Jahrhundert die Asien- und Afrikafahrt des Chinesen Zheng
He, die (Wieder-)Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus und die Indienfahrt
Vasco da Gamas, im 16. Jahrhundert die Weltumsegelungen durch Magellan und Francis
Drake sowie die weiteren systematischen englischen Forschungsreisen, von James Cook
im 18. Jahrhundert bis zur Reise der Beagle mit Charles Darwin an Bord im 19.
Jahrhundert. Das 20. Jahrhundert streckte sich dann nach den Sternen aus: 1959 mit
dem ersten Weltall-Flug von Sputnik 1, 1961 mit der ersten bemannten Raumfahrt (Juri
Gagarin), 1969 glückte mit Apollo 11 die Landung auf dem Mond, 1997 die
Landung eines Rovers auf dem Mars, 2014 eine Landung auf dem Kometen
67P/Tschurjumow-Gerassimenko (ESA-Mission Rosetta).
Möglich wurden diese Fahrten nicht nur durch Wagemut und Geschick, sondern im
hohen Maß auch durch Technologie und Wissenschaft – v. a. auf dem
Gebiet der Navigation, der Steuermannskunst (Latein: Navigare/Sanskrit:
Navgathi). Die Instrumente dafür wurden in geschichtlich langer Reihenfolge
entwickelt: Lot und Kompass, Astrolab und Jakobsstab, Sextant und Chronometer,
Astronavigation und Funkpeilung und mit dem Fortschreiten von Raumfahrt und
digitalen Technologien die heutigen Systeme der globalen Navigationssatelliten wie
das amerikanische GPS, das russische GLONASS, das chinesische Beidou und das
europäische Galileo.
Der Bezug zum Gesundheitswesen? Hier sei eine Analogie zur COVID-19-Pandemie
2020/21 versucht. Die Notwendigkeit zur möglichst genauen
Positionsbestimmung anhand der Meldedaten und Studienergebnisse, die Festlegung
eines bestmöglichen gesellschaftlichen Kurses in den Konferenzen der
politischen Staatenlenker und das Halten und beständige Nachjustieren eines
solchen Kurses ähnelt dem Vortasten ins Unbekannte der großen
tatsächlichen Erkundungsfahrten und auch der sagenhaften Durchfahrt zwischen
„Skylla und Charybdis“, als Metapher einer Balance zwischen einem
Zu-Wenig und einem Zu-Viel, in der Hoffnung auf ein glückliches Ende der
(Irr-)Fahrt. Damals wie heute kommt der Navigation als dafür tragender
Wissenschaft und Kunst eine zentrale Bedeutung zu.
Was wären die zentralen „Navigationsinstrumente“, um im Bild
zu bleiben, während einer Pandemie? Um bei der Positionsbestimmung als
Ausgangspunkt zu beginnen: Im Vordergrund stehen hier die Meldefälle nach
dem Infektionsschutzgesetz (IfSG), überwiegend auf Basis der pflichtigen
Labormeldungen und ergänzt um weitere Angaben wie Infektionsumfeld,
Erkrankungsbeginn und Vitalstatus (cf. www.rki.de). Auch wenn man sich hier in
Analogie zur Wasserstandsmeldung unter dem Kiel
größtmögliche zeitliche Nähe wünscht
– dieser Wunsch wird bezogen auf den tatsächlichen Zeitpunkt der
Erregerübertragung wohl auf absehbare Zeit eine Utopie bleiben, trotz
technischer Neuerungen wie der DEMIS-Plattform zur raschen elektronischen
Übermittlung der Labordaten. Nicht nur, dass auch schnelle Meldungen
hinsichtlich ihrer Richtigkeit vor einer weiteren Übermittlung zu
prüfen sind und hier ein Trade-off zwischen Geschwindigkeit und Genauigkeit
zu berücksichtigen ist. Mehr noch ist zu bedenken, dass diese Meldezahlen
der Laboruntersuchungen immer zu spät kommen und nur die Vergangenheit
abbilden können, gleichsam einen „Blick in den
Rückspiegel“ geben. Der eigentlich interessierende Moment
„unter dem Kiel“, der Zeitpunkt der Infektionsweitergabe, ist dann
schon längst Vergangenheit. Er wird dabei gefolgt von einer Latenz- und
Inkubationszeit bis zu den ersten wahrnehmbaren Krankheitssymptomen, welche zwischen
2 Tagen und 2 Wochen liegen kann, im Mittel bei 5–6 Tagen. Kritisch ist,
dass sich schon 2–3 Tage vor dem Symptombeginn die Hälfte der
Infektionsweitergaben durch die betroffene Person ereignet hat. Rechnet man dann
noch die Zeiten bis zur Durchführung eines Abstriches für eine
laboranalytische Untersuchung, die Laborlaufzeiten und die Zeiten der Meldewege
hinzu, sind bereits 10 Tage vergangen, wenn die Meldung in den Landes- und
Bundesstatistiken erscheint, dort bewertet und zur Grundlage von Maßnahmen
genommen wird. Und analog werden sich die Effekte von rasch eingeleiteten
Gegenmaßnahmen wiederum erst 10 Tage später erstmals an den
Meldefällen erkennen lassen [1].
Gleichzeitig ist noch ein zusätzlich wirksamer Trend im Auge zu behalten,
gleichsam eine langsame Abdrift dieser Meldezahlen, welche sich aus der relativen
„Ebbe“ und „Flut“ der insgesamt
durchgeführten Testzahlen bei der Suche nach Infektionen ergibt. Angesichts
eines „Dunkelfeldes“ zwischen einem und fünf unerkannt
gebliebenen Infektionen je tatsächlichem Meldefall ist auch nicht
verwunderlich, dass bei einer Ausweitung der Testungen auch mehr Fälle
gefunden werden. Dies allerdings in unbeständiger Proportionalität
von Hellfeld und Dunkelfeld, was die mittel- und langfristige Interpretation von
absoluten Werten und Trends erschwert [2].
Hinzu kommen Unvollkommenheiten der Testsysteme, welche falsch-positive und
falsch-negative Testergebnisse bedingen und bei der Interpretation der Meldezahlen
ebenfalls mit ins Kalkül gezogen werden müssen, insbesondere in
Niedrigprävalenzlagen [3]
[4]
[5].
So hält man sehnlich nach festen Bezugspunkten Ausschau, nach
Leuchttürmen und markanten Markierungen. Solche Fixpunkte mit
gegenüber den Meldefällen verbesserter Validität existieren
tatsächlich. Es handelt sich hier zum einen um die gemeldeten
Todesfälle an bzw. mit COVID-19, wobei diese genaue Unterscheidung
für die Aufgabe der Surveillance und Trendbestimmung von untergeordneter
Bedeutung ist. Der Anteil von COVID-19 Diagnosen ohne kausalen Bezug wird dabei auf
etwa 12% geschätzt [6]. Die
Todesfälle treten im Mittel etwa 2–3 Wochen nach der Infektion ein,
mithin etwa eine Woche nach Eingang der Meldungen. Der Vorteil ist, dass die
Todesfälle vermutlich annähernd vollständig erfasst werden
und bei Kenntnis der anzunehmenden Sterblichkeit unter den Infizierten einen
Rückschluss auf die tatsächlichen Infektionszahlen zulassen. Auch
hier ist für eine relative Trendbewertung die exakte Bestimmung des
Sterberisikos bei Erkrankung (Letalität bzw. englischsprachig Case Fatality
Rate, CFR) bzw. des Sterberisikos bei Infektion (Infection Fatality Rate, IFR)
zunächst nicht erforderlich. Diese relative Trendbewertung sollte allerdings
nur anhand der absoluten Fallzahlen oder aber einer spezifischen
bevölkerungsbezogenen Mortalität erfolgen, nicht anhand der
vergleichsweise volatilen Meldefall-bezogenen Sterblichkeit. Eine europaweite
Übersicht zum bevölkerungsweiten (Excess-)Sterblichkeitsgeschehen
bietet das europäische Projekt EUROMOMO (www.euromomo.eu). Der
Vollständigkeit halber seien auch noch die Todesfälle wegen COVID-19
erwähnt – die namenlosen und ungezählt gebliebenen
tragischen Schicksale derjenigen, welche wegen einer Priorisierung des
COVID-19-Geschehens bei Diagnose, Therapie und Rehabilitation eine Posteriorisierung
ihrer medizinischen Versorgung erfahren und im Weiteren ihr Leben verloren haben
– oder auch in Folge der ökonomischen Auswirkungen insbesondere in
ärmeren Weltregionen.
Einen weiteren Orientierungspunkt bieten auch die Belegungszahlen der
Intensivpflegebetten durch Patienten/innen mit COVID-19-Nachweis, welche
einen Höhepunkt etwa drei Wochen nach der unbemerkt gebliebenen Infektion
aufweist, mithin etwa 10–12 Tage nach einem Gipfel bei den Meldezahlen.
Diese lassen sich ebenfalls im zeitlichen Trend und im regionalen Vergleich
beobachten und analysieren (www.divi.de). Nicht zuletzt bildet auch die zeitvariable
Reproduktionszahl R(t) einen Trend vergleichsweise robust ab: Da sich R(t) auf das
Verhältnis der um die Wochenperiodizität geglätteten
Meldezahlen bezieht, lässt sich dieses Verhältnis z. B. auch
stabil aus der zeitveränderlichen kumulativen 7-Tages-Inzidenz für
jeweils ein 4-tägiges serielles Intervall abschätzen.
Gegenüber den langfristigen Trends einer Veränderung des
Verhältnisses von Hell- und Dunkelfeld bleibt diese Maßzahl damit
– anders als die Anzahl der Meldefälle selbst – auch im
zeitlichen Längsschnitt unempfindlich.
Zudem lassen bei einer längsschnittlichen Analyse die Meldefallzahlen als
altersspezifische Inzidenzen über einen begrenzten Zeitraum durchaus
relevante Interpretationen im Vergleich der Altersgruppen untereinander zu: Sie
lassen z. B. Ende des Jahres 2020 zunächst einen Anstieg bei den
jungen, berufstätigen Erwachsenen erkennen, welchem erst zeitlich
anschließend ein Anstieg bei den Kindern und zuletzt ein Anstieg bei den
hochaltrigen, über 80jährigen Bevölkerungsgruppen folgt, der
dann eine Eigendynamik entwickelt. Es liegt nahe, in dieser zeitlichen Abfolge bei
den Meldezahlen auch eine zeitliche und womöglich kausale Abfolge des
Infektionseintrags zu vermuten. Die überschießende Dynamik bei den
hochaltrigen Altersgruppen könnte einer institutionellen Unterbringung in
Alten- und Pflegeheimen und einer dort besonders intensiven Nachverfolgung von
Kontaktketten geschuldet sein. Wesentlich sind auch regionale Analysen –
kleinräumig als small area Analysen, Analysen auf Ebene der Kreise, der
Länder, der Nationalstaaten und darüber hinaus. Wichtig ist, neben
der Beobachtung innerhalb der gegebenen regionalen Zuständigkeiten auch
immer den weiteren Horizont im Auge zu behalten – ein erhöhter
Infektionsdruck z. B. in Folge von Mutationen und damit entstandenen
„Variants-of-Concern“ (VoC) machen ebenso wie Eisberge nicht an
Verwaltungs- oder Staatsgrenzen halt.
Ergänzen lassen sich solche „Augapfelnavigationen“ auch noch
durch eine Betrachtung des zeitlichen Verlaufs der Testpositivrate der
durchgeführten Testungen als Maß für den augenblicklichen
Infektionsdruck, wobei „Verdünnungs“- und
„Konzentrations“-Effekte durch die Zu- und Abnahme der Gesamtzahl
der durchgeführten Testungen mit zu beachten sind. Dass über die
Analyse dieser Routinedaten hinaus auch noch gezielte Studien wertvolle
Beiträge liefern können, z. B. als repräsentative
Erhebungen mit validierter Methodik, als seroepidemiologische Studien, als
stichprobenartige Gesamtgenomsequenzierung, als Sentinel-Erhebungen, als
Umweltbeprobung oder als Erhebungen zu Impfraten und Impfeffektivität, ist
an dieser Stelle ebenfalls deutlich zu sagen. Dies beinhaltet auch eine aufmerksame
Beobachtung der nationalen und internationalen wissenschaftlichen
Fachveröffentlichungen.
An eine solche sachkundige Positionsbestimmung, welche über „die
Zahlen“ der Tagesmedien weit hinausgeht, kann sich wiederum eine intelligent
und sachkundig beratene Festlegung des bestmöglichen Kurses für die
Zukunft anschließen. Dafür passende Instrumente sind u. a.
Hearings, Modellierungen und formale Methoden der Konsensfindung unter Experten.
Dass Politik durch Evidenz nur informiert werden kann und politische Entscheidungen
zu Pandemiefragen nicht allein aus den Domänen Epidemiologie, Virologie und
Infektionsschutz informiert werden dürfen und können, ist ebenfalls
festzuhalten. Entscheidungen müssen zudem häufig auch unter
Unsicherheit getroffen werden. Das Halten und Nachjustieren eines gewählten
Kurses ist wiederum vor allem eine Kunst – die politische „Kunst des
Möglichen“ und verlangt gelingende und intensive Risiko- und
Krisenkommunikation [7]
[8]
[9]. Die zuletzt genannten Aufgaben der
Kurswahl und des Kurshaltens oder auch Nachjustierens sind allerdings Aufgaben der
Kapitäne, nicht mehr der Navigationsoffiziere.
Die Beiträge in diesem Heft wollen in diesem Sinn ihren Beitrag zu einer
evidenzinformierten, bestmöglichen Entscheidungsfindung leisten: Zu
Veränderungen im Sportangebot durch die COVID-19 Pandemie, zu Auswirkungen
der Ausgangsbeschränkungen im Zusammenhang mit Covid-19 auf
Supermarktbesuche, zur Sinnhaftigkeit der Desinfektion öffentlicher
Flächen zur Prävention von SARS-CoV-2, zur Rolle von Rapid Reviews
in Zeiten von COVID-19 – Erfahrungen des Kompetenznetzes Public Health, zur
Akzeptanz von Versorgungsangeboten zur ausschließlichen Fernbehandlung am
Beispiel des telemedizinischen Modellprojekts „docdirekt“, zur
Entwicklung einer Schulung zur Förderung der Gesundheitskompetenz von
Patienten mit variablem Immundefekt (CVID), zur Beziehung zwischen sozialer
Mediennutzung, subjektiver Gesundheit und Risikoverhalten im Kindes- und
Jugendalter, zu Determinanten der kognitiven Entwicklung bei Kindern, zur Evaluation
der Sprachaufgaben des sozialpädiatrischen Entwicklungsscreenings
für Schuleingangsuntersuchungen (SOPESS), zum Zusammenhang zwischen
sozioökonomischem Status und Entwicklungsstand sowie mit einer Stellungnahme
des „Expertenkreises Aerosole“: Aerosole und SARS-CoV-2 –
Entstehung, Infektiosität, Ausbreitung und Minderung luftgetragener,
virenhaltiger Teilchen in der Atemluft.
Um am Ende noch einmal zum Anfang zurückzukommen: Das Ziel solchen
Navigierens ist in der weiteren Zielsetzung wie auch in der Vergangenheit
paradoxerweise nicht so sehr das ursprünglich vielleicht gesuchte Abenteuer,
sondern im Gegenteil eine sichere Fahrt auch durch gefährliche
Gewässer. Dafür ist eine solide theoretische wie auch praktische
Aus-, Weiter- und Fortbildung der betroffenen Berufsgruppen ebenso notwendig wie das
sorgfältige proaktive und prospektive wissenschaftliche Kartieren der zu
befahrenden Regionen, wie dies bspw. in den Seekarten und den auch finanziell
kostspieligen Satellitennavigationssystemen zum Ausdruck gekommen ist und in
Primärdatenstudien, Sekundärdatenanalysen und Modellierungen,
Gesundheitsberichte und auch Konzepte zur pandemic preparedness, zu Leit- und
Richtlinien übersetzt werden könnte. Notwendige Stützpunkte
auf diesen Fahrten könnten die entsprechend auf- und ausgerüsteten
Gesundheitsämter werden, die für diese theoretische und praktische
Ausrüstung notwendigen Navigationsschulen die zugehörigen
universitären bzw. akademischen Strukturen: ÖGD-Lehrstühle
und Schools of Public Health. Die Investition von Mitteln in solche Vorhaben
dürfte sich ebenso wie bei der Seefahrt durch die zu erwartenden
Erträge mehr als lohnen – neue Abenteuer in einer Welt der Ideen
inbegriffen, die von Sputnik V bis „One Health“ und vermutlich auch
darüber hinaus reichen.