand bedeuten
([
Abb. 1
]). Der Schutz vor Ansteckung und potenzieller Ausbreitung von SARS-CoV-2 über das
Personal auf andere Patienten hat oberste Priorität und verlangt allen Mitarbeitern
sehr viel ab. Insbesondere für das Pflegepersonal bedeutet jeder Covid-19-Patient
einen erheblichen zusätzlichen Zeitaufwand. Psychologen behandeln entweder über das
Telefon, einen Video-Chat (Zoom etc.) oder aber auch vor Ort – dann selbstverständlich
ebenfalls in „voller Montur“. Kotherapien finden schon lange nicht mehr in Gruppen
von bis zu 6 Patienten statt, sondern meist einzeln. Auch dies bedeutet einen erheblichen
Mehraufwand bei gleichzeitig geringerem Angebot. Da die Pflege einen Teil der Tagesstrukturierung
mit übernehmen muss, ist sie gleich doppelt belastet. Vieles geht über das Telefon
und dauert nicht zuletzt genau deswegen einfach länger (z. B. die in der Psychiatrie
extrem wichtige Sozialarbeit). Besuche durch Angehörige und Gespräche mit Angehörigen
werden zum Problem, weil durch sie ein zusätzliches Risiko der Ansteckung besteht.
Über Weihnachten werden an Besucher, die ihren Mund-Nasen-Schutz vergessen haben,
vom Universitätsklinikum Ulm FFP2-Masken zur Verfügung gestellt. Keiner soll wegen
einer vergessenen Maske seinen Angehörigen nicht besuchen können!
Abb. 1 Chefvisite durch den Autor (ganz rechts) und 3 Mitarbeiter in Zeiten von Corona (©
Autor).
Seit Mitte März 2020 treffen wir uns zur Frühbesprechung mit Maske ([
Abb. 2
]), was zunächst sehr gewöhnungsbedürftig war: Man hört die Sprache und sieht die
Emotionen der Mitarbeiter deutlich schlechter, muss daher mehr nachfragen und Emotionen
zuweilen explizit verbal kommunizieren, weil es implizit nonverbal nicht mehr geht
[18].
Abb. 2 Frühbesprechung mit Abstand und Maske aus der Sicht des Chefs (© Autor).
Kurz: Die Corona-Pandemie stellt für das gesamte System der Versorgung psychisch kranker
Menschen eine Herausforderung dar: Es gibt zum einen coronabedingt mehr Fälle und
zum zweiten ist die Versorgung aller Fälle wegen der Ansteckungsgefahr erheblich schwieriger
und vor allem zeitaufwändiger geworden. Hinzu kommen die Notwendigkeit der Distanzierung,
der Ausfall von Gruppen und die dadurch geringere Effektivität von Mitarbeitern. Wenn
sie dann noch wegbleiben würden [13] würde das System versagen. Dass es hier bei uns noch nicht soweit gekommen ist,
verdanke ich meinen Mitarbeitern, die ich nach Kräften über alles Neue und Wissenswerte
zu Corona und der Pandemie informiere (was sie dann mit 2 Tagen Verspätung auch aus
der Tagesschau erfahren), sodass sie alles wissen, was ich auch weiß – und auch das
wissen sie. Das ist eine der bekannten Voraussetzungen dafür, dass Mitarbeiter nicht
aufgeben und motiviert mitmachen. Geheimniskrämerei und Befehlston von oben waren
noch nie Zeichen eines guten Führungsstils. In einer Pandemie sind sie absolut kontraindiziert.
Long-Covid
Wie eingangs erwähnt, war das Ausmaß der Bedrohungen durch das neue Coronavirus SARS-CoV-2
zu Beginn der Pandemie im Frühjahr noch nicht klar. Hinzu kam die Erkenntnis, dass
die Krankheit langfristig bestehen bleiben kann – man spricht von „Long-Covid“, post-Covid-19
syndrome, chronic Covid syndrome (CCS), long-haul Covid und chronic Covid. Erste Berichte
hierüber lagen bereits im Sommer vor, jedoch wurden erst im Herbst das ganze Ausmaß
und die Chronizität der Beeinträchtigung sichtbar. Schon am 8. April 2020 wurde im
Fachblatt Science die Vermutung geäußert, dass das Überstehen der Akutphase von Covid-19 für viele
Patienten nur der Anfang einer länger währenden Erkrankung darstellen könnte [12]. Eine seither zunehmende Zahl von Studien zeigt genau dies überdeutlich. Am 9. Juli
publizierten italienische Ärzte im Fachblatt JAMA eine Studie an 143 Patienten, von denen im Mittel 60 Tage nach dem Beginn der Symptome
von Covid-19 noch 87,4 % mindestens ein Symptom aufwiesen [2]. Die meisten klagten über Abgeschlagenheit („fatigue“) und Atembeschwerden („dyspnea“).
Die Patienten waren im Mittel 56,5 Jahre alt, 37 % waren weiblich. Während ihres im
Mittel 13,5-tägigen Krankenhausaufenthalts hatten 72,7 % von ihnen eine interstitielle
Pneumonie, nur 7 Patienten (5 %) waren invasiv beatmet worden.
Am 14. Oktober publizierten britische Autoren eine prospektive Längsschnittstudie
an 201 Patienten mit abgelaufener Covid-19-Erkrankung (mittleres Alter: 44 Jahre;
70 % weiblich) und anhaltenden Symptomen. Die Patienten waren zwischen April und September
2020 für im Mittel weitere 105–160 Tage (Median: 140 Tage) nachbeobachtet worden.
Die Prävalenz von Vorerkrankungen (Adipositas: 20 %, Bluthochdruck: 6 %; Diabetes:
2 %; Herzerkrankungen: 4 %) war insgesamt gering, und nur 18 % der Patienten mussten
stationär behandelt werden. Dennoch bestand gut viereinhalb Monate nach dem ersten
Auftreten der Symptome bei nahezu allen Patienten noch Müdigkeit (98 %); Muskelschmerzen
(88 %), Kurzatmigkeit (87 %) und Kopfschmerzen (83 %) waren ebenfalls noch sehr häufig
vorliegende Symptome und 42 % (!) der Patienten litten noch unter 10 oder mehr (!)
Symptomen. Damit hatten in einer vergleichsweise jungen und risikoarmen Population
mit anhaltenden Symptomen fast 70 % der Personen 4 Monate nach den ersten Symptomen
einer SARS-CoV-2-Infektion eine Beeinträchtigung in einem oder mehreren Organen: Herz
(32 %), Lunge (33 %), Nieren (12 %), Leber (10 %), Pankreas (17 %) und Milz (6 %).
Bei 66 % der Patienten wurden Beeinträchtigungen einzelner Organe und bei 25 % der
Patienten Beeinträchtigungen mehrerer Organe beobachtet ([
Abb. 3
]).
Abb. 3 Organbeteiligung von Herz, Leber, Pancreas und Nieren, allein bzw. in unterschiedlichen
Kombinationen bei insgesamt 201 Patienten mit geringem Risiko (nur 37 davon waren
hospitalisiert, rote Zahlen beziehen sich auf diese Untergruppe) aber mit Long-Covid
(nach Daten aus [29]).
Am 9. November veröffentlichte ein irisches Autorenteam Daten zu 128 Patienten (mittleres
Alter 49,5 Jahre, 54 % weiblich) im Mittel 70 Tage nach Beginn der Covid-19-Symptome,
von denen mehr als die Hälfte über anhaltende Müdigkeit (67/128; 52,3 %) berichteten.
Interessanterweise gab es keinen Zusammenhang zwischen dem Schweregrad der anfänglichen Covid-19-Erkrankung (stationäre
Aufnahme oder nicht, zusätzliche Sauerstoffzufuhr oder nicht) und der Müdigkeit später.
Zudem wurden auch keine statistischen Zusammenhänge zwischen der Müdigkeit und Routinelaborparametern
für Entzündung und Zellumsatz (Leukozyten-, Neutrophilen- oder Lymphozytenzahl, Neutrophilen-Lymphozyten-Verhältnis,
Laktat Dehydrogenase, C-reaktives Protein) bzw. proinflammatorischen Molekülen (IL-6,
sCD25) gefunden. Weibliches Geschlecht und das Vorbestehen einer Depression scheint
jedoch nach diesen Daten ein Risikofaktor für Fatigue zu sein. Die Autoren heben hervor,
dass diese Gruppe von Patienten bislang verglichen mit den akuten Fällen noch zu wenig
Beachtung findet [23].
Ging man bei Covid-19 (wie auch bei vielen anderen Virusinfektionen beispielsweise
der Infektiösen Mononukleose) bislang von einem geringen Risiko bei jungen Menschen
ohne Komorbiditäten aus, sprechen die hier vorgestellten Daten eher für einen protrahierten
Verlauf – auch nach nur leichten Symptomen. Dies hat nicht nur Auswirkungen auf die
Belastung einzelner Patienten durch lang andauernde Covid-19-Symptome, sondern ist
auch unter Public-Health-Gesichtspunkten von Bedeutung. Auch bei der Infektiösen Mononukleose
(Epstein-Bar-Virus) kommt Fatigue 6 Monate nach der Infektion bei 40 % der Patienten
vor [26], man folgte jedoch bislang dem Rat der WHO[
1
], die Patienten bei komplikationslosem Verlauf generell 4 Wochen nach Erkrankungsbeginn
wieder für arbeitsfähig zu erklären. Nach den Daten zu Long-Covid muss dies in Frage
gestellt werden. Im bisherigen Verlauf der Corona-Pandemie kam es zunächst zu Einbrüchen
der Belegung in Reha-Kliniken. Mittlerweile muss man jedoch davon ausgehen, dass mittelfristig
ein erhöhter Bedarf an Rehabilitationsmaßnahmen bestehen wird, weil die Gruppe der
Long-Covid-Patienten zu den üblichen Reha-Patienten (nach Schlaganfall, Herzinfarkt,
Bandscheibenvorfall etc.) noch hinzukommen wird, wovon mittlerweile Experten aus Neurologie,
Psychiatrie, Innerer Medizin, Virologie, Psychosomatik, Kardiologie und Intensivmedizin
ausgehen. Im deutschen Gesundheitssystem wird man mit den Langzeitfolgen der Covid-19-Pandemie
noch lernen müssen umzugehen.
Impfen
Herkömmliche Impfstoffe gegen Viren enthalten ein Protein aus der Hülle des Virus
(in irgendeiner Form). Je älter die Impfstoffe sind, desto kruder die Verfahren der
Herstellung: Viren können mit Hitze oder auf chemischem Wege so verändert werden,
dass sie nicht mehr infektiös sind, aber ihre Bestandteile noch eine Immunreaktion
hervorrufen. In solchen Impfstoffen sind somit sehr unterschiedliche Stoffe enthalten
(weswegen sie zuweilen auch als gewissermaßen sehr „dreckig“ bezeichnet werden). Mehrere
der neu entwickelten Impfstoffe gegen Covid-19 sind dagegen mRNA-Impfstoffe, die nur
den Botenstoff (messenger Ribonucleic Acid; mRNA; zu deutsch mRNS, d. h. „Säure“ für
„acid) für ein einziges Protein enthalten (und daher mit gutem Recht als vergleichsweise
„sauber“ bezeichnet werden können). Dies trifft für die Impfstoffe BNT162b2 der Firmen BioNtech (Mainz) und Pfizer (USA), mRNA-1273 der Firma Moderna (USA) und CVnCoV der Firma CureVac (Tübingen) zu.[
2
] Messenger-RNA (mRNA) für ein Virusprotein, die in die Zellen des Patienten gelangt,
setzt dort eine Übersetzung (Translation) der Information zum Aufbau des Proteins
in Gang, die das Protein erzeugt. Dieses gelangt an die Zelloberfläche, hat Kontakt
mit dem Immunsystem und wirkt damit als Antigen, gegen das eine Immunreaktion gestartet
wird. Das Immunsystem lernt im Verlauf dieser Immunreaktion, selektiv Zellen zu bekämpfen,
die solche Antigene auf ihrer Zelloberfläche tragen, wie beispielsweise durch Viren
infizierte Zellen. Das Verfahren ist bereits 30 Jahre alt, denn die Herstellung von
RNA außerhalb eines Organismus (in vitro) mit anschließender Translation in einem
Organismus (in vivo) wurde erstmals bereits im Jahr 1990 beschrieben [28]. Im Jahr 1994 wurde RNA erstmals zur Impfung bei Mäusen verwendet [30].
Die RNA selbst erzeugt dabei keine Immunreaktion und wird nach kurzer Zeit in der
Zelle abgebaut. Hierzu eine Anmerkung: Botenstoffe müssen grundsätzlich relativ schnell
abgebaut werden, sonst könnten sie nicht die Eigenschaft eines Botens haben: Verblieben
sie lange in den Zellen, hätte ihre Präsenz nicht mehr den Charakter einer Nachricht
– ganz prinzipiell. Ebenso können mRNA-Impfstoffe prinzipiell gegen alle proteinbasierten
Antigene entwickelt werden, also beispielsweise von Viren und Bakterien, aber auch
von Tumoren. Aus genau diesem Grund wird seit Jahren sehr intensiv an ihnen gearbeitet,
und möglicherweise wird es bald nur noch solche Impfstoffe geben. Probleme liegen
wie immer im Detail. Beispielsweise müssen die als Antigen wirkenden Bereiche eines
Proteins (dessen „Epitope“) an einen Haupthistokompatibilitätskomplex (MHC mit der
Nummer I) gekoppelt sein, sonst klappt die zelluläre Immunantwort nicht. Die humorale
Immunantwort (Antikörper) hingegen bedarf des Haupthistokompatibilitätskomplexes MHC
mit der Nummer II. Man braucht also jede Menge Detailkenntnisse über die bei Immunreaktionen
beteiligten Mechanismen. Ein ganz anderes Detailproblem besteht darin, die RNA überhaupt
erst in die Zellen des Körpers zu verbringen [9]. Sie einfach frei in Ringerlösung zu injizieren funktioniert nicht, weil sie nicht
von den Zellen aufgenommen wird. Hierzu wird die RNA in winzig kleine (80 nanometer
Durchmesser) Lipid-Membran-Kügelchen „verpackt“ und eine Emulsion dieser Fettkügelchen
wird injiziert.
Bekanntermaßen erhielt der Impfstoff BNT162b2 der Firmen BioNtech und Pfizer in den USA und in Großbritannien aufgrund der positiven
Erfahrungen in der Phase-III-Studie an 43 448 Probanden, von denen 21 720 den Impfstoff
und 21 728 ein Placebo injiziert bekamen, eine Notzulassung. Diese Studie wurde im
New England Journal of Medicine am 10.12.2020 online publiziert [10]. Bereits einen Tag später – am 11.12.2020 – erteilte die US-amerikanische Gesundheitsbehörde
FDA, die in den Monaten und Wochen zuvor alle relevanten Informationen bereits jeweils
unmittelbar nach deren Generierung erhalten hatte, eine Notfallzulassung des Impfstoffs
[7]. Warum die entsprechende Behörde der EU daraufhin bekannt gab, dass auch sie Ende
des Jahres eine reguläre Zulassung vielleicht würde erteilen können, ist angesichts
der Dringlichkeit der Lage – bis zu 30 000 Neuinfizierte täglich allein in Deutschland,
in der gesamten EU sehr hohe Fallzahlen – aus meiner Sicht nicht nachvollziehbar.[
3
]
Bislang weiß niemand genau, wie lange eine durch Impfen hervorgerufenen Immunität
anhalten wird. Es gibt jedoch erste Daten hierzu, selbst wenn es noch keine Daten
zur Immunität nach Impfen geben kann, da mit dem Impfen erst Ende 2020 begonnen wurde.
In einer im Fachblatt Science publizierten Untersuchung US-amerikanischer Autoren wurde in einer Kohorte von 30
082 infizierten Patienten mit leichten bis mittelschweren Covid-19-Symptomen die Robustheit
und Langlebigkeit der Anti-SARS-CoV-2-Antikörperantwort gemessen [25]. Sie fanden heraus, dass neutralisierende IgG Antikörpertiter gegen das SARS-CoV-2-Spike-Protein
für mindestens 5 Monate nach der Infektion persistieren. Man wird diese Kohorte natürlich
weiter untersuchen, um die Langlebigkeit und Stärke dieser Reaktion zu messen. Dennoch
deuten diese vorläufigen Ergebnisse darauf hin, dass die Wahrscheinlichkeit einer
Reinfektion geringer sein könnte, als derzeit befürchtet wird, und dass für eine Impfung
die generell für Impfungen von der WHO geforderte Mindestwirksamkeitsdauer von einem
halben Jahr gegeben ist. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam auch eine kleine Studie aus
Innsbruck [3].
Demonstranten, Covid-Leugner und Verschwörungsanhänger
Demonstranten, Covid-Leugner und Verschwörungsanhänger
Konnte man im vergangenen März noch behaupten, das neue Coronavirus sei gar nicht
so schlimm oder existiere nicht wirklich oder nur als einfaches Erkältungs- und Grippevirus,
so geht dies zum Jahresende einfach nicht mehr: Weltweit mehr als 75 Millionen Infizierte
und mehr als 1,7 Millionen Tote kann man ebenso wenig leugnen wie die Übersterblichkeit
in fast allen Ländern (einschließlich Deutschland), die zunehmende Aus- und drohende
Überlastung der Intensivkapazitäten, auch in Deutschland, und die ans Chaotische grenzenden
Zustände im reichsten und zugleich noch vor einem Jahr als am besten von allen Ländern
der Erde auf eine Pandemie vorbereitesten Land, den USA. Dort gibt es über 17 Millionen
Infizierte und mehr als 300 000 Tote. Allein in den letzten 14 Tagen (2. bis 15. Dezember)
betrug die Zahl der Corona-Neuerkrankungen dort 2973 498. Zum Vergleich: Die Zahl
der Neuerkrankungen in diesem Zeitraum wurde auch in Deutschland als dramatisch erlebt,
betrug aber nur etwa ein Zehntel des Wertes aus den USA bei etwa einem Viertel der
Einwohnerzahl. Pro Kopf erkrankten in den USA in der ersten Dezemberhälfte also etwa
2,5-mal mehr Menschen als hierzulande. Wie kann man angesichts dieser Tatsachen in
Deutschland gegen Corona demonstrieren oder die Krankheit gar leugnen? Was treibt
die Menschen dazu, an abstruse Theorien (Bill Gates und/oder Angela Merkel wollen
die Demokratie abschaffen etc.) zu glauben und sich auch so zu verhalten [14]?
Aus meiner Erfahrung zu Versuchen der Diskussion mit Corona-Leugnern kann ich dazu
nur sagen, dass diese den Gesprächen mit Wahnkranken sehr ähneln: Man kann sagen,
was man will, das Gegenüber bleibt bei seiner Version der Welt mit subjektiver Gewissheit
und vollkommener Unkorrigierbarkeit der Inhalte. Es wird ausgewichen, Fakten werden
einfach geleugnet und vage Vermutungen über böse Mächte, Lügen und eine drohende Gefahr
werden immer wieder geäußert. Man weiß, dass solches Erleben und Verhalten bei Psychosen
vorkommen, aber auch durch Isolation und mangelnde Kommunikation (z. B. bei Schwerhörigen
oder bei Menschen, die sich allein in sprachfremder Umgebung befinden) vorkommen kann.
Man weiß auch, dass Verschwörungstheorien von existenziell benachteiligten Menschen
bzw. Menschen, die den Verlust der Kontrolle über ihr Leben erfahren, mit höherer
Wahrscheinlichkeit geäußert werden. Und man weiß schließlich, dass Psychosen häufig
sind und dass es ein Kontinuum gibt zwischen psychischer Gesundheit, schizotypischer
Persönlichkeit, schizotyper Persönlichkeitsstörung und Schizophrenie. Aus meiner Sicht
erklärt alles zusammen (und von jedem ein mehr oder weniger großer Anteil) das Geschehen
recht gut. Für viele Menschen sind die Folgen der Reaktionen auf die Pandemie (Lockdown)
– noch – deutlicher spürbar als die der Pandemie selber (das ändert sich allerdings
zunehmend) und verursachen Stress durch existenzielle Bedrohungen, gegen die man sich
hilflos fühlt. Die überall weitgehend unkontrollierte mediale Verbreitung von Falschmeldungen,
die medialen Filterblasen (Menschen bekommen nur noch diejenigen Nachrichten, die
zu ihrem Weltbild passen) und die in manchen Medien gleichsam „eingebaute“ Radikalisierung
und Hass-Sprache verstärken, ebenso wie eine bestimmte genetische Prädisposition,
dieses Erleben und den begleitenden Affekt der Angst. Dass Einsamkeit Stress verursacht
und chronischer Stress die Immunabwehr schwächt, hatte sich zu Anfang der Pandemie
noch nicht herumgesprochen [14]–[16].
Ein weiterer Gesichtspunkt erscheint mir in diesem Zusammenhang von Interesse und
Bedeutung. Die weltgrößten IT-Unternehmen – Google, Facebook, Apple – versuchen zwar
einerseits, Lügen und Fake-News bezüglich Covid-19 und der Pandemie von ihren eigenen
Plattformen zu löschen. Dies darf jedoch andererseits nicht darüber hinwegtäuschen,
dass sie aufgrund ihrer vielfältigen Aktivitäten die Verbreitung solcher Inhalte durch
Online-Dienste, Tools und Computerprogramme überhaupt erst ermöglichen, die zu ihrem
eigentlichen Geschäftsmodell gehören. In einer neuen Studie mit dem Titel „Profiting from the Pandemic“ untersuchten Wissenschaftler vom Oxford Internet Institute an der dortigen Universität insgesamt 120 Websites, von denen jeweils 40 (a) Proteste
gegen staatliche Einschränkungen (Verhaltensregeln, Ausgangsbeschränkungen, Lockdown,
Shutdown), (b) betrügerische Aktivitäten (falsche Medikamente, erfundene Wohltätigkeitsinstitutionen
zur Spendenannahme, funktionsunfähige Gesichtsmasken etc.) oder (c) falsche Informationen
zum Coronavirus bzw. zur Corona-Pandemie verbreiteten [1]. Diese Webseiten haben klangvolle Namen, wie aus [
Tab. 1
] ersichtlich ist. Manche von den 120 Webseiten existieren schon länger und wurden
umetikettiert („repurposed“), die älteste von ihnen ging am 6. Juli 1995 online.
Tab. 1
Namen und Daten der Entstehung von Webseiten zum (a) Lockdown-Protest, (b) Betrug
und (c) gesundheitsbezogener Falschinformation (nach Daten aus [1]). Jeweils 3 von 40 Webseiten sind beispielhaft aufgeführt.
|
Typ
|
Name
|
Online seit…
|
|
Lockdown Protest
|
reopenarizona.com
|
9.4.2020
|
|
liberateamericanow.com
|
24.4.2020
|
|
letamericaopen.net
|
2.5.2020
|
|
Betrug
|
annaasiasurgicalmasks.com
|
11.4.2020
|
|
theluxuryhealing.com
|
1.5.2020
|
|
tropicalprotectivewear.com
|
16.8.2020
|
|
gesundheitsbezogene Falschinformationen
|
fakepandemic.com
|
23.3.2020
|
|
humansarefree.com
|
22.12.2010
|
|
covid19refusers.com
|
24.5.2020
|
Die genannten Firmen (und noch viele andere, kleinere Firmen) bieten Dienste zur Entwicklung
und Erstellung von Webseiten an (Web-Entwicklungs-Tools), stellen Speicherplatz und
Verarbeitungskapazität (Webspace) zur Unterbringung (Hosting) von Websites auf ihren
Webservern zur Verfügung (Webhosting) und halten entsprechende Software zur Auswertung
und Vermarktung der auf den Webseiten gesammelten Daten vor (Stats-Tools, Adtracking).
Bei einigen dieser Werkzeuge (Tools) handelt es sich um kostenlose „Widgets“, d. h.
um kleine Computerprogramme, die es Webdesignern erlauben, die Möglichkeiten und Funktionalitäten
ihrer Webseiten zu erweitern. Sie werden überall im Internet verwendet, oft ohne dass
die Unternehmen, die sie herstellen, wissen, wer sie wozu einsetzt. Das ist bei Werkzeugen
leider prinzipiell so: Wer Hämmer produziert, hat keinen Einfluss darauf, ob jemand
damit ein Haus baut oder jemanden erschlägt. Hierzu gehört beispielsweise Software
zur Ermöglichung verschiedener Hardware- und Software-Komponenten (z. B. die Smartphones,
Computer und Betriebssysteme verschiedener Hersteller) oder die Abwicklung finanzieller
Transaktionen über Apple Pay durch die genannten Protest-, Betrugs- und Desinfomations-Webseiten.
Die gleichen Top-Technologieunternehmen (Apple, Facebook, Google), deren Werkzeuge
überall und von Kriminellen zu kriminellen Zwecken verwendet werden, verdienen zunächst
einmal daran, denn all diese „IT Tools and Services“ werden ja verkauft. Zugleich
geben diese Firmen aber auch seit Monaten vor (und reden viel darüber), dass sie Betrüger
bekämpfen, die von der Pandemie profitieren wollen, und Desinformationen nach Kräften
löschen.
Die Analyse von 40 Covid-Desinformationsseiten förderte fast 2000 Werkzeuge von Google,
mehr als 800 von Facebook und mehr als 360 von Apple zutage. Die Firma Cloudflare,
ein Anbieter von „Content-Delivery“ und Schutz vor Hacker-Angriffen, lieferte zudem
fast 550 Komponenten auf den Desinformationsseiten, und die Firma Amazon hatte mehr
als 330. Weil es keinen großen Aufwand darstellt, die Werkzeuge von einem Anbieter
durch die eines anderen bei der Gestaltung und Funktionalisierung von Webseiten zu
ersetzen, kann nur eine konzertierte Anstrengung über Unternehmen, Länder und Gerichtsbarkeiten
hinweg dieses Problem der kriminellen Anwendung von Werkzeugen lösen. „Bezüglich Protestseiten
und Seiten mit angeblicher Desinformation unterstützen wir ein freies und offenes
Internet.“ – So oder so ähnlich denken und reden die besagten Firmen (wenn sie sich
überhaupt äußern). Und solange sie so gut mit diesen Werkzeugen verdienen, wird sich
wahrscheinlich nur unter deutlich mehr Druck etwas ändern – man muss hier auf die
EU hoffen und setzen, denn sonst ist ja niemand weit und breit erkennbar!
Gedrückte Stimmung durch Corona
Gedrückte Stimmung durch Corona
Nach einer Anfang Dezember 2020 veröffentlichten Meinungsumfrage bewirkt die Corona-Pandemie
bei Leistungsträgern im mittleren Alter (30–59 Jahre) eine Verunsicherung mit nur
wenig Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft
(GDV) hatte die Studie beim Allensbach-Institut für Demoskopie in Auftrag gegeben.
Befragt wurden dabei 1047 Teilnehmer im Alter von 30–59 Jahren. Diese Gruppe, die
oft auch als „Generation Mitte“ bezeichnet wird, stellt 70 % der Erwerbstätigen und
erwirtschaftet über 80 % der steuerpflichtigen Einkünfte. Sie stellt damit das Rückgrat
unserer Gesellschaft dar, und genau deswegen muss man sich darüber Sorgen machen,
dass in genau dieser Gruppe der Menschen Angst und Verunsicherung deutlich zunehmen
([
Abb. 4
]); Optimismus? – Fehlanzeige! [5], [20], [27].
Abb. 4 Absturz des Optimismus der 30- bis 59-Jährigen durch Corona. Angegeben ist der Anteil
der Probanden, welche die Frage „Sehen Sie den nächsten 12 Monaten hoffnungsvoll entgegen?“
mit „Ja“ beantworteten (nach Daten aus [5]).
Demnach sehen nur noch weniger als ein Viertel der Befragten (22 %) den kommenden
Monaten hoffnungsvoll entgegen, wohingegen dies im letzten Jahr noch 46 % angaben.
Zudem fühle sich jeder Zweite (48 %) schlechter als vor der Krise. Am schlimmsten
sei die Tatsache, dass man nicht absehen könne, wie lange die Pandemie dauert. Angst
vor einer Ansteckung hätten etwa 41 %. Die Mehrheit der Befragten gibt an, das Klima
in der Gesellschaft habe sich stark in die falsche Richtung verändert – mit einer
Zunahme von Ängsten, Verunsicherung und Aggressivität. Dass jeder Zweite einen verstärkten
Rückzug der Menschen ins Private wahrnimmt und viele Dinge, die für selbstverständlich
erachtet worden waren, nun besser wertgeschätzt werden, kann man positiv bewerten.
Aber fast jeder Zweite macht sich große Sorgen um die Auswirkungen auf die deutsche
Wirtschaft und weitere 26 % machen sich sogar sehr große Sorgen.
Bedingt durch die vermehrte Angst, Verunsicherung und Vereinsamung hat auch die Inanspruchnahme
der Telefonseelsorge deutlich zugenommen. Seit einem Vortrag vor etwa 400 ehrenamtlich
in der Telefonseelsorge tätigen Personen weiß ich, dass Einsamkeit der Hauptgrund
für einen Anruf bei der Telefonseelsorge ist. Es kam dort im Laufe der Corona-Pandemie
zu einem deutlichen Anstieg der Anrufe um fast 50 %. In nahezu allen Gesprächen sei
Corona das Hauptthema gewesen, mittlerweile überwiegen jedoch wieder die Klagen über
Einsamkeit. Das wurde durch das Weihnachtsfest nicht besser – haben doch einsame Menschen
die größten Schwierigkeiten mit dem Fest der Liebe und der Familie. Wie eng doch Viren
und Weihnachten zusammenhängen. Unsere Welt ist komplex. Corona macht vor allem ihre
Schwächen deutlich. Hoffentlich lernen wir daraus.