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DOI: 10.1055/a-1363-6344
Suizidprävention und Palliativmedizin
„Was sind denn das für Wesen, die man zuletzt wegschrecken muss mit Gift?“
Rainer Maria Rilke
Liebe Leserin, lieber Leser,
kaum eine Diskussion über das Sterben ist emotional so aufgeladen wie die Debatte um den assistierten Suizid. Im klinischen Kontext begegnet sie uns direkt im Gespräch mit sehr belasteten Patienten, aber auch im fachlichen und öffentlichen Diskurs. Aktuell ist die Debatte seit über einem Jahr wieder sehr entbrannt, nachdem das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 26. Februar 2020 die Regelung des § 217 StGB für nichtig erklärte hat. Wir bedanken uns deshalb bei der Schriftleitung für die Möglichkeit, aus dem Nationalen Suizidpräventionsprogramm für Deutschland (NaSPro) die Verbindung von Palliativmedizin und Suizidprävention darstellen zu können.
Suizidprävention dient Menschen, die Unterstützung oder Hilfe dabei suchen, sich mit ihren suizidalen Gedanken auseinanderzusetzen und auch nach Möglichkeiten suchen, ihr Leben nicht in einem Suizid enden lassen zu müssen. Suizidprävention basiert auf der multidisziplinären wissenschaftlichen Disziplin der Suizidologie [1]. Um diesen Weg zur ermöglichen, versuchen suizidpräventive Maßnahmen auch die Möglichkeiten vorschneller und impulsiver suizidaler Handlungen zu minimieren. Aus diesem Grund ist die Restriktion des Zugangs zu Suizidmitteln die am besten untersuchte wirksame Form der Suizidprävention [2] [3] [4]. Dies zeigte sich z. B. beim Rückgang der Suizidraten in der Schweiz nach Verschärfung der dortigen Waffengesetze in 2003 [5]. Suizidprävention richtet sich an die gesamte Gesellschaft, an Menschen mit einem Risiko für suizidales Erleben und Verhalten, an Menschen, die aktuell suizidal sind, suizidal handeln und an deren Angehörige, Freunde und Kollegen [6]. Innerhalb der Medizin wird Suizidprävention besonders in den Fächern betrieben, die sich mit psychischen Problemen befassen, sie ist darauf aber keinesfalls begrenzt. Ein Feld der Suizidprävention stellt die Palliativmedizin und die Hospizarbeit dar und hier besonders die Situation von Menschen in der Nähe des Lebensendes, die durch aktives Tun ihrem Leben ein Ende setzen wollen.
Alle Gedanken, Gefühle und Handlungen, die auf Selbstzerstörung durch selbst herbeigeführte Beendigung des Lebens ausgerichtet sind, sind unter dem Begriff der Suizidalität zu fassen [7]. Suizidalität ist individuell kein über die Zeit beständiges Phänomen. Von allen Personen, die einen Suizidversuch überlebten, unternehmen mindestens 70 % keinen weiteren Suizidversuch. Nur 10 % der Menschen versterben nach einem Suizidversuch in den folgenden Jahren durch Suizid. Die Dauerhaftigkeit eines Suizidwunsches hängt von vielen Faktoren ab, besonders auch von aktuellen Beziehungserfahrungen und dem Erleben von Hoffnung oder Hoffnungslosigkeit. Todeswünsche, auch die nach einem schnellen, einem hastigen Tod („hastened death“) können Ausdruck von Suizidalität sein, müssen es aber nicht. Todeswünsche und Suizidwünsche können vielfältige Formen annehmen, so auch den Wunsch nach assistiertem Suizid und nach Tötung auf Verlangen. Beide mögen sich ethisch und rechtlich unterscheiden, klinisch-phänomenologisch tun sie dies oftmals nicht. Patienten formulieren suizidale Gedanken nicht nach dem Gesetzbuch. Vielmehr bestimmen oftmals biografisch vorgezeichnete Gründe den Wunsch nach der selbst eingenommenen Pille oder der verabreichten Spritze.
Bis zu 90 % der vollendeten Suizide erfolgen vor dem Hintergrund einer psychischen Störung. Der Zusammenhang von psychischer Störung und Einschränkung von Freiverantwortlichkeit, Selbstbestimmungs-, Einsichts- und/oder Steuerungsfähigkeit, wie auch der Einwilligungs- und Urteilsfähigkeit ist hoch komplex und bedarf einer besonderen Expertise [8]. Was genau „Freiverantwortlichkeit“ in der Entscheidung zum Suizid bedeutet und inwieweit Menschen sich im suizidalen Prozess frei, autonom, unabhängig, wohlüberlegt und fundiert entscheiden können, ist bisher nicht wissenschaftlich geklärt.
Die Grundhaltung der Suizidprävention ist heute von einer wissenschaftlich fundierten, menschlichen Haltung geprägt [9]. Im Vordergrund stehen das Verständnis der individuellen Umstände der Betroffenen und das Angebot – nicht der Zwang – zur Hilfe. Hilfe erfolgt in einer Beziehung, die den Anderen achtet und die hinter dem Suizid- oder Todeswunsch stehende individuelle Konfliktsituation auf der Basis von Vertrauen zu verstehen sucht. Die Möglichkeit des Suizids wird dabei weder verboten, noch „weggeredet“, vielmehr kann der Spielraum innerer und äußerer Möglichkeiten sich zu entscheiden und zu handeln erkundet werden. Dies kann sich über Wochen und Monate erstrecken und zu einem selbstbestimmten Weg führen.
Die Behandlung schwerkranker, symptombelasteter Menschen mit den Mitteln der Palliativmedizin und der Hospizarbeit wird seit Jahren als Suizidprävention verstanden [10] [11] [12]. Die amerikanischen Suizidologen Farberow und Kolleg*innen beschrieben bereits 1963 [13] die Risikofaktoren präterminaler und terminaler suizidaler Patienten mit Krebserkrankungen: Hierzu gehören u. a. unbeherrschbarer Schmerz, Depression, Angst vor Kontrollverlust und Hoffnungslosigkeit. Der Diskurs über das Phänomen des Wunsches nach schnellem, selbst herbeigeführtem Sterben entwickelte sich im Palliativbereich über Jahre unter der Bezeichnung des „Todeswunsches“ und des „hastened death“, weil mit dem Begriff der Suizidalität rasch eine psychiatrische Diagnose und besonders auch psychiatrische (Zwangs-)Behandlungen verstanden wurden und nicht das Angebot eines verstehenden Gegenübers. Erst mit der S3-Leitlinie „Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung“ [14] [15] konnte sowohl theoretisch wie praktisch-leitliniengerecht ein übergeordnetes Verständnis von Todeswünschen und Suizidalität aus suizidpräventiver und palliativmedizinischer Perspektive entwickelt werden. Parallel dazu wurden professionelle Handlungskonzepte zum Umgang mit Todeswünschen im palliativen Setting entwickelt und empirisch validiert [16].
Angesichts der Debatte um eine gesetzliche Regelung der Suizidassistenz entstehen aus Palliativmedizin und Suizidprävention gemeinsame Ausrichtungen und Forderungen:
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Das Primat der Arbeit mit suizidalen Personen liegt in der Suizidprävention.
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Die Behandlung von Menschen mit Suizidgedanken, Wünschen nach Suizidassistenz und „hastened death“ sollte aktiv aufgesucht und im klärenden, verständnissuchenden, Hilfen anbietenden Gespräch erfolgen.
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Die institutionellen und flächendeckenden Angebote der Suizidprävention, der Palliativmedizin und der Hospizarbeit sind in Deutschland noch nicht ausreichend geschaffen. Gerade Menschen in existenziellen Nöten, mit Konflikten und Belastungen am Ende des Lebens müssen einen leichten Zugang zu Hilfe erhalten.
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Suizidprävention bedarf der besonderen Förderung auf regionaler und bundesweiter Ebene, sowohl für die Therapie Suizidgefährdeter als auch zur Beratung von Professionellen und anderen Helfern und zur Öffentlichkeitsarbeit. Es bedarf eines gesamtgesellschaftlichen Engagements zum Austausch über die zentralen Fragen von Leben und Sterben, von Würde, menschlicher Verbundenheit und Selbstbestimmung.
Literatur siehe online.
Reinhard Lindner
Barbara Schneider
geschäftsführende Leitung des Nationalen Suizdpräventionsprogramms für Deutschland (NaSPro)
Publication History
Article published online:
28 April 2021
© 2021. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany
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Literatur
- 1 Maris RW, Berman AL, Silverman M. Comprehensive textbook of suicidology. New York: Guilford; 2000
- 2 Mew EJ, Padmanathan P, Konradsen F. et al. The global burden of fatal self-poisoning with pesticides 2006-15: Systematic review. Journal of Affective Disorders 2017; 219: 93-104
- 3 Morthorst BR, Erlangsen A, Nordentoft M. et al. Availability of Paracetamol Sold Over the Counter in Europe: A Descriptive Cross-Sectional International Survey of Pack Size Restriction. Basic & Clinical Pharmacology & Toxicology 2018; 122: 643-649
- 4 Okolie C, Wood S, Hawton K, Kandalama U, Glendenning AC, Dennis M, Price SF, Lloyd K, John A. Means restriction for the prevention of suicide by jumping. Cochrane Database of Systematic Reviews; 2020 Issue 2. Art. No.: CD013543 DOI: 10.1002/14651858.CD013543
- 5 Thoeni N, Reisch T, Hemmer A. et al. Suicide by firearm in Switzerland: How uses the army weapon? Results from the national survey between 2000 and 2010. Wiss Med Wkly 2018; 148: w14646
- 6 WHO. National suicide prevention strategies: progress, examples and indicators. Geneva: World Health Organization; 2018
- 7 Lindner R. Suizidale Männer in der psychoanalytisch orientierten Psychotherapie. Eine systematische qualitative Studie. Gießen: Psychosozial-Verlag; 2006
- 8 Cording C, Saß H. Die Freiverantwortlichkeit der Entscheidung für einen assistierten Suizid. Ein Diskussionsbeitrag aus forensisch-psychiatrischer Perspektive. NJW 2020; 37: 2695-2696
- 9 Lindner R, Schneider B, Sperling U, Wolfersdorf M, Fiedler G. Zur möglichen Neuregelung der Suizidassistenz. Offener Brief an Bundesgesundheitsminister J. Spahn. Online-Dokument. 2020. https://www.naspro.de/dl/2020-NaSPro-AssistierterSuizid-Spahn.pdf (zuletzt aufgerufen 23.03.2021)
- 10 Diehl K, Erlemeier N, Lindner R. et al. Suizidprävention und Sterbehilfe. Stellungnahme der AG „Alte Menschen“ im Nationalen Suizidpräventionsprogramm für Deutschland (NaSPro) 17.10.2006. Suizidprophylaxe 2007; 34: 190
- 11 Lauter H. Ärztliche Suizidassistenz bei Demenzerkrankungen?. Nervenarzt 2011; 82: 50-56
- 12 Lindner R, Vogel J. Ich kann nicht sagen: „Es geht mir schlecht“. Der Sterbende und Suizidalität. Eine Kasuistik. Suizidprophylaxe 2012; 39: 19-23
- 13 Farberow NL, Shneidman ES, Leonard CV. Suicide among general medical and surgical hospital patients with malignant neoplasms. Medical Bulletin 9 Washington, DC: U.S. Veterans Administration; 1963
- 14 Deutsche Krebsgesellschaft, D.K., AWMF. Leitlinienprogramm Onkologie. Erweiterte S3-Leitlinie Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht-heilbaren Krebserkrankung Langversion 2.2. 2020. Online-Dokument: (zuletzt aufgerufen 23.03.2021) https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/128-001OLl_S3_Palliativmedizin_2020-09_02.pdf
- 15 Kremeike K, Pralong A, Boström K. et al. on behalf of the Working Group on Desire to Die of the German Palliative Care Guideline. ‘Desire to Die’ in palliative care patients – legal framework and recommendations of the national evidence-based guideline on palliative care in Germany. Ann Palliat Med 2020; DOI: 10.21037/apm-20-381.
- 16 Kremeike K, Perrar KMP, Lindner R. et al. Todeswünsche bei Palliativpatienten – Hintergründe und Handlungsempfehlungen. Zeitschrift für Palliativmedizin 2019; 20: 323-335 DOI: 10.1055/a-0733-2062.