Gesundheitswesen 2021; 83(04): 282-290
DOI: 10.1055/a-1399-9166
Originalarbeit

Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf die medizinische Versorgung von Patienten mit angeborenen Blutungsneigungen

Impact of COVID-19 Pandemic on Medical Care of Patients with Inherited Bleeding Disorders
1   Abteilung für pädiatrische Hämostaseologie, Pädiatrisches Hämophiliezentrum, Kinderklinik und Kinderpoliklinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital, LMU Klinikum, München, Deutschland
,
Susan Halimeh
2   Gerinnungszentrum Rhein-Ruhr, Duisburg, Deutschland
,
Cornelia Wermes
3   HämoZentrum Hildesheim-Hannover-Osnabrück, Osnabrück, Deutschland
,
Wolf Hassenpflug
4   Klinik für Kinderheilkunde, Hämatologie und Onkologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Deutschland
,
Katharina Holstein
5   II. Mediziinische Abteilung, Hämophiliezentrum, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Deutschland
,
Sylvia von Mackensen
6   Institut für Medizinische Psychologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Deutschland
› Author Affiliations
 

Zusammenfassung

Fragestellung Chronische Erkrankungen, wie z. B. angeborene Blutungsneigungen (IBD: Inherited Bleeding Disorders), gehen häufig mit einem erhöhten Versorgungsaufwand einher. Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19 Pandemie, inklusive Isolation und Triageierung, haben zu Einschränkungen in der Krankenversorgung von chronisch kranken Patienten geführt. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf die Krankenversorgung von IBD-Patienten zu untersuchen.

Methodik In dieser multizentrischen Querschnittsstudie zur Bewertung der Auswirkungen von COVID-19 auf die psychische Gesundheit und Versorgungsqualität von Patienten mit angeborener Blutungsneigung wurde ein ad-hoc Fragebogen an 586 Patienten/Eltern von Kindern mit Hämophilie A, B oder von Willebrand Syndrom Typ 3 verschickt. Neben demografischen und klinischen Daten wurden IBD Patienten zu ihren Gedanken, Sorgen und Erfahrungen in Bezug auf ihre medizinische Versorgung während der COVID-19 Pandemie befragt. Unterschiede zwischen klinischen Subgruppen wurden berechnet.

Ergebnisse Signifikante Unterschiede zeigten sich zwischen Subgruppen (Schweregrad, Art der Therapie, Produktklasse, Komorbiditäten) bezüglich Übertragung von COVID-19 durch Plasmaprodukte, Auswirkungen COVID-19 positiver Testergebnisse, Angst COVID-19 zu bekommen, verzögerter Medikamentenversorgung und Physiotherapiebehandlung.

Diskussion Die medizinische Versorgung von IBD-Patienten, die eine kontinuierliche Versorgung mit lebensnotwendigen Medikamenten benötigen, stellt in Pandemiezeiten eine besondere Herausforderung dar. Daher sollten Sorgen und Ängste von IBD-Patienten ernst genommen und innovative Kommunikationswege zur Aufrechterhaltung von Therapiestandards und Versorgungsqualität etabliert werden.


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Abstract

Background and Objectives Chronic diseases, such as inherited bleeding disorders (IBD) are often associated with high costs of medical care. COVID-19 containment measures, including isolation and triage, led to restrictions in the health care of chronically ill patients. The aim of the present study was to investigate the effects of the COVID-19 pandemic on the health care of IBD patients.

Methods In this multicentre cross-sectional study to evaluate the effects of COVID-19 on the mental health and quality of care of patients with inherited bleeding disorder, an ad hoc questionnaire was sent to 586 patients/parents of children with haemophilia A, B or von Willebrand syndrome type 3. In addition to demographic and clinical data, patients/parents of patients with inherited bleeding disorders were asked about their thoughts, concerns and experiences regarding their medical care during the COVID-19 pandemic. Differences between clinical subgroups were calculated.

Results Significant differences were found between subgroups (severity, type of therapy, product class, comorbidities) with regard to the transmission of COVID-19 through plasma products, the effects of COVID-19 positive test results, fear of getting COVID-19, delayed drug supply and physiotherapy treatment.

Discussion The medical care of patients with inherited bleeding disorders, who need a continuous supply of essential drugs, is a particular challenge in times of pandemics. Therefore, worries and fears of IBD patients should be taken seriously and innovative communication channels established to maintain therapy standards and quality of care.


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Einleitung

Hämophilie A, B (HA, HB) und das von Willebrand-Syndrom Typ 3 (VWS Typ 3) sind seltene angeborene Blutungsneigungen (IBD: Inherited Bleeding disorders). Abhängig von der Restaktivität der Faktoren VIII bzw. IX erfolgt eine Einteilung in den entsprechenden Schweregrad (schwer [<1%], moderat [1–5%], leicht [> 5%]). Das von Willebrand-Syndrom wird in einen quantitativen Defekt (Typ 1, milde Form; Typ 3, schwere Form) oder einen qualitativen Defekt (Typ 2) des von Willebrand Faktors (VWF) unterteilt. Insbesondere IBD-Patienten mit einer schweren Form benötigen lebenslang eine regelmäßige Substitution des entsprechenden Gerinnungsfaktorkonzentrats (Prophylaxe), während leichte und moderate Formen überwiegend eine sogenannte Bedarfsbehandlung bei Auftreten von Blutungen erhalten [1] [2]. Klinische Outcomes und Lebensqualität hängen wesentlich mit einer regelmäßigen Therapie und Betreuung durch ein Hämophiliezentrum zusammen [3] [4] [5] [6].

Maßnahmen zur Vermeidung bzw. Reduktion von Neuinfektionen mit SARS-CoV-2 können zu sozialer Distanzierung und Isolation beitragen [7]. Diese Maßnahmen gehen einher mit Einschränkungen in der medizinischen und pflegerischen Versorgung, beim Zugang zu Apotheken und Medikamenten oder mit der Absage von Arztterminen, sowie dem Verschieben von planbaren Operationen zur Rekrutierung medizinischen Personals auf Anweisung des Bundesministeriums für Gesundheit [8] [9] [10]. Isolation und Distanzierungsmaßnahmen können zu verstärkter psychischer Belastung in der Allgemeinbevölkerung führen. Vor allem bei Patienten mit chronischen Erkrankungen können zusätzliche Ängste und Sorgen im Zusammenhang mit ihrer Krankheit und der notwendigen Versorgung und Therapie auftreten [11] [12] [13] [14].

Für IBD Patienten spielt die Aufrechterhaltung der medizinischen Versorgung in den Hämophiliezentren während der Coronakrise eine große Rolle [10] [15] [16]. Bisher liegen nur Daten von IBD Patienten und Eltern von Kindern mit einer angeborenen Blutungsneigung zum Einfluss der COVID-19 Pandemie auf die psychische Gesundheit vor [17]. Zur medizinischen Versorgung von IBD Patienten gibt es bisher noch keine Publikationen. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die Auswirkungen der Coronakrise auf die Gedanken, Sorgen und Erfahrungen von IBD Patienten in Bezug auf die medizinische Versorgung in Deutschland zu erfassen.


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Methode

Während des „Lockdowns“ in Deutschland (22.03.2020–04.05.2020) wurde ein ad-hoc entwickelter Fragebogen an alle registrierten Patienten mit HA, HB und VWS Typ 3 oder deren Eltern (IBD Gruppe) aus fünf deutschen Hämophiliezentren (3 Hämophiliezentren im Kliniksetting, 2 Hämophiliezentren im niedergelassene Setting) verschickt.

Der ad-hoc Fragebogen (Zusatzmaterial) bestand aus 2 Teilen mit hauptsächlich geschlossenen Fragen. Teil 1: klinische und demographische Daten der Patienten (13 Fragen), Teil 2: Wahrnehmungen (3 Fragen), Gedanken (7 Fragen), Ängste/Gefühle (9 Fragen), Sorgen (9 Fragen) und Erfahrungen bezüglich der medizinischen Versorgung während der Pandemie (9 Fragen). Für eine Vergleichbarkeit mit der Allgemeinbevölkerung haben wir Fragen aus 2 repräsentativen Umfragen integriert. Drei Fragen der Umfrage vom Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) (21. April [18] und 28. April 2020 [19]) und eine Frage aus der Online-Umfrage des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) (2.–3. März 2020) [20]. Es gab keine Altersbeschränkungen für das Ausfüllen des Fragebogens, der postalisch an die entsprechenden Familien versandt wurde. In der Regel füllten Eltern den Fragebogen für ihre minderjährigen Kinder aus, wohingegen volljährige Patienten den Fragebogen selbst beantworteten.

Datenanalyse

Die deskriptive Datenanalyse wurde mit dem SPSS-Programm Version 25 (Statistical Package for Social Science; IBM®) unter Verwendung von Kontingenztabellen für kategoriale Variablen und Stichprobenstatistiken für kontinuierliche Variablen durchgeführt. Die Daten werden als Mittelwert±Standardabweichung, Median und Spannbreite (Minimum–Maximum) oder Anzahl und Häufigkeit entsprechend ihrer Verteilung dargestellt. Auf die Darstellung von Missing Data wurde verzichtet, da sie für alle Variablen unter 5 % lagen und daher keine Konsequenzen auf die Ergebnisse haben [21]. Alle Analysen wurden für die gesamte Studienpopulation (Gesamtanalyse) der IBD-Gruppe (Patienten/Eltern von Kindern mit IBD) durchgeführt und klinische Daten separat für die Altersgruppen (pädiatrische vs. erwachsene Patienten) ausgewertet. Unterschiede hinsichtlich Gedanken in Bezug auf COVID-19, Sorgen bzgl. Lieferschwierigkeiten der Faktorkonzentrate und einer möglichen COVID-19 Erkrankung, sowie Erfahrungen mit der medizinischen Versorgung wurden für klinische Subgruppen (HA vs. HB vs. VWS Typ 3; schwere vs. leichte/moderate Form der Erkrankung; Bedarfsbehandlung vs. Prophylaxe; plasmatische vs. rekombinante Faktorkonzentrate; Komorbiditäten ja vs. nein) berechnet. Subgruppenunterschiede wurden mit dem Pearson-Chi-Quadrat (χ2)-Test für kategoriale Variablen oder mit dem Student’s T-Test für kontinuierliche Variablen analysiert; p-Werte <0,05 wurden als signifikant angesehen [22] [23].


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Einhaltung ethischer Richtlinien

Alle patientenbezogenen Daten wurden entsprechend der ethischen Standards der Helsinki-Erklärung von 1964 und ihrer späteren Änderungen und nach Good Clinical Practice (GCP) erhoben. Ein Ethikvotum war aufgrund des anonymen Studiendesigns nicht notwendig (Ethikkommission der Medizinischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München, 20–431 KB).


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Ergebnisse

Insgesamt wurden 586 Fragebögen verschickt, 11 waren nicht zustellbar. 355 Fragebögen wurden zwischen dem 16.04.2020 und dem 06.06.2020 ausgefüllt zurückgeschickt (61,7% Rücklaufquote, Spannbreite über die Hämophiliezentren 54,2–73,3%).

Zoom Image
Abb. 1 Rücklauf COVID-19 Umfrage.

Zehn Prozent der Teilnehmer hatten den Fragebogen erst nach dem „Lockdown“ ausgefüllt, allerdings ergaben sich hier keine signifikanten Unterschiede in den Antworten ([Abb. 1]).

Zoom Image
Abb. 2 Gedanken im Zusammenhang mit dem neuartigen Coronavirus im Vergleich der IBD-Gruppen.

Demografische und klinische Daten

Von 355 Fragebögen wurden 200 Fragebögen von IBD Patienten (56,3%) ausgefüllt, darunter 25 Kinder (Alter: 10–17 Jahre) und 175 Erwachsene; 155 Fragebögen wurden von Eltern von IBD Patienten (43,7%) beantwortet, darunter 3 von Eltern erwachsener Patienten (Alter: 18–24 Jahre). Das Durchschnittsalter der erwachsenen Patienten (n=178) lag bei 42,90±17,3 Jahren (Spannbreite 18–79), das der pädiatrischen Patienten (n=177) bei 8,62±5,0 Jahren (Spannbreite 0,25–17) und das der Eltern bei 40,71±7,0 Jahren (Spannbreite 23–63). Der Großteil der von Eltern beantworteten Fragenbögen wurde durch Mütter ausgefüllt (87,7%).

Die klinischen Daten des Patientenkollektivs sind in [Tab. 1] dargestellt; signifikante Unterschiede zwischen pädiatrischen und erwachsenen Patienten ergaben sich für den Schweregrad (χ2=13,590, p=0,001), das Behandlungsregime (χ2=33,112, p<.0001), die Produktklasse (χ2=10,178, p=0,038) und das Vorhandensein von Komorbiditäten (χ2=55,227, p <0,0001).

Tab. 1 Soziodemografische und klinische Daten von IBD-Patienten nach Altersgruppen (n=355).

Variablen

Gesamt (n=355)

Kinder (n=177)

Erwachsene (n=178)

p-Wert

N

%

N

%

N

%

Befragte

Eltern / Betreuer

155

43,7

152

58,9

3

1,7

Patienten

200

56,3

25

14,1

175

98,3

Geschlecht

männlich

328

92,9

164

93,2

164

92,7

n.s.

weiblich

25

7,1

12

6,8

13

7,3

Gerinnungsstörung

Hämophilie A

262

73,8

127

71,8

135

75,8

n.s.

Hämophilie B

63

17,7

34

19,2

29

16,3

VWD, Type 3

30

8,5

16

9

14

7,9

Schweregrad

mild

87

24,6

38

21,5

49

27,7

0,001

moderat

38

10,7

10

5,6

28

15,8

schwer

229

64,7

129

72,9

100

56,5

Behandlungsschema

Bedarfsbehandlung

100

28,6

33

18,9

67

38,3

0,0001

Prophylaxe

224

64

134

76,6

90

51,4

abwechselnd

22

6,3

4

2,3

18

10,3

Immuntoleranzinduktion

4

1,1

4

2,3

0

Produkt

plasmabasiert

88

26

33

19,4

55

32,7

0,038

rekombinant

170

50,3

97

57,1

73

43,5

Nicht-Gerinnungsfaktorbasierte Therapie

14

4,1

6

3,5

8

4,8

mehrere Produkte

1

0,3

1

0,6

0

unbekannt

65

19,2

33

19,4

32

19

Komorbiditäten

Ja

116

32,7

25

14,1

91

51,1

0,0001

Quarantäne wegen COVID-19

Ja

11

3,1

4

2,3

7

4

n.s.

COVID-19 Test

Nein

340

97,4

174

98,9

166

96

n.s.

Ja, Rachenabstrich

9

2,6

2

1,1

7

4

Ja, Bluttest

0

0

0

0

Krankenhausaufenthalt wegen COVID-19

Ja

0

0

0

n.s.

* Fehlende Daten werden nicht aufgelistet, signifikante Unterschiede zwischen den Gruppen sind fett gedruckt; n.s.: nicht signifikant.


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Gedanken, Sorgen und medizinische Erfahrungen der Gesamtgruppe

Fast alle Befragten (92,1%) machten sich Gedanken in Zusammenhang mit dem neuen Coronavirus; hauptsächlich fragten sie sich, was passiert, wenn sie COVID-19 positiv getestet werden (71,3%). Bei mehr als der Hälfte (66,3%) löste die aktuelle Situation mit dem neuartigen Coronavirus ziemlich/sehr starke Gefühle aus; wobei sie am häufigsten das Gefühl hatten, der Situation ausgeliefert zu sein (19,1%). Die Hälfte (50,3%) machte sich bezogen auf das Coronavirus ziemlich/sehr starke Sorgen; 20,9% waren besorgt, COVID-19 zu bekommen. Der Großteil (65,3%) der Befragten hatte Erfahrungen hinsichtlich der medizinischen Versorgung während der Coronakrise gemacht; 52,8% berichteten, dass Arzttermine verschoben oder abgesagt (45,2%) wurden [17]. Signifikante Unterschiede bezüglich des Versorgungssettings (K: Kliniksetting, N: niedergelassenes Setting) zeigten sich für verzögerte Medikamentenversorgung (K: 2,5 vs. N: 13,6 %; χ2=9,630, p=0,002), verschobene Arzttermine (K: 61,2 vs. N: 41,4 %; χ2=8,938, p=0,003), abgesagte Arzttermine (K: 52 vs. N: 36,2 %; χ2=5,428, p=0,020) und abgesagte Termine für Vorsorgeuntersuchungen (K: 38,1 % vs. N: 21,4 %; χ2=5,414, p=0,020).


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Subgruppenanalysen

[Tab. 2] zeigt COVID-19 assoziierte Gedanken und Sorgen sowie Erfahrungen mit der medizinischen Versorgung während des „Lockdowns“, sowie Unterschiede für klinische Subgruppen.

Tab. 2 Gedanken, Sorgen und Erfahrungen mit medizinischer Versorgung für verschiedene klinische Subgruppen der IBD Gruppe.

IBD Gruppe %

Schweregrad

Art der Behandlung

Produktklasse

Komorbiditäten

Schwer %

Leicht/moderat %

Bedarf %

Prophylaxe %

Plasmatisch %

Rekombinant/NGF %

Ja %

Nein %

Gedanken (ja)

wegen Blutgerinnungsstörung zur Risikogrupppe gehörend

54,2

55

53,2

54,5

53,1

61,4

49,2

54,8

54

adäquate Versorgung bei Blutung

48,6

49,3

46,7

42,9

50

50,6

46,7

51,8

47

Bei Notfall ins Krankenhaus gehen

50,4

49,3

52,5

52,6

47,8

52,3

44,3

50,4

50,4

Anpassung der Therapie während Coronakrise

19,6

21,5

16,3

20,2

17,9

18,4

18,9

22,1

18,4

Übertragung von COVID-19 durch plasmatische Produkte

19

18

21,1

19,4

17,9

25,3

14,1

23,7

16,8

was passiert, wenn man COVID-19 bekommt

71,3

69,7

74,8

74,5

69,5

71,8

71,4

76,3

68,9

wie es weiter geht, wenn man COVID-19 positiv getestet wird

68,7

65,5

75,2

76

64,7

70,5

65,9

76,7

64,9

Sorgen (ziemlich/sehr unzufrieden)

Lieferschwierigkeiten von Produkten für IBD

18,9

23,8

9,9

7,2

23,9

16

20,8

19,3

18,7

COVID-19 zu bekommen

20,9

22,1

18,9

16,5

22

25,2

16,4

32,5

15,2

Erfahrungen mit medizinischer Versorgung (ja)

Arzttermine abgesagt

45,2

42,9

46,3

47,4

44,9

35,8

47,2

50,7

42,4

Arzttermine verschoben

52,8

52,6

53,2

51,6

52,6

50,8

54,6

47,5

55,6

Medikamentenversorgung verzögert

7,1

5,3

11,7

8,7

6,8

12,5

4

2,7

9,6

Geplante operative Eingriffe verschoben

14,5

15,4

12,8

14,3

14,7

14,7

12,1

16,3

13,5

Physiotherapiebehandlung

38,7

44,8

24,4

25

39,6

37,5

44,4

54,2

28,6

Termine zur Vorsorgeuntersuchung abgesagt

31,4

31,1

31,6

32

30,6

33,3

28,7

31

31,6

Hämophilie-Zentrum schlechter erreichbar

9

11,5

3,2

4,3

10,4

9,8

6,6

5,6

10,9

Betreuung während Coronakrise (ziemlich/sehr gut)

Hämophilie-Zentrum

83,1

82,8

83,5

82,3

83,4

85

83,6

77,6

85,7

Hausarzt/Kinderarzt

65,8

62,4

71,9

68,2

65,4

65

68

61,8

67,7

IBD: Blutgerinnungsstörung (inherited bleeding disorder); NGF: Nicht-Gerinnungsfaktor basierte Therapie fett geschriebene Zahlen bedeuten signifikante Unterschiede zwischen den Subgruppen.


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Form der IBD

Im Vergleich der verschiedenen Blutungsneigungen machte sich die IBD-Gruppe mit VWS Typ 3 signifikant mehr COVID-19 assoziierte Gedanken: ob man wegen seiner Blutungsneigung zur Risikogruppe gehört (χ2=8,986, p=0,011), ob bei einer Blutung weiterhin eine adäquate Versorgung erfolgt (χ2=7,397, p=0,025), und ob COVID-19 durch plasmatische Produkte oder Blutplasma übertragen werden kann (χ2=18,115, p <0,0001) ([Abb. 2]).

Keine Unterschiede ergaben sich hinsichtlich der Erfahrungen mit medizinischer Versorgung, Sorgen über Lieferschwierigkeiten von Medikamenten und darüber, COVID-19 zu bekommen sowie der Betreuung seitens des Hämophiliezentrums und des Hausarztes.


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Schweregrad der IBD

Die IBD-Gruppe mit einer schweren Form der angeborenen Blutungsneigung zeigte keine Unterschiede im Vergleich zu der mit einer leichten/moderaten Form in Bezug auf COVID-19 assoziierte Gedanken sowie auf die Betreuung durch das Hämophiliezentrum und den Hausarzt. Hingegen machten sich schwer Betroffene signifikant mehr Sorgen über Lieferschwierigkeiten von Medikamenten (F=7,311, p <0,0001); jedoch machten sie sich im Vergleich zu den Betroffenen mit einer leichten/moderaten Form nicht mehr Sorgen, COVID-19 zu bekommen. Unterbrechungen von physiotherapeutischen Behandlungen wurden signifikant häufiger von Patienten mit einer schweren Form berichtet (χ2=5,483, p = 0,019).


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Art der Behandlung

Die IBD-Gruppe mit Bedarfsbehandlung machte sich signifikant mehr Gedanken darüber, wie es weitergeht, wenn sie COVID-19 positiv getestet werden (χ2=4,048, p=0,044); die prophylaktisch behandelte IBD-Gruppe hingegen machte sich signifikant mehr Sorgen über Lieferschwierigkeiten von Medikamenten (F=10,012, p<0,0001). Es traten keine Unterschiede auf hinsichtlich der Erfahrung mit medizinischer Versorgung, der Betreuung durch den Hausarzt oder das Hämophiliezentrum und Sorgen, COVID-19 zu bekommen.


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Produktklasse

Die IBD-Gruppe, die mit einem plasmatisch-hergestellten Faktorenkonzentrat behandelt wurde, machte sich im Vergleich zur Gruppe mit rekombinanten Faktorkonzentraten oder einer „Nicht-Gerinnungsfaktor basierten Therapie“ signifikant mehr Gedanken darüber, ob COVID-19 durch plasmatische Produkte oder Blutplasma übertragen werden kann (χ2=5,045, p=0,025). Eine Verzögerung in der Medikamentenversorgung trat in der plasmatisch behandelten Gruppe signifikant häufiger auf (χ2=4,209, p=0,040). Hinsichtlich der Sorgen über Lieferschwierigkeiten ihrer Medikamente und COVID-19 zu bekommen, sowie der Betreuung durch ihren Hausarzt oder ihr Hämophiliezentrum zeigten sich keine signifikanten Unterschiede zur IBD Gruppe, die mit rekombinanten Faktorkonzentraten oder einer „Nicht-Gerinnungsfaktor basierten Therapie“ behandelt wurde.


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Komorbiditäten

In der IBD-Gruppe mit einer Komorbidität (z. B. Hepatitis- oder/und HIV-Infektion, Asthma, Hypertension) gaben signifikant mehr Befragte an, sich darüber Gedanken zu machen, wie es weitergeht, wenn sie oder ihr Kind COVID-19 positiv getestet werden (χ2=5.121, p<0,024) und sich Sorgen zu machen, COVID-19 zu bekommen (F=0,375, p<0,0001). Zudem wurden im Vergleich zur IBD-Gruppe ohne Komorbiditäten vermehrt physiotherapeutische Behandlungen unterbrochen (χ2=9,942, p<0,002). Keine Sorgen traten im Zusammenhang mit Lieferschwierigkeiten ihrer Medikamente und der Betreuung durch den Hausarzt oder das Hämophiliezentrum auf.


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Diskussion

Insgesamt haben 355 Patienten und Eltern von Kindern der IBD-Gruppe ohne nachweisliche COVID-19 Erkrankung an der Umfrage teilgenommen. Die Rücklaufquote von 61,7% lag höher als die durchschnittliche Rücklaufquote von Fragebogen-basierten Studien (55,6%) [24]. Bezüglich der Verteilung von Hämophilie A und B, der Schweregrade und der Verwendung von plasmatischen oder rekombinanten Produkten ist unsere IBD-Kohorte mit der vom Deutschen Hämophilie-Register (DHR) vergleichbar und somit repräsentativ (Daten Paul-Ehrlich-Institut für 2018) [25].

Von Mackensen et al. haben bereits die Ergebnisse der gesamten IBD-Gruppe zu Gedanken, Sorgen und Erfahrungen mit medizinischer Versorgung während der Coronakrise publiziert [17]. In der vorliegenden Publikation stehen hingegen die Subgruppenunterschiede im Fokus.

VWS-Patienten machten sich signifikant häufiger COVID-19 assoziierte Gedanken als Hämophilie-Patienten. Schwer betroffene sowie prophylaktisch behandelte Patienten machten sich mehr Sorgen bzgl. Lieferschwierigkeiten ihrer Medikamente. Bei Patienten mit schwerer Form und solchen mit Komorbiditäten wurden zudem physiotherapeutische Behandlungen signifikant häufiger unterbrochen. VWS-Patienten und solche, die mit plasmatischen Produkten behandelt wurden, machten sich signifikant mehr Gedanken darüber, ob COVID-19 durch plasmatische Produkte oder Blutplasma übertragen werden könnte. Patienten mit einer Bedarfsbehandlung und solche mit Komorbiditäten machten sich signifikant häufiger Gedanken darüber, wie es weitergeht, wenn sie COVID-19 positiv getestet werden; letztere machten sich zudem auch häufiger Sorgen, COVID-19 zu bekommen.

Obwohl sich 83,1% ziemlich gut von ihrem Hämophiliezentrum betreut fühlten, machten sich 18,9% große Sorgen über Lieferschwierigkeiten ihrer Medikamente, lediglich 9% berichteten Einschränkungen in der Erreichbarkeit ihres Hämophiliezentrums [17]. Im Gegensatz dazu waren italienische Hämophilie-Patienten ziemlich besorgt über die regelmäßige Versorgung mit ihren Faktorenkonzentraten und deren Herstellungsprozess während der COVID-19 Pandemie (60,9%), und schätzten die Unterstützung und Verfügbarkeit der Mitarbeiter ihres Hämophiliezentrums als sehr wichtig ein [26]. Härter et al. berichteten, dass am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf während des „Lockdowns“ 11,8% der elektiven Operationen zugunsten der Fokussierung auf operative Eingriffe bei Notfällen und von Tumorpatienten verschoben oder abgesagt wurden; dies ist vergleichbar mit den Erfahrungen unserer IBD Kohorte (14,5%) [17] [27].

Durch die Lieferung von Faktorenkonzentraten zum Patienten nach Hause sowie die Ausweitung telemedizinischer Behandlungsangebote könnte die medizinische Versorgung gewährleistet und das Infektionsrisiko durch Vermeidung von häufigen Krankenhausbesuchen auch im Rahmen weiterer „Lockdowns“ und Krisen erfolgreich reduziert werden [17] [28] [29].

Adhikari et al. konnten nachweisen, dass telefonische Telephysiotherapie-Interventionen (TPT) zu einer signifikanten Verringerung der Schmerzen bei Patienten mit Problemen des Bewegungsapparates führen [30]. TPT kann somit als praktikable und wirksame Behandlungsoption angesehen werden, die es Physiotherapeuten ermöglicht, weiterhin ambulante Leistungen mit einem hohen Maß an Patientenzufriedenheit zu erbringen [31].

Um lange Wartezeiten und damit verbundene negative Folgen (z. B. Zunahme von Schmerzen, Blutungen, Bewegungseinschränkungen) zu vermeiden, könnten notwendige elektive Eingriffe unter Einhaltung entsprechender Hygienemaßnahmen durchgeführt werden [32]. Allgemein gelten für Patienten mit IBD dieselben präventiven hygienischen Maßnahmen wie für die Allgemeinbevölkerung [33].

Wie in unserer Studie gezeigt wurde, machte sich ein Großteil der IBD-Patienten Gedanken darüber, was passiert, wenn sie COVID-19 bekommen oder wie es weitergeht, wenn sie COVID-19- positiv getestet werden. Darüber hinaus sind die Auswirkungen von COVID-19 auf den Gerinnungsprozess von IBD Patienten bisher nicht geklärt. Daher sollte bei COVID-19 infizierten IBD-Patienten eine strikte Überwachung von FVIII und VWF erfolgen, um eine angemessene Behandlung direkt zu etablieren [34]. Zusätzlich sollten bei stationären Aufenthalten ausreichende Informationen über COVID-19 zur Verfügung gestellt und psychologische Unterstützung für Patienten und deren Familien angeboten werden [33].

Aufgrund historischer Virus-Skandale mit plasmatischen Produkten ist es verständlich [35], dass sich Patienten, die mit solchen behandelt werden (17,8% der Hämophilie-Patienten, 100% der VWS Patienten) mehr Gedanken darüber machen, ob eine Übertragung von COVID-19 über plasmatische Produkte oder Blutplasma möglich ist. Eine Aufklärung der Patienten über unterschiedliche Übertragungswege der Viren und die Sicherheit von Blutprodukten ist unabdingbar. Die Aufklärung sollte nicht nur über die behandelnden Ärzte, sondern auch über die Patientenorganisationen erfolgen, wobei von-Willebrand-Patienten sich hier offensichtlich nicht so gut vertreten sahen. Möglicherweise machten sie sich aufgrund von fehlender Information deutlich mehr Gedanken über Infektionen und ihre medizinische Versorgung.

Limitationen

Um unmittelbar mit der Umfrage während des „Lockdowns“ beginnen zu können, wurde ein anonymes Studiendesign gewählt. In Bezug auf Vollständigkeit der klinischen Daten wäre es vorzuziehen, diese direkt aus Patientenakten in den Hämophiliezentren zu erfassen, da Patienten häufig diese Fragen nicht angemessen beantworten können; wie z. B. in unserer Befragung 19,2% der Befragten angaben, dass sie nicht wissen, welche Art von Produkt (z. B. plasmatisch, rekombinant) sie verwenden und 4,8% gar keine Angabe hierzu machten. Eine weitere Limitation besteht darin, dass nur 5 Zentren an der Umfrage teilgenommen haben. Da wir die Auswirkungen der COVID-19 Pandemie während des „Lockdowns“ in Deutschland bewerten wollten, wurden nur diejenigen Zentren einbezogen, die bereit waren, die Fragebögen kurzfristig postalisch an ihre Patienten zu versenden. Da unsere Daten aber aus einigen der größten Hämophiliezentren stammen und mit der DHR-Kohorte vergleichbar waren, können unsere Ergebnisse als repräsentativ für deutsche IBD Patienten angesehen werden, sind jedoch für die deutsche Allgemeinbevölkerung oder andere ethnische Bevölkerungsgruppen nicht verallgemeinerbar.


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Empfehlungen

Da Isolationsmaßnahmen und Einschränkungen elektiver Termine und Interventionen sich negativ auf die medizinische Versorgung von IBD Patienten auswirken und wahrscheinlich in den kommenden Monaten zu weiteren Sorgen und Bedenken führen können [36], sind zusätzliche Untersuchungen zu den Auswirkungen von COVID-19, nach Beendigung des „Lockdowns“, und im weiteren Verlauf notwendig. Da IBD Patienten kein höheres COVID-19-Infektions-Risiko zu haben scheinen [37], ist die Sicherstellung der medizinischen Versorgung im Rahmen der Grunderkrankung sowie eventueller Komorbiditäten zu gewährleisten. Hier sollte insbesondere eine Notfallversorgung bei Blutungen garantiert sein. Aufgrund personeller Engpässe während der COVID-19 Pandemie im Kliniksetting sowie aus infektionshygienischer Sicht könnten Routineuntersuchungen sowie Physiotherapie vermehrt als Telemedizin-basierte Sprechstunde etabliert und angeboten werden.


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Interessenkonflikt

Die Autoren S. Halimeh, M. Olivieri, C. Wermes, W.A. Hassenflug, K. Holstein und S. von Mackensen bestätigen, dass kein Interessenskonflikt besteht und sie keine finanzielle Unterstützung für die Durchführung der Studie erhalten haben.

Danksagung

Wir bedanken uns bei allen Patienten und Eltern von Kindern mit angeborenen Blutungsneigungen für ihre Teilnahme an dieser Umfrage. Wir möchten auch Manuela Siebert vom GZRR für die Dateneingabe der Fragebögen danken.

  • Literatur

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Korrespondenzadresse

Martin Olivieri
Abteilung für pädiatrische Hämostaseologie, Pädiatrisches
Hämophiliezentrum, Kinderklinik und Kinderpoliklinik im
Dr. von Haunerschen Kinderspital, LMU Klinikum
Lindwurmstraße 4
80337 München
Deutschland   

Publication History

Article published online:
08 April 2021

© 2021. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

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Abb. 1 Rücklauf COVID-19 Umfrage.
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Abb. 2 Gedanken im Zusammenhang mit dem neuartigen Coronavirus im Vergleich der IBD-Gruppen.