Schlüsselwörter
COVID-19-Pandemie - Kopf-Hals-Tumorpatienten - Patientenperspektive - Belastungen - Coping-Strategien
Key words
COVID-19 pandemic - head and neck cancer patients - patients’ perspective - burden - coping strategies
Einführung
Am 16.03.2020 verkündete die Bundesregierung den Lockdown zum Schutz der Bevölkerung vor der Corona-Pandemie. Damit verbunden waren auch erhebliche Eingriffe in das Gesundheitswesen. Krankenhäuser und ambulante Versorgung hatten sich auf die aufziehende COVID-19-Pandemie vorzubereiten, Betten- und personelle Kapazitäten mussten in wenigen Tagen für die befürchtete Versorgung von Tausenden schwerkranken und beatmungspflichtigen Patienten bereitgestellt und bereitgehalten werden [1]. Umfangreiche Hygienemaßnahmen veränderten von einem Tag auf den anderen die Arbeit in Kliniken und Praxen. Die Bevölkerung wurde angehalten, nur noch für das Notwendigste die Wohnungen zu verlassen. Der Regelverkehr und damit auch der öffentliche Personennahverkehr wurden auf ein Minimum begrenzt [2]. Trotz dieser Einschränkungen sollte die leitliniengerechte und hochwertige Versorgung von Patienten mit ernsthaften Erkrankungen sichergestellt bleiben.
Aus jüngst publizierten Daten wissen wir, dass Menschen in Deutschland bereits Ende März/Anfang April 2020 auf die aufziehende Pandemie mit gesteigerten Ängsten und Depressivität reagierten. Frauen schienen damals gefährdeter [3].
Die Arbeitsgemeinschaft „Prävention und Integrative Onkologie“ der Deutschen Krebsgesellschaft (AG PRIO) erfasste danach in der Krise des Lockdowns die Gedanken, Eindrücke, Emotionen und Befürchtungen mit einem Online-Fragebogen-Programm, das sowohl betroffenen Tumorpatienten als auch Mitarbeitern im Gesundheitswesen (Ärzten, Pflegenden, Psychoonkologen, Seelsorgern) zugänglich war.
Ziel der vorliegenden Arbeit war in Zusammenarbeit mit den Organisationen der Selbsthilfe der gezielte Blick auf die Sicht der Patienten mit Kopf-Hals-Tumoren, die sich an den Interviews der AG PRIO beteiligt haben. Motiv dieser Betrachtung war die besondere Situation der Betroffenen hinsichtlich der Kommunikation und Isolation. Verlust bzw. Einschränkungen von Stimme und Sprache führen einerseits zur besonderen Vulnerabilität unserer Patienten gegenüber Kommunikationsbeschränkungen, andererseits sind Betroffene mit Kopf-Hals-Tumoren eben oft auch von sozialer Gemeinschaft ausgeschlossen (gemeinsame Nahrungsaufnahme, Vereinstätigkeit).
Beide Problembereiche der Kommunikation und Isolation haben unter dem Lockdown der Gesamtgesellschaft eine nochmals besondere Bedeutung bekommen. Spezifisch sollte untersucht werden, welche Einschränkungen sie infolge des Lockdowns erlebt haben und wie sie damit umgegangen sind.
Material und Methode
Zur Auswertung kamen 2 Querschnittsbefragungen der AG PRIO: Zum einen wurde vom 15.04.2020–15.05.2020 eine Umfrage mit einem standardisierten Fragebogen unter deutschen Tumorpatienten über die Plattform www.soscisurvey.de vorgenommen, an der 433 Betroffene teilnahmen. Die Umfrage wurde über den Bundesverband Haus der Krebs-Selbsthilfe e. V. beworben, in dem u. a. der Bundesverband der Kehlkopfoperierten e. V. und das Selbsthilfenetzwerk Kopf-Hals-Mund-Krebs e. V. Mitglied sind.
Als zweite Grundpopulation nutzten wir die Umfrage der AG PRIO zu psychosozialen Auswirkungen und wahrgenommenen Veränderungen infolge der COVID-19-Pandemie, die vom 06.05.2020–10.06.2020 offen war. Die hier genutzte Online-Plattform war www.limesurvey.org. Der Bundesverband Haus der Krebs-Selbsthilfe e. V. nahm erneut die Bewerbung der Umfrage vor. Zusätzlich wurden von einigen Kliniken die Patienten direkt angesprochen. Insgesamt 292 Patienten wurden in diese Studie der AG PRIO aufgenommen [4].
[Tab. 1] gibt einen Überblick zu Inhalt und Struktur beider Studien. In der ersten Befragung wurden Elemente genutzt, die in der Pandemie gemeinsam mit der Selbsthilfe zusammengestellt wurden. An der Befragung nahmen 91 Patienten mit Kopf-Hals-Tumoren teil. Die zweite Befragung arbeitete nach Abschluss des Lockdowns mit validierten und mehrfach publizierten Tools sowie neu entwickelten Elementen, die auf die COVID-19-Pandemie spezifisch eingehen. An dieser Studie haben sich 84 Patienten mit Kopf-Hals-Tumoren beteiligt.
Tab. 1
Inhaltliche und methodische Teilbereiche beider Befragungen.
Komplex
|
inhaltliche Abgrenzung
|
Methode (Fragebogen)
|
Blitzumfrage (Studie 1)
|
1.1
|
aktuelle Folgen Körper/Psyche
|
Einzel-Item (4-stufige Skalierung)
|
1.2
|
erwartete Langzeitfolgen
|
Einzel-Item (4-stufige Skalierung)
|
1.3
|
Folgen für die Tumortherapie
|
Einzel-Item (4-stufige Skalierung)
|
1.4
|
Informationspolitik/Besuchsverbot
|
Einzel-Item (4-stufige Skalierung)
|
1.5
|
Belastung des medizinischen Personals
|
Stress-Thermometer
|
Coping-Analyse (Studie 2)
|
2.1
|
Lebensveränderungen durch COVID (Perceived Changes Questionnaire; 12-Item-Version)
|
12-teiliges Item
|
2.2
|
Ehrfurcht und Dankbarkeit
|
GrAw-7
|
2.3
|
Lebenssinn
|
MLQ
|
2.4
|
Wohlbefinden
|
WHO-5
|
2.5
|
Empfinden der COVID-Belastung
|
VAS
|
2.6
|
Erleben der Pandemie
|
Einzel-Item (4-stufige Skalierung)
|
Aus beiden Online-Plattformen resultierten MS-Excel-Datentabellen, die die gesammelten Daten entsprechend der Fragebögen beinhalten. Über eine Filterfunktion ließen sich die Patienten mit Kopf-Hals-Tumoren selektieren.
Für beide Studien liegt ein positives Votum der Ethikkommission des Universitätsklinikums Jena vor (Reg.-Nummern 2020-1768-Bef, 5497-04/18). Beide Befragungen sind strikt anonym, sodass nur basale soziodemografische, jedoch keine identifizierenden Daten (z. B. Altersgruppe, Geschlecht, Bundesland, Erkrankungssituation) nachvollziehbar sind.
Ergebnisse
Beschreibung der Studienpopulation
An Studie 1 nahmen 91 Patienten teil, die im Median 61–70 Jahre alt waren. 75 von 91 Patienten (82,4 %) waren zum Zeitpunkt der Befragung tumorfrei, niemand befand sich in einem palliativen Stadium seiner Erkrankung. Die meisten der Teilnehmenden kamen aus Nordrhein-Westfalen (17 TN), gefolgt von Niedersachsen und Baden-Württemberg (je 15 TN). [Tab. 2] fasst die demografischen Daten der Kopf-Hals-Tumorpatienten mit Blitzumfrage zusammen.
Tab. 2
Demografische Angaben zu Teilnehmern der Blitzumfrage (Studie 1).
Altersstruktur
|
bis 50 Jahre
|
0
|
51–60 Jahre
|
21
|
61–70 Jahre
|
44
|
71–80 Jahre
|
22
|
> 80 Jahre
|
2
|
keine Angabe
|
2
|
Erkrankungssituation
(Mehrfachnennung möglich)
|
nach Abschluss der Therapie
|
75
|
unter Therapie
|
16
|
mit Lokalrezidiv oder Fernmetastasen
|
14
|
Wohnort der Teilnehmer
|
Bayern
|
9
|
Baden-Württemberg
|
15
|
Hessen
|
6
|
Mecklenburg-Vorpommern
|
2
|
Niedersachsen
|
15
|
Nordrhein-Westfalen
|
17
|
Rheinland-Pfalz
|
14
|
Sachsen
|
4
|
Sachsen-Anhalt
|
4
|
Schleswig-Holstein
|
1
|
Thüringen
|
2
|
In die Studie 2 wurden 84 Patienten mit Kopf-Hals-Tumoren aufgenommen. Das mediane Alter der Teilnehmer war hier 66 Jahre (Range 32–92). 31 Frauen und 50 Männer beantworteten den Online-Fragebogen, 3 Personen blieben ohne Geschlechtsangabe. 19 Teilnehmer lebten allein, die verbleibenden 65 in einer Partnerschaft. 59 Teilnehmer hatten bisher eine Primärtumorerkrankung, weitere 13 einen Rezidivtumor und 12 weitere Metastasen. 44 von 73 Teilnehmern berichteten über einen regelmäßigen Konsum von Alkohol. [Tab. 3] fasst die demografischen Daten dieser Population zusammen.
Tab. 3
Demografische Angaben zu Teilnehmern der Coping-Analyse (Studie 2).
Alter, Geschlecht
|
medianes Alter (Range) in Jahren
|
66 (32–92)
|
weiblich
|
31
|
männlich
|
50
|
keine Angabe (Geschlecht)
|
3
|
Erkrankungssituation
(Mehrfachnennung möglich)
|
Ersttumor
|
66
|
Rezidivtumor
|
13
|
Fernmetastasen
|
12
|
Stadium
|
Stadium I/II
|
29
|
Stadium III/IV
|
35
|
keine Angabe (Stadium)
|
20
|
Behandlungssituation
|
erfolgreich behandelt (Nachsorge)
|
62
|
unter Tumortherapie
|
12
|
Best Supportive Care
|
10
|
Religionszugehörigkeit
|
Christentum
|
54
|
andere Religion
|
3
|
keine Religion
|
27
|
Lebensgewohnheiten (Alkohol)
|
|
mehrmals pro Woche
|
10
|
1–2-mal pro Woche
|
12
|
2–3-mal pro Monat
|
11
|
1-mal pro Monat
|
11
|
nie
|
29
|
keine Antwort
|
11
|
Blitzumfrage (Studie 1)
49 von 91 auswertbaren Patienten (53,8 %) berichteten, dass sie die aktuelle Situation des Lockdowns stark einschränkte. 83 von 85 Teilnehmern (97,6 %) berichteten über eigene physische Aktivitäten, um die Folgen zu minimieren.
Dennoch gaben zum Zeitpunkt der Befragung bereits je 19 von 89 Patienten (21,3 %) erhebliche seelische bzw. körperliche Folgen an. 22 von 89 Patienten (24,7 %) erwarteten für die Zukunft physische Konsequenzen der Situation.
54 von 91 Patienten (59,3 %) berichteten, durch die vielen und wechselnden Informationen stark bis mäßig irritiert worden zu sein. Bei 21 von 82 Patienten (25,6 %) gab es eine diffuse Angst hinsichtlich der Behandlung ihres Tumorleidens. Gehäuft wurde die Angst artikuliert, dass sich die notwendige Diagnostik oder Therapie im Zusammenhang mit der Tumorerkrankung verzögert (36/91; 39,6 %).
Von den während der Befragung stationär behandelten Patienten gaben 15 von 27 Teilnehmern (55,6 %) an, dass sie das Besuchsverbot als stark bis mäßig belastend empfanden. Generell bewerteten 44 von 74 Teilnehmern (59,5 %) das strikte Besuchsverbot in Kliniken als kritisch.
Im Stress-Thermometer stuften 4 Teilnehmer die medizinischen Helfer als „cool“ (0°) ein, 55 Teilnehmer sahen einen Normalbetrieb (36,5°) und 15 Patienten berichteten von bewegten Helfern (90°).
Wahrgenommene Belastungen und Veränderungen (Studie 2)
Fünf Teilnehmende waren zum Interviewzeitpunkt bereits auf COVID-19 getestet worden. Es gab niemanden mit einem positiven Testergebnis.
Die Patienten konnten ihre empfundene Belastung infolge der Corona-Pandemie in 3 Kategorien einschätzen: Beeinträchtigung des Alltagslebens durch ihre Krankheitssymptome (als Korrektivaussage), Beeinträchtigung des Alltagslebens durch die aktuelle Situation infolge der Corona-Pandemie (als spezifische Aussage) sowie das Gefühl, aufgrund der aktuellen Situation unter Druck zu sein (z. B. durch Stress und Angst). [Abb. 1] macht deutlich, dass die Pandemie-assoziierten Alltagsbeeinträchtigungen größer waren als die krankheitsassoziierten, während ein Stressempfinden infolge der Einschränkungen deutlich geringer ausgeprägt war.
Abb. 1 Belastungsempfinden bei HNO-Patienten während der Pandemie (n = 79).
Unsere Studienteilnehmer zeigten sich deutlich irritiert bzw. verunsichert über die teils unterschiedlichen Aussagen zur Gefahr und zum Verlauf der Corona-Infektion in den öffentlichen Medien (29 % sehr, 35 % etwas, 36 % wenig oder gar nicht). Bedenken bezüglich ihrer aktuell laufenden Behandlung der Krebserkrankung hatten 7 % stark, 23 % etwas und 71 % wenig oder gar nicht. Etwas anders sah es jedoch aus, wenn es um die Befürchtung ging, dass ihnen medizinisch notwendige Therapien oder Untersuchungen aufgrund der Situationen an den Krankenhäusern verweigert oder diese verzögert werden. 10 % hatten diese Befürchtung sehr ausgeprägt, 24 % etwas und 65 % wenig oder gar nicht. In den meisten Fällen schienen die Betreuung und Anbindung an die therapeutischen Einrichtungen also so gewesen zu sein, dass Verunsicherungen und Ängste ausgeglichen und vermieden werden konnten.
Der WHO-5-Index als Maß des Wohlbefindens zeigte einen Median von 16 Punkten (Range 1–25) bei einer Maximalzahl von 25 [5]. Die Anzahl der Patienten mit einer depressiven Grundstimmung (< 13 Punkte) lag bei 29 % der auswertbaren Teilnehmer.
Im MLQ-10 wird die Sinnsuche bzw. ein vorhandener Sinn im Leben als Ressource der Patienten ermittelt [6]. Die überwiegende Mehrzahl unserer Teilnehmer (n = 57, 75 %) fiel durch eine Kombination unzufrieden/inaktiv auf, gefolgt von zufrieden/inaktiv (n = 17, 22 %) und unzufrieden/aktiv (n = 2).
Die GrAw-Skala erfasst Gefühle staunender Ehrfurcht und daraus resultierender Dankbarkeit als Ausdruck einer wahrnehmenden Spiritualität bzw. Achtsamkeit gegenüber dem Augenblick (unabhängig von religiöser Prägung) [7]. Der Medianwert des Scores unserer Population lag bei 47,6 Punkten (Range und Skalierung 0–100). Der Referenz-Median-Score lag bei 66,6 Punkten.
Wahrnehmung von Veränderung aufgrund der Corona-Pandemie: Hier wurden 4 Faktoren differenziert ([Abb. 2]): Als bedeutendsten Faktor gaben unsere Teilnehmer die intensivierte Beziehung in der Familie bzw. im Freundeskreis und ein intensiveres Erleben von Natur und Stille an. Das Themenfeld sorgenvoller Reflexionsprozesse (über Sinn und Bedeutung des Lebens und der verbleibenden Lebenszeit) und Isolationsempfinden war für viele ebenfalls bedeutsam, jedoch nur moderat ausgeprägt. Die Zuwendung zu religiösen oder spirituellen Themen war nur von geringer Bedeutung.
Abb. 2 Wahrgenommene Veränderungen aufgrund der Corona-Pandemie bei HNO-Patienten (n = 78).
Diskussion
Die Corona-Pandemie hat einerseits eine Diskussion um die Leistungsmöglichkeiten unseres Gesundheitssystems hervorgerufen, andererseits mit dem Lockdown eine erhebliche Umstellung im Leben eines jeden Bürgers bewirkt. Gerade Tumorpatienten sind aufgrund ihrer lebensbedrohlichen Erkrankung in einer besonders vulnerablen Situation, wie sie in der Vergangenheit in besonderem Maße auch für die Gruppe der Kopf-Hals-Tumoren mehrfach dokumentiert werden konnte [8]
[9].
Vor kurzem wurde vom Rückgang der Versorgung in den universitären HNO-Kliniken während der Phase des Lockdowns wegen der COVID-19-Pandemie berichtet [10]. Praktisch jede deutsche HNO-Klinik war mit der Erstellung und Umsetzung neuer Hygienestandards und -konzepte beschäftigt [11].
Auf internationaler Ebene werden erste Erfahrungen systematisch aufgearbeitet [12] und Guidelines für eine erneute Ressourcenverknappung in der Pandemie publiziert [13].
Die in diesem Artikel vorgestellten Ergebnisse aus dem Umfrageprogramm der AG PRIO ergänzen dies nun um die Perspektive der onkologischen Patienten während dieser Zeit und beschreiben die individuellen Strategien der Patienten im Umgang mit der besonderen Situation. Hierbei sollten sowohl die erlebten Einschränkungen und Belastungen thematisiert werden, aber auch die positiven Perspektiven im Sinne erlebter Veränderungen von Einstellungen und Verhaltensweisen, die ggf. weiter unterstützt werden könnten. Beide Sichtweisen sind notwendig, damit das Gesamtsystem „onkologische Versorgung“ für kommende Belastungssituationen des Gesundheitswesens gerüstet ist. Bedarfsforschung benötigt immer die Sicht des Bedürftigen [14].
In ersten Blitzinterviews haben wir Mitte April bereits die große Verunsicherung und Angst von Tumorpatienten registriert, die sich insbesondere auf die Durchführung ihrer Therapien beziehungsweise die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems während des Lockdowns bezogen. Hauptprobleme sind und waren die unzureichende Informationslage und das allgemeine Besuchsverbot in den Krankenhäusern [15]. Auch die hier vorgestellte Kohorte der Kopf-Hals-Tumorpatienten unterstreicht diese Ergebnisse. Damit wird insbesondere deutlich, dass die als Schutz gedachten Maßnahmen, wie insbesondere das Besuchsverbot, von den Betroffenen nicht nur als Schutz, sondern auch als erhebliche Einschränkung und Bedrohung erlebt werden. Auch von Vertretern anderer Gruppen (Senioren, Kinder) wurde in den letzten Wochen Ähnliches berichtet – auch mit der Forderung, diese Gruppen nicht zu bevormunden oder rein als Objekte, vor denen andere geschützt werden müssen, zu betrachten [16]. Der Ruf nach einer Balance der Maßnahmen wird auch international lauter [17].
Gespürte und erwartete Konsequenzen der Pandemie und der ergriffenen Maßnahmen liegen nach Ansicht unserer Patienten sowohl im körperlichen als auch seelischen Bereich. Während sie für die Prävention physischer Folgen nach eigener Einschätzung gerüstet zu sein scheinen, fehlt bisher eine spezifische Strategie, um auch auf dem Gebiet der psychisch-mentalen Begleitung durch die Krise gewappnet zu sein.
Die Details der zweiten Studie geben hierfür erste Ansätze. Wir finden unmittelbar nach dem Lockdown die Gruppe der Kopf-Hals-Tumorpatienten belastet durch die Grunderkrankung, die COVID-19-bedingten Einschränkungen und zusätzliche psychische Alterationen, die sich aus der Gesamtsituation ergeben haben. Ein knappes Drittel der Gruppe ist latent depressiv, die Mehrzahl der Patienten mit ihrer Lebenssituation unzufrieden und selbst inaktiv. Es fällt ein Achtsamkeitsdefizit bei der Mehrzahl der Patienten für den Moment auf. Die bewusst wahrgenommenen Veränderungen im Sinne einer Neubewertung („posttraumatisches Wachstum“) beruhen insbesondere auf intensiveren Beziehungen zu Familie und Freunden und eine bewusstere und wertschätzende Zuwendung zu Natur.
Strukturierte Angebote können beide Coping-Muster aufnehmen und unterstützen. Während im Netzwerk von Familie und Freunden die Patientenselbsthilfeorganisationen und ihre Aktivitäten sehr zum Tragen kommen können [18], ist die Intensivierung von Sport und Bewegung insbesondere in der Natur durchaus auch im Rahmen des Rehabilitations- und Breitensports denkbar und günstig. Dies kann aber auch im Sinne einer Achtsamkeitsübung mit dem Spazierengehen verbunden werden, bei dem es darum geht, den Blick „nach außen“ zu weiten. Outdoor-Aktivitäten sind sowohl organisatorisch einfacher als auch im Sinne des Patienten annehmbarer. Eine Umorientierung der strukturierten Angebote erscheint wünschenswert und auch unter Pandemiebedingungen durchführbar.
Die vorgelegten Daten können aber auch Ansatzpunkte für die individuelle Betreuung des Patienten geben. Wenn für unsere Tumorpatienten die Achtsamkeit für den Moment deutlich herabgesetzt ist, so lässt sich das in der individuellen Führung eines Patienten als mögliche Auffälligkeit ansprechen, in einer Begleitung üben oder auch zum Thema einer psychoonkologischen Therapie machen. Hier sind vermutlich die Unsicherheit und der Stress aufgrund der Einschränkungen ursächlich anzunehmen.
Der Ansatz der traditionell seelsorgerischen Begleitung scheint bei unserer Studiengruppe eher eine untergeordnete Rolle zu spielen. Dennoch ist bei etwa 60 % Patienten christlicher Prägung ein möglichst niederschwelliges Angebot zu organisieren [19], um auch diese Möglichkeiten zur Steigerung der Resilienz auszuschöpfen.
Welche Limitationen gibt es bei den beiden Umfragen zu beachten?
Methodisch muss man insbesondere bei der Befragung der Patienten während des Lockdowns berücksichtigen, dass es sich hier nicht um einen klassischen Fragebogen, sondern mehr um ein standardisiertes Kurzinterview gehandelt hat. Folglich gibt es für den Fragebogen keine ausreichende Validierung. Er ist vielmehr ein Produkt des gesellschaftlichen Zustands zum Entstehungszeitpunkt (April 2020). Die Befragung 2 hingegen wurde mit standardisierten Instrumenten absolviert, sodass eine Vergleichbarkeit zu anderen Patientenkohorten gegeben ist. Spezifische Daten mit HNO-Tumorpatienten gibt es bisher nicht.
Überraschend ist sicherlich der hohe Anteil von Betroffenen mit Kopf-Hals-Tumoren, die an beiden Untersuchungen teilgenommen haben. Hier kommt die Verteilung des Fragebogens über das Haus der Krebs-Selbsthilfe in Bonn zum Tragen. Der Bundesverband der Kehlkopfoperierten ist eine der am besten organisierten deutschen Selbsthilfegruppen. Andererseits muss betont werden, dass die informierten, offenen Patienten eben vorwiegend in der Selbsthilfe integriert sind und wir bei unseren Teilnehmern eher eine Positivauswahl hatten.
Auch wenn in beiden Untersuchungen eine relativ hohe Anzahl von Kopf-Hals-Tumorpatienten teilnahm, so muss die Qualität der Datenangabe bedacht werden. Spezifische Aussagen zu einzelnen Funktionsstörungen (Stimme, Artikulation, Nahrungsaufnahme) sind praktisch nicht möglich. Hierfür ist sowohl die Zahl der Teilnehmenden zu klein als auch die sprachliche Variabilität in den einzelnen Antwortbereichen zu groß.
Fazit für die Praxis
Trotz der erhöhten physischen und seelischen Belastung fühlten sich unsere Tumorpatienten im April-Lockdown versorgt. Organisatorische Ausgleichsmechanismen haben in ihren Augen funktioniert, auch wenn insgesamt natürlich eine erhöhte Angst und Neigung zu depressiven Verstimmungen zu verzeichnen war. Gerade wegen der kommunikativen Einschränkung kommt dem Bereich von Spiritual Care in der Entwicklung von Coping-Strategien eine besondere Rolle für HNO-Tumorpatienten zu. Eine proaktive Verflechtung von supportiven Behandlungsangeboten (Sport, Ernährung, Logopädie, Seelsorge, Selbsthilfe) kann die individuelle Situation der Betroffenen auch in Krisenzeiten wie der COVID-19-Pandemie deutlich verbessern.