Auf die Charakterisierung einer Epidemie bzw. Pandemie als ganz wesentlich auch
sozial(systemisch)es Phänomen war schon hingewiesen worden [2]. Ein Paradoxon angesichts der doch
vordergründig klaren biomedizinischen Zusammenhänge mit einem
biologischen Mikroorganismus und dessen Auswirkungen auf einen ebenfalls biologisch
verstehbaren Wirtsorganismus? Auch wenn diese systemische Charakterisierung
zunächst nur in dem engeren Zusammenhang der epidemiologischen Triade
aus Erreger (Agent), Wirt (Host) und natürlicher, technischer und sozialer
Umwelt (Environment) zu verstehen ist, bleibt sie auch in einem weiteren Rahmen
für die diversen sozialen Systeme gültig. Ein Grund, sich diesen
weiteren Rahmen näher anzusehen.
Um bei der Bezeichnung „Infodemie“ zu beginnen - hier sind die
Wortbestandteile der „Information“ und der „demie“,
also dessen, was sich im Volk (demos) gleichsam krankmachend verbreitet, zu
betrachten. Bezogen auf die Information lässt sich ein Missbrauch von
Information, also ein fehlgeleiteter Zweck oder auch eine gezielte
Falschinformation, von einem „Zuviel“ an Information, einem
information overload abgrenzen. Hinzu kommen noch individuelle Reaktionen
des Informationsempfängers auf die dargebotene Information im Sinne einer
thematischen Ermüdung (information fatigue) oder auch einer
Abwehrreaktion auf Grund fehlender emotionaler Ansprache.
Dass die oft nur schwer sichtbaren Krankheitsursachen sowohl zu ihrer Leugnung
(Denialism) wie auch zur Erfindung phantasievoller Ätiologien und
Pathogenesen nebst zugehöriger, finanziell einträglicher Diagnose-
und Therapieangebote führen können, ist eine buchstäblich
leidvolle, hinlänglich bekannte Tatsache [3]
[4]. Die Informationskrise einer
Infodemie beschränkt sich allerdings nicht nur auf eine fehlende
Gesundheitsbildung und Gesundheitskompetenz allein, als Hintergrund für
windige und potenziell schädigende Akteure wie in alten Zeiten: „Ich
bin der Doktor Eisenbart, Widewidewitt, bum, bum, kurier‘ die Leut auf meine
Art, Widewidewitt, bum, bum…“ Unseriöse
Krankheitserfindungen und Ursachenzuschreibungen können in der Gegenwart
auch angestrebtes Ergebnis strategisch-planvollen Handelns von grundsätzlich
sehr gut informierten Interessensgruppen sein [5]
[6]
[7].
Bisher waren solche Fehlinformationen zumeist Ereignisse im Binnenraum des
Gesundheitswesens, Aktivitäten von Personen und Institutionen mit
wirtschaftlichen Interessen innerhalb des Systems
„Gesundheitswesen“. Auch dies findet sich in der Coronapandemie
2020/21 wieder: Neben der Leugnung der Pandemie das Anpreisen von
diagnostischen Wunderwaffen mit weit überzogenen Behauptungen zu deren
Leistungsfähigkeit, die Verbreitung unseriöser therapeutischer
Heilsversprechen im Bereich der Allopathika, Homöopathika und rein
pflanzlichen Produkte oder auch das smarte Besetzen von Nischen und das Ausnutzen
von Gelegenheiten mit den unerwünschten Effekten von gleichzeitiger
Über-, Unter- und Fehlversorgung auf Systemebene. Und auch die
seriösen Handlungsoptionen, z. B. Impfangebote oder Schutzmasken,
können durchaus unseriös gehandelt werden: mit rhetorisch und
rechtlich verklausulierten, kalkulierten Vertragsbrüchen, nur schwach
verhohlenen Eigeninteressen bei der Preisfindung und unlauteren Gewinnerwartungen
bei den Mittelsmännern und -frauen.
Was uns die Infodemie darüber hinaus nun neu beschert, sind weitreichendere
gesellschaftspolitische Einflussnahmeversuche. Um hier nur beispielhaft die Bewegung
der „Querdenker“ herauszugreifen: „Es handelt sich nicht um
eine, sondern um mehrere, häufig disparate soziale Gruppen, die über
geteilte Mentalitäten verbunden sind“, so die Basler
Soziologiestudie von Oliver Nachtwey. „Charakteristisch für diese
neue Bewegung ist eine starke Entfremdung von den Institutionen des politischen
Systems, den etablierten Medien und – zumindest für Deutschland
– den alten Volksparteien“ [8].
Und so werden denn auch die Methoden der Anthropologie und Ethnologie
bemüht, um Erkenntnisse über diesen inmitten einer hypermodernen
Gesellschaft zunächst so fremden, offenbar neu entstandenen
„Stamm“ zu gewinnen und Ansätze zu dessen
Verständnis zu bekommen. Ein Teil des Fazits: „Die Entfremdung von
der industriell geprägten und durchrationalisierten Hypermoderne zeigt sich
nicht nur in der Skepsis gegenüber ihren Institutionen, wie z. B.
den Parteien, sondern auch bezüglich einer romantisch inspirierten
Hinwendung zu ganzheitlichen, anthroposophischen Denkweisen, dem Glauben an die
natürlichen Selbstheilungskräfte des Körpers, Forderungen
nach mehr spirituellem Denken und dem Wunsch, Schulmedizin und alternative
Heilmethoden gleichzustellen.“ [8, ebd.]. Ob diese beklagte
Skepsis immer so ganz grundlos ist, sei angesichts des durchaus auch
diskussionswürdigen Agierens von etablierten Personen und Parteien im
gesellschaftlichen Mainstream dahingestellt.
Sind viele Menschen der Moderne von eben dieser Moderne vielleicht
überfordert und ziehen sich in eine Vormoderne zurück, kaschiert als
Postmoderne? Der Mensch sei ein Augentier, aber das Virus lasse sich so einfach
nicht sehen, räsoniert der Philosoph Albert Newen dazu. Wissenschaft werde
von Populisten zunehmend in Verruf gebracht, welche „das Volk“ gegen
„die Elite“ in Stellung bringen, meinen andere [9]. Dritte räsonieren über die
Rolle des Wissenschaftsjournalismus und diagnostizieren einen tiefgehenden
Vertrauensverlust zwischen Wissenschaft und Politik [10]: Der Weg von den Daten zur Information, vom Wissen bis zum
Bewusstsein scheint länger – oder vielleicht auch verstopfter
– geworden zu sein.
Hier sind wir auch schon bei dem Wortbestandteil der krankmachenden
Info-„demie“ angelangt: Jede Krise ist (auch) eine Informationskrise
[11]. Kann uns denn die Wissenschaft aus
dieser Krise retten - oder kämpft die Wissenschaft womöglich derzeit
mit sich selbst? Sind wissenschaftliche Publikationen als Basis des Wissen-Schaffens
dabei, durch ihre vorgezogene Verfügbarkeit in Preprint-Archiven und ihre
Referenzierung schon als Vorab-Publikationen in ihrem Kern, nämlich der
kritischen Überprüfung ihrer Methoden und Ergebnisse im kollegialen
Fachkreis vor einer Publikation, Schaden zu nehmen? Neben eine der Wissenschaft
inhärenten epistemische Unsicherheit treten im 21. Jahrhundert noch die
enorme Geschwindigkeit des Informationszuwachses, die teilweise divergierenden
politischen Bewertungen von wissenschaftlichen Erkenntnissen sowie die weitgehende
Regelfreiheit der neuen sozialen Medien und Informationskanäle [12]. Letztere ermöglichen wissenschaftliche
Halbwelten und ihre Protagonisten und Heroen, verkannten Lichtgestalten und
tragischen Helden, welche in ihrer Herkunftsdisziplin von der Petrischale bis zur
Alternativmedizin reichen, vom Professor emeritus bis zu den Millionen an
virologisch-epidemiologischen (Neu-)Experten in der allgemeinen
Wohnbevölkerung. In der Folge reflektieren denn auch die
Wissenschaftsphilosophen, in wieweit sie ihre fachspezifischen Wach- und
Achtsamkeitspflichten verletzt haben könnten – zunächst als
preprint, versteht sich [13]. Ein gewisser Trost
ist da die Feststellung: „Der wissenschaftliche Diskurs kennt nicht nur die
Zustände „wahr“ und „falsch“, sondern
führt in vielen Fällen eher mäandrisch zu einem Zugewinn an
Wissen“ [14]. Diese richtige Beobachtung
sollte jedoch den notwendigen einfachen, klaren und praxistauglichen Botschaften im
Rahmen der Pandemiebewältigung nicht entgegenstehen [15].
In diesem Sinne möchten auch die Berichte in diesem Heft wieder ihren Beitrag
leisten: Zu primärärztlichen Strategien und Zusammenarbeit
während der ersten Phase der COVID-19-Pandemie in Baden-Württemberg,
zum Management der ersten COVID-19 Welle in Kinder- und Jugendarztpraxen im
Saarland, zur Entwicklung der Notaufnahmefallzahlen eines Schwerpunktversorgers im
Verlauf der Corona-Pandemie in Mecklenburg-Vorpommern, zur Angst vor dem Coronavirus
und der Absicht zum Befolgen der AHA-Regeln und Risikowahrnehmung bezüglich
Arztbesuchen bei psychisch vorerkrankten Menschen, zu Auswirkungen der COVID-19
Pandemie auf die medizinische Versorgung von Patienten mit angeborenen
Blutungsneigungen, zur Herzinfarktsterblichkeit innerhalb und außerhalb der
Kliniken in Berlin, zur Integrierten Stadtentwicklung und Gesundheit am Beispiel
Hamburgs und zur subjektiven Hitzebelastung als Folge des Klimawandels in
konträren Stadtquartieren unter Aspekten der Umweltgerechtigkeit. Hinzu
kommt ein Positionspapier des Deutschen Netzwerks Versorgungsforschung (DNVF) zur
anwendungsbegleitenden Datenerhebung nach Sozialgesetzbuch V.
Um am Ende noch einmal auf den Anfang zurückzukommen: Auch die Erforschung
der Infodemie als solcher erfordert wissenschaftliche Anstrengungen. Empfehlungen
dazu sind gemacht [16]: Die Messung und das
Monitoring des Impacts einer Infodemie während einer gesundheitlichen
Notlage, ihre Aufdeckung und Nachverfolgung, die Formulierung von
Gegenmaßnahmen als Antwort mit geeigneten schützenden und den
Schaden einer Infodemie eingrenzenden Interventionen, deren Evaluation und die
darauf aufsetzende weitere Stärkung der Resilienz von Individuen und
Gemeinschaften gegen Infodemien, einschließlich der gezielten
Förderung der Entwicklung, Adaptation und Anwendung neuer Werkzeuge. Und so
wird am Ende dann wohl (gute) Information gegen (schlechte) Information stehen,
(vernünftige) Meinung gegen (unvernünftige) Meinung, (belastbare)
Evidenz gegen Evidenz (mit Bias) – diese Auseinandersetzung wird das bessere
(Ge-)Wissen hoffentlich gewinnen und könnte damit dann auch eine neue
gesellschaftliche Immunität zurücklassen. Diese infodemische
Immunität würde so die pandemische Immunität
gegenüber dem biologischen Krankheitserreger ergänzen –
„Auffrischimpfungen“ im Intervall sollten in beiden Fällen
vorgesehen werden.