CC BY-NC-ND 4.0 · Geburtshilfe Frauenheilkd 2022; 82(04): 400-409
DOI: 10.1055/a-1515-2622
GebFra Science
Review/Übersicht

Aspekte einer Beckenbodenprotektion bei der Spontangeburt – eine Übersicht

Article in several languages: English | deutsch
Markus Hübner
1   Klinik für Frauenheilkunde, Universitätsklinikum Freiburg, Medizinische Fakultät, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Freiburg, Germany
2   Medizinische Fakultät der Universität Tübingen, Tübingen, Germany
,
Christiane Rothe
3   AG GGUP/Physio Deutschland ZVK e. V., Wörth, Germany
,
Claudia Plappert
4   Institut für Gesundheitswissenschaften, Abt. Hebammenwissenschaft, Universität Tübingen, Tübingen, Germany
,
Kaven Baeßler
5   Franziskus/St. Joseph-Krankenhaus, Berlin, Germany
› Author Affiliations
 

Zusammenfassung

Die Notwendigkeit, sich zunehmend mit Aspekten der Beckenbodenprotektion, d. h. also der Prävention der häufigsten Erkrankungen des weiblichen Beckenbodens, wie der Harninkontinenz, der Stuhlinkontinenz und dem Descensus genitalis, auseinanderzusetzen, resultiert aus einem immer besser werdenden Verständnis der Zusammenhänge von Schwangerschaft und Geburt auf diese Erkrankungsprävalenzen. Rund ein Viertel aller Frauen erleben in ihrem Leben ein oder mehrere derartige Symptome. Hierbei spielen neben Alter und Gewicht auch Schwangerschaften und Geburten eine wichtige Rolle. Während zu den Anfängen dieser Diskussion um eine Beckenbodenprotektion oft sehr schnell auf den Geburtsmodus und hier die elektive Sectio als möglicher protektiver Intervention fokussiert wurde, hat sich über die letzten Dekaden gezeigt, wie vielschichtig und breit verteilt die Optionen sind, die zum Schutz vor Erkrankungen des Beckenbodens eingesetzt werden können. Der Geburtsmodus als solcher ist hierbei „nur“ ein Baustein zahlreicher anderer Überlegungen und ist in seiner Wichtigkeit deutlich nach hinten gerückt. Eine wichtige Entwicklung hierbei stellt zweifelsohne die Interprofessionalität und Interdisziplinarität dar, denn resultierende Empfehlungen müssen immer in einen Gesamtkontext, der gleichsam Mutter und Kind berücksichtigt, eingebaut werden. Den Beckenboden isoliert zu betrachten, ist hierbei sicherlich nicht sinnvoll. Die vorliegende Übersichtsarbeit soll wesentliche prä-, intra- und postpartale Aspekte näher beleuchten, die in ihrer Gesamtheit Einblick in die unterschiedlichen Aspekte einer Beckenbodenprotektion liefern können. Die Autor*innen verstehen die folgenden Seiten als ergänzende Diskussionsgrundlage, um die Inzidenzen und Prävalenzen von Erkrankungen des weiblichen Beckenbodens nachhaltig zu senken.


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Einleitung

Das Streben nach einer beckenbodenprotektiven Geburtshilfe beschäftigt die wissenschaftliche Fachwelt schon seit Dekaden [1]. In den letzten Jahren ist zunehmend deutlich geworden, dass pauschale Strategien oder generelle Empfehlungen, wie z. B. die elektive Sectio als grundsätzliches Element einer Beckenbodenprotektion, wenig sinnvoll sind [2]. Vielmehr sollte eine individualisierte Herangehensweise durch Identifikation eines spezifischen Risikoprofils der werdenden Mutter und der dadurch möglichen individuellen Beratung einen Beitrag leisten, die Betreuung während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett nachhaltig zu verbessern [3], [4].

Neben den betreuenden Gynäkolog*innen trägt auch die Hebamme für die Gesundheit des Beckenbodens von Frauen in ihrer Schwangerschaft, während der Geburt und im Wochenbett eine große Verantwortung. Rund zwei Drittel aller Frauen werden während der Schwangerschaft und im Wochenbett von Hebammen begleitet [5] und bei jeder Geburt ist eine Hebamme zugegen, oft auch in alleiniger Verantwortung, wenn die Geburt physiologisch verläuft (Hebammengesetz, HebG). Die Aufgabe von Hebammen liegt in der präventiven Beratung präpartal, der Prävention von Beckenbodenverletzungen intrapartal und der Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit des Beckenbodens postpartal. Als Vertrauensperson der Frau im Setting einer kontinuierlichen Betreuung [6] ist der Hebamme ein besonderer Zugang zur Frau in den sehr persönlichen Aspekten ihrer Beckenbodenfunktionen und -dysfunktionen möglich. So kann sie die Frau bereits in der Schwangerschaft für präventive Maßnahmen gewinnen. Das Interesse der Frauen dafür ist groß [7], [8]. Im Wochenbett ist die Hebamme eine wichtige Vertrauensperson, die von Einschränkungen der Beckenbodenfunktion der Frau erfährt und diese entweder selbst durch geeignete Maßnahmen verbessern kann oder aber die Frau in die geeignete Behandlung durch die Physiotherapie oder Urogynäkologie überleiten oder mit diesen kooperieren kann.

Die spezialisierte Physiotherapie kann als Teil eines interdisziplinären Teams die Versorgung schwangerer Frauen und junger Mütter hinsichtlich ihrer Beckenbodengesundheit verbessern, die Ressourcen der Frauen fördern und gleichzeitig zur Beratung und Therapie durch andere Professionen raten. Auch wenn die spezialisierte Physiotherapie gute Behandlungsoptionen für Dysfunktionen des Beckenbodens bieten kann, ist das Grundverständnis auch hier, Frauen frühzeitig für ihre Beckenbodengesundheit zu sensibilisieren, Beckenbodengesundheit zu pflegen und die Ressourcen bezüglich aller Themen von Frauengesundheit zu stärken.


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Methodik

Dieser narrative Review geht auf die wichtigsten Aspekte einer möglichen Beckenbodenprotektion ein, ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Es erfolgte eine selektive Literatursuche zu Risikofaktoren und möglichen präventiven Ansätzen von Beckenbodenverletzungen und -dysfunktionen, die vorhandene Reviews und Empfehlungen einschloss. Besonders hervorzuheben ist hierbei eine interprofessionelle Suche nach Synergien zwischen der Hebammenwissenschaft, der Physiotherapie und der Geburtshilfe unter urogynäkologischen Aspekten.

Wir verzichteten hier auf einen systematischen Review. Es gibt zwar ausreichend Literatur zu Risikofaktoren, jedoch wenig Interventionsstudien zu klar definierten Präventionszielen, die durch das PICO-Schema („Patient Intervention Comparison Outcome“) zu präzisieren wären.

Vorhandene Daten wurden unter klinisch relevanten Gesichtspunkten zusammengefasst mit möglichen Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen.


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Übersicht/Review

Prävalenzen von Harn- und analer Inkontinenz sowie Deszensus in der Schwangerschaft und nach vaginalen Geburten

Die Harninkontinenzraten nehmen im Laufe der Schwangerschaft zu. Circa 8 – 10% der Frauen im 1. Trimenon geben vorrangig eine Belastungsinkontinenz an [9]. Im 2. Trimenon sind ca. 23 – 32% der Frauen inkontinent, am Termin 15 – 35% [9]. Unter 43 279 Norwegerinnen hatten in der 31. SSW 58% eine Harninkontinenz, unter den primiparen Frauen (n = 12 679) waren es 40% [10]. In einer longitudinalen Studie mit initial 223 Berliner Frauen waren 49% im 3. Trimenon inkontinent [11].

Sechs bis 13 Wochen postpartal sind Harninkontinenzraten von 7 – 36% beschrieben [9], [11], [12], ca. 8% der Frauen sind 3 Monate postpartal stuhlinkontinent [12].

Eine Belastungsinkontinenz war bei 15 – 31% der Frauen 6 Monate postpartal vorhanden [9].

Ein Jahr postpartal werden Harninkontinenzraten von 11 bis 51% beschrieben [9], [11]. Etwa 30% der Frauen mit Dammrissen III° oder IV° haben eine anale Inkontinenz [13].

Zwei longitudinale Studien berichten über Harn- und Stuhlinkontinenz bis zu 20 Jahre nach der Geburt. 38% der Frauen haben eine persistierende Harn- und 6% eine Stuhlinkontinenz [12], [14], [15]. Diese Prävalenzen sind in [Abb. 1] dargestellt.

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Abb. 1 Angegeben sind die in den Studien beschriebenen jeweils geringsten und höchsten Harninkontinenzraten im Verlauf der Schwangerschaft und postpartal.

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Allgemeine Risikofaktoren für Beckenbodensymptome

In den Studien wurden verschiedene Risikofaktoren für Beckenbodenfunktionsstörungen untersucht:

  • Harninkontinenz in der Schwangerschaft: Frauen, die bereits in der Schwangerschaft eine Harninkontinenz haben, leiden auch häufiger postpartal daran [16].

  • Alter über 35 Jahre: Ein höheres Alter bei der ersten Geburt und insbesondere über 35 Jahre ist in verschiedenen Studien als Risiko für Defekte am M. levator ani und funktionelle Beckenbodeneinschränkungen wie Harn- und Stuhlinkontinenz beschrieben worden [9] – [12], [16], [17] (Harninkontinenzrisiko steigt um den Faktor 2 – 4 [11], [12], [17]).

  • Adipositas: Ein BMI über 25 kg/m2 erhöht das Risiko für eine Harninkontinenz um den Faktor 1 – 3; [10], [11], [12], [16] – [18], aber auch für eine anale Inkontinenz [12], [15], [18].

  • Positive Familienanamnese: Sind weibliche Familienangehörige inkontinent, steigt das Risiko für die schwangere Frau um das 2 – 3-Fache [11], [17].

  • Unsichere Beckenboden-Willkürkontraktion: Waren sich die Frauen in der Schwangerschaft unsicher, ob sie eine willkürliche Beckenbodenkontraktion durchführen können, wurden sie häufiger postpartal inkontinent [11].

Zusammenfassend ist festzustellen, dass es (bedingt) modifizierbare Risikofaktoren für Beckenbodenfunktionsstörungen gibt, auf die Frauen hingewiesen werden sollten: Alter über 35 Jahre, Übergewicht, positive Familienanamnese, und Unfähigkeit zur Beckenboden-Willkürkontraktion. Bei weiteren Risikofaktoren wie Inkontinenz in der Schwangerschaft, Geburtsgewicht über 4000 g, lange Austreibungsperiode (s. „Postpartale Möglichkeiten der Inkontinenz- und Deszensus-Prävention und -Therapie“) und positive Familienanamnese sollte den Frauen frühzeitig Hilfe angeboten werden (z. B. Beckenbodenrehabilitation, frühe Pessartherapie).

Eine Hilfe bei der Beratung bietet der validierte Beckenboden-Fragebogen mit integriertem Risikomodul für schwangere und postpartale Frauen [11]. Des Weiteren kann der online aufrufbare UR-CHOICE Risikorechner (www.riskcalc.org), der auf den Langzeitbeobachtungen von MacArthur et al. und Gyhagen et al. beruht, gut für die individuelle Beratung der Frau eingesetzt werden [2], [12], [14], [19]. Er errechnet die Symptominzidenzen bei verschiedenen Risikokonstellationen jeweils für die vaginale Geburt im Vergleich zur Sectio.


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Präpartale Möglichkeiten einer Beckenbodenprotektion

Viele Frauen beginnen, sich in der Schwangerschaft mit der Funktion des Beckenbodens zu beschäftigen und haben dazu unterschiedliches Vorwissen. In einem interdisziplinären Ansatz von Geburtshelfer*innen, Hebammen und Physiotherapeut*innen soll ein Grundverständnis dafür etabliert werden, Frauen frühzeitig für ihre Beckenbodengesundheit zu sensibilisieren, Beckenbodengesundheit zu pflegen und die Ressourcen bezüglich aller Themen von Frauengesundheit zu stärken. Auch die die Schwangerschaft betreuenden Gynäkolog*innen haben hierbei eine wichtige Funktion.

In der Schwangerschaft nimmt die Muskelstärke des Beckenbodens ab. Dies ist bedingt durch physiologische Prozesse und anatomische Veränderungen des Beckens wie Herabsetzung des Muskeltonus, Verlängerung des M. rectus abdominis und aller Bauchmuskelstrukturen und Nachgiebigkeit der Bandverbindungen im Becken [20]. Ansätze, um die Beckenbodenmuskulatur in der Schwangerschaft auf die bevorstehende Geburt vorzubereiten, um Beckenbodenverletzungen oder -dysfunktionen zu verhindern, beruhen auf der vorbereitenden Dehnung des Dammgewebes oder der Stärkung der quergestreiften Beckenbodenmuskulatur, um damit auch z. B. den quergestreiften urogenitalen Sphinkter zu stärken.

Für die Vorbereitung der Schwangeren auf ihre Geburt im Hinblick auf ihre perineale Gesundheit ist vor allem bei Erstgebärenden wichtig, diese für die Spannungszustände ihres Beckenbodens bei Be- und Entlastung zu sensibilisieren, d. h. ihr zu ermöglichen, Spannungszustände des Beckenbodens durch bewusste Anspannung und Entspannung des Beckenbodens zu verändern. Diese Sensibilität und das „Hinspüren“ zum Beckenboden ist für Erstgebärende oft vollkommen unbekannt und neu [21] und erfordert eine einfühlsame Anleitung mithilfe individuell angepasster und geeigneter Visualisierung der Beckenbodenspannung, damit die Frau diese Achtsamkeit entwickeln kann [22], [23]. Dabei zeigt sich in der Arbeit mit den Frauen oft, dass nicht nur die Fähigkeit, den Beckenboden anzuspannen, vermittelt und geübt werden muss, sondern auch, dass die bewusste Entspannung und die bei der Geburt wichtige Öffnung des Beckenbodens schwerfällt. Für diese Aspekte der Hebammenarbeit, die vor allem auf Empirie, tradiertem Wissen und Erfahrungswissen basiert, finden sich keine validen Studien und Evidenzen im Hinblick auf die präventive Wirksamkeit [24], [25]. Hier besteht im Bereich der Hebammenforschung großer Entwicklungsbedarf. Dies könnte und sollte dann auch zu einer evidenzbasierten und damit einheitlicheren Anleitung durch Hebammen in diesem Bereich führen [26].

Im Folgenden sind die in der Literatur auf ihre Wirksamkeit untersuchten Maßnahmen zur präpartalen Beckenbodenprotektion sowie auch wenig untersuchte Maßnahmen aus dem Bereich der Phytotherapie und Ansätze zur Beckenbodensensibilisierung beschrieben, ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

EPI-No

Allgemeine Vorgehensweise: Start 37. – 38. SSW, 15 – 20 min, tägliches Üben. Einführen des Ballons zu ⅔ in die Vagina und Aufblasen bis unter die Schmerzschwelle, dann wird der Ballon langsam aus der Vagina gezogen.

  • Effekt: häufiger Damm intakt [27]

  • kein Effekt: M.-sphincter-ani-Verletzung [28]

  • kein Effekt: Beckenbodenverletzungen [28], [29]

  • kein Effekt: Rate an Episiotomien, Dauer der Austreibungsphase, Schmerzmittelbedarf, vaginale Infektionen [27]

Fazit: EPI-No hat tendenziell keinen Effekt [20].


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Dammmassage

Allgemeine Vorgehensweise: Start 34. – 36. SSW, 10 min Dammmassage täglich: Einführen des Daumens 3 – 5 cm in die Vagina, Bewegungen seitlich und in Richtung des Anus, Verwendung eines Gleitgels. Positive Beeinflussung des lokalen Stoffwechsels und der Lymphbahnen.

  • Effekt: reduzierte Schmerzen im Dammbereich [30], [31]

  • Effekt: verkürzte Dauer der Austreibungsphase [32]

  • kein Effekt: Dammverletzungen [31]

  • widersprüchlich: Rate an Episiotomien: weniger [32], gleich [33]

Fazit: Der Effekt der Dammmassage liegt in einer reduzierten Schmerzempfindung im Dammbereich [20].


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Phytotherapie

Himbeerblättertee: ab der 36. SSW, täglich 2 Tassen, verbreitete Form der Geburtsvorbereitung. Kein nachgewiesener protektiver Effekt auf das Dammgewebe, aber positiver Einfluss auf die mentale Vorbereitung auf die Geburt [34].

Heublumen-Dampfbad: ab der 36. SSW, täglich für 10 Minuten. Traditionelle Maßnahme zur Geburtsvorbereitung. Hypothese: Cumarine in den Heublumen haben muskelrelaxierende und vasodilatatorische Wirkung auf das Dammgewebe. Dadurch soll es zu einer Elastizitätssteigerung des Bindegewebes kommen [35].

Fazit: Phytotherapie hat keinen nachgewiesenen direkten Effekt auf die Beckenbodenmuskulatur, könnte aber durch die Einführung einer ritualisierten Handlung die Frau in ihrer mentalen Vorbereitung auf die Geburt unterstützen, ohne dass dies bisher jedoch in Studien nachgewiesen worden ist [36].


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Beckenbodentraining unter Anleitung

Allgemeine Vorgehensweise: individualisiertes, befundbezogenes Erarbeiten von Beckenbodenspannung und Entspannung in verschiedenen Dosierungen/Ausgangsstellungen und Synergisten mit und ohne Hilfsmittel

  • Effekt: reduzierte Dauer der Austreibungsphase [37]

  • Effekt: reduziertes Auftreten von Harninkontinenz [38], [39], [40]

  • Effekt: verbesserte Muskelstärke des Beckenbodens [38], [41]

  • kein Effekt: Beckenbodenverletzungen [42], [43]

  • widersprüchliche Befunde zur analen Kontinenz: kein Effekt [40], Reduktion [44]

Fazit: Funktionelles Beckenbodentraining führt zu einer verkürzten Dauer der Austreibungsphase und zu einem reduzierten Auftreten von Harninkontinenz und möglicherweise analer Inkontinenz [20].


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Angeleitete Übungen zur Sensibilisierung des Beckenbodens (Erhöhung der Beckenboden-Achtsamkeit)

Yoga: Beginn 26. SSW, 3-mal wöchentlich 60 Minuten.

  • Effekt: geringeres Schmerzerleben, weniger Interventionen, weniger Sectiones, kürzere Dauer der Eröffnungs- und Austreibungsphase [45]

Gruppentherapie: Übungen zur Beckenbodenwahrnehmung, Muskeltraining (langsame und schnelle Kontraktionen) unter Anleitung durch Physiotherapeuten oder Hebammen, Dauer 60 Minuten wöchentlich.

  • Ziel: Verbesserung der Beckenbodenkontrolle und der psychologischen Vorbereitung der Frau auf die Geburt [46]

Fazit: Übungen zur Erhöhung der Beckenboden-Achtsamkeit können einen physiologischen Geburtsverlauf fördern, indem sie die Frau für das Öffnen und Loslassen während der Geburt sensibilisieren.


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Spezialisierte Physiotherapie

In ihrer prospektiv randomisierten Studie zeigen Salvesen et al., dass präpartales physiotherapeutisches Beckenbodentraining mit einer geringeren Häufigkeit an prolongierten Austreibungsperioden von mehr als 60 min assoziiert ist [47]. Zudem wirkt dieses Training präventiv hinsichtlich einer möglichen postpartalen Harninkontinenz [48], [49] und reduziert das perineale Trauma [42] Außerdem konnten protektive Effekte der präpartalen Physiotherapie hinsichtlich einer postpartalen Belastungsharninkontinenz gezeigt werden [9], zusammengefasst in [50]. Es sollte daher allen Frauen die Möglichkeit zum Training gegeben werden [51]. Anders als früher vermutet, hat ein präpartales Beckenbodentraining keine Nachteile für die Geburt. Die Hypothese, dass ein gekräftigter Beckenboden negative Effekte auf die Geburt hat, konnte widerlegt werden [52].


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Beeinflussung modifizierbarer Risikofaktoren

Das Anstreben eines Normgewichts vor Eintritt einer Schwangerschaft wird von Wesnes et al. in ihrer Übersichtsarbeit als Grad-A-Empfehlung zur Risikoreduktion einer Harninkontinenz während und nach der Schwangerschaft bezeichnet [53], zudem ist auch eine Reduktion möglicher Obstipationsepisoden hilfreich, um die Inzidenz der Harninkontinenz zu senken (Level 2) [53].

Auch wenn das mütterliche Alter nicht als modifizierbarer Risikofaktor herangezogen werden sollte, ist die erste vaginale Geburt vor dem Alter von 35 Jahren aus Aspekten einer Beckenbodenprotektion empfehlenswert, da bereits ein Alter von mehr als 30 Jahren ein Risikofaktor für die Entstehung eines Prolapses im späteren Leben der Frau darstellt [54].


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Vitamin D

In einer aktuellen Analyse von Stafne et al. konnte gezeigt werden, dass Frauen mit einem reduzierten Vitamin-D-Spiegel signifikant häufiger an einer Harninkontinenz während der Schwangerschaft leiden [55], [56]. Inwieweit eine grundsätzliche Vitamin-D-Substitution während der Schwangerschaft beckenbodenprotektive Effekte hat, ist noch unklar.


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Intrapartale Möglichkeiten zur Reduktion von Geburtsverletzungen und postpartaler Beckenbodendysfunktion

Dammschutz

Allgemeines Vorgehen: Das Schützen des Dammes mit der Hand beim Austritt des kindlichen Kopfes wird als ureigene Handwerkskunst der Hebammen betrachtet. Die Methode des Dammschutzes wurde vor allem für horizontale Gebärhaltungen entwickelt und ist in aufrechten Positionen schwieriger durchzuführen. Das allgemeine Vorgehen dabei ist, mit der Dammhand, die flach auf den Damm aufgelegt wird, den Damm zu stützen. Mit der Kopfhand wird die Geschwindigkeit des austretenden Kopfes des Kindes gebremst. Dabei wird das Vorderhaupt zurückgehalten und leicht dammwärts geleitet, bis dieses vollständig unter der Symphyse herausgetreten ist [57], [58]. Der Dammschutz soll folgende Aufgaben zum Schutz des Beckenbodens der Frau erfüllen: langsamer Kopfaustritt, um das Dammgewebe langsam zu dehnen, Austritt des Kopfes mit seinem kleinsten Umfang, Vermeiden von Rissverletzungen [57], [58].

In der Literatur werden die Begriffe „Hands on“ (Dammschutz), „Hands off“ (keine Berührung des Kopfes und des Dammes), „hands poised“ (keine Berührung des Dammes, Bremsen der Austrittgeschwindigkeit des kindlichen Kopfes durch leichten Druck) oder die Zusammenfassung beider Methoden „Hands off/poised“ verwendet.

Effekte der Hands-off-/Poised-Methode:

  • geringere Rate an Episiotomien [57], [59], [60]

  • größere Wahrscheinlichkeit für intakten Damm [57]

  • weniger Schmerzen im Dammbereich nach 24 Stunden [57], [60]

  • kein Unterschied in der Dauer der Austreibungsphase [57]

  • kein Unterschied im postpartalen Blutverlust > 500 ml [57]

Diskussion: Die Studienlage ist nicht eindeutig, um den theoretisch protektiven Einfluss der Hands-off-Methode zu belegen. Es werden weniger Episiotomien durchgeführt, anale Sphinkterverletzungen sind jedoch häufiger [57], [61] – [63]. Prospektive Studien, die den proaktiven Dammschutz untersuchten, konnten eine Reduktion von OASIS (obstetrical anal sphincter injuries) nachweisen [64], [65].

Aufgrund dieser Heterogenität kann auch unter der Berücksichtigung des aktuellen Cochrane Reviews keine eindeutige Empfehlung hinsichtlich des Dammschutzes gegeben werden [59].


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Warme Kompressen

Allgemeines Vorgehen: Auflage von warmen Kompressen auf den Damm mit Beginn des Einschneidens des Köpfchens des Kindes. Wirkungsweise: Entspannung des Gewebes [66].

Effekt:

  • weniger Dammverletzungen [67]

  • höhere Rate für unverletzten Damm [67]

  • weniger Episiotomien [67], [68], [69], [70]

  • unklare Angaben: Wassertemperatur (Angaben bis zu 70 °C, Zeitpunkt des Auflegens, Dauer des Auflegens [67]

  • Für den Vorteil von warmen Kompressen getränkt mit Kaffee, wie dies von Hebammen stellenweise angewendet wird, gibt es keine Evidenz.

  • Obwohl der Nutzen warmer Kompressen bekannt ist, werden sie durch Hebammen nicht regelmäßig angewendet [66].


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Gebärposition

Die Austreibungsphase ist die Phase der Geburt, die am meisten Stress für Mutter und Kind mit sich bringt. Die Anleitung zu einer geeigneten Geburtsposition ist ein wichtiger Faktor für eine sichere vaginale Geburt und für die perineale Gesundheit der Frau.

Aufrechte Gebärpositionen: stehend, sitzend (Gebärhocker), hockend, kniend (Vierfüßlerstand) [57]. Liegende Gebärpositionen: in Seiten- oder Rückenlage, mit oder ohne Steinschnittlagerung [57].

Vorteile von aufrechten Gebärhaltungen für Mutter und Kind im Vergleich zu liegenden Positionen [71]:

  • Reduktion der Dauer der Austreibungsphase, vor allem bei Erstgebärenden [71]

  • reduzierte Rate an vaginal-operativen Entbindungen [71]

  • Reduktion der Rate an Episiotomien [71], [72]

  • geringere Rate an Veränderungen der fetalen Herzfrequenz [71]

  • höhere Zufriedenheit der Frau aufgrund einer besseren Kontrolle der Situation [73]

Nachteile:

  • leicht erhöhte Rate an Dammverletzungen 2. Grades oder auch 3. Grades [71], [74] und dies vermehrt bei stehenden im Vergleich zu sitzenden Positionen [74]. Aber: Die Rate an Dammverletzungen kann jedoch sogar vermindert werden, wenn die Frau durch die Hebamme zu einem spontanen und nicht angeleiteten Mitschieben ermutigt wird (s. auch unten: angeleitetes Mitschieben) und der Kopf und Körper des Kindes dadurch in 2 Kontraktionen geboren wird [75]. Dammverletzungen in aufrechten Positionen treten bei Mehrgebärenden häufiger als bei Erstgebärenden auf [76].

  • höhere Rate an Frauen mit Blutverlust von mehr als 500 ml [72]

kein Unterschied:

  • Rate von Neugeborenen, die eine intensivmedizinische Versorgung brauchten [71]

  • kein Unterschied zwischen knienden und sitzenden Positionen [77]

Fazit: Aufrechte Gebärhaltungen haben eine Reihe von Vorteilen für Mutter und Kind, vor allem eine verkürzte Austreibungsphase, weniger vaginal-operative Eingriffe und Episiotomien, eine größere Zufriedenheit der Frau und keine Veränderungen der fetalen Herzfrequenz. Die Gebärende sollte daher dazu ermutigt werden. Dies ist auch auf dem Hintergrund der immer noch traditionellen Vorstellungen von Frauen von einer üblichen Gebärhaltung in Steinschnittlage wichtig. Da bei aufrechten Positionen das Risiko für Dammverletzungen, insbesondere bei Mehrgebärenden, und für erhöhten Blutverlust größer ist, sollte die Hebamme diese Aspekte besonders beobachten und ggf. Vorkehrungen treffen [57].


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Pressen/angeleitetes Mitschieben

Allgemeine Vorgehensweise: Pressen ist die forcierte Exspiration gegen die verschlossene Mund- und Nasenöffnung bei gleichzeitigem Einsatz der Bauchpresse. In der Geburtshilfe wird dieses Manöver auch als „Power-Pressen“ in der Austreibungsphase bezeichnet und wird oft in Rückenlage mit herangezogenen Knien durchgeführt [58].

Empfehlung: Die WHO veröffentlichte 2018 eine Empfehlung zur Methode des Mitschiebens in der Austreibungsphase, in der keine Vorteile durch das angeleitete Mitschieben im Hinblick auf die Dauer der Austreibungsphase, den Geburtsmodus, dem Auftreten von Dammverletzungen und Urininkontinenz ausgesprochen werden [78].

Da das angeleitete Pressen eine Reihe von Nachteilen mit sich bringt (Druckerhöhung im Thorax, subkonjunktivale Einblutungen im Auge, Erschöpfung der Frau, Beeinträchtigung des Grundvertrauens der Frau in ihre eigene Gebärfähigkeit [79]), in Kombination mit den Nachteilen der Rückenlage als Gebärhaltung (s. o.), sollte die Frau im Regelfall nicht zum Mitschieben angeleitet werden, sondern ihrem Pressdrang folgen.


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Länge der Austreibungsperiode

Um Aussagen über die Auswirkungen einer protrahierten Austreibungsphase auf die Gesundheit des Beckenbodens treffen zu können, ist Voraussetzung, die physiologische Dauer der Austreibungsphase zu definieren. Diese Definition gestaltet sich bis heute als schwierig [80]. Per Definition dauert die Austreibungsphase vom ersten Befund der voll dilatierten Zervix bis zur Geburt des Kindes. Das American College of Obstetricians and Gynecologists (ACOG) empfiehlt eine Definition der Austreibungsphase von 3 Stunden [81].

Je kürzer die Dauer der physiologischen Dauer der Austreibungsphase festgelegt wird, umso mehr geburtshilfliche Interventionen treten auf [82]. Es konnte gezeigt werden, dass eine einfache Verlängerung des zulässigen Zeitintervalls zu einer deutlichen Steigerung der Rate an vaginalen Geburten führte [83]. Frauen, deren (physiologische) Wehenpause in der Übergangsphase toleriert wurde und die daher (nach Definition) eine deutlich längere Dauer der Austreibungsphase hatten, hatten weniger Infektionen oder Blutungen postpartal und keine Unterschiede im neonatalen Outcome ([84], 2008) und es konnte eine reduzierte Sectiorate verzeichnet werden [85].

Die Dauer der Austreibungsphase sollte daher so festgelegt werden, dass eine maximale Rate an vaginalen Geburten ermöglicht wird bei einem minimalen Risiko für eine Morbidität von Mutter und Kind. Risiken einer zu langen Austreibungsphase sind z. B. Chorioamnionitis, ein höheres Risiko für vaginal-operative Entbindung, höhergradige Dammverletzungen (DR III/IV) und Uterusatonie [83], [86] sowie eine verlängerte und inkomplette Regeneration einer kolorektalen und analen Dysfunktion [87]. Low et al. beschreiben pro 15 min aktive Austreibungsperiode einen 8,9%igen Anstieg des Risikos für eine Verletzung des M. levator ani [88]. Eine verlängerte Austreibungsperiode über 150 min wird in etlichen Studien als Risikofaktor beschrieben [9], [16], [89]. Ungeklärt ist in diesem Zusammenhang jedoch, ob die aufgetretenen Komplikationen durch ein früheres Eingreifen hätten verhindert werden können oder ob sie nicht sogar teilweise die Ursache für die verlängerte Austreibungsphase waren [80]. In jedem Fall braucht es weitere differenzierte Studien, um diese Zusammenhänge aufzuklären und die richtige Balance zwischen möglichst langem Zuwarten und rechtzeitigem Eingreifen zu finden [90].


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Episiotomie

Die unterschiedlichen Episiotomieformen werden kontrovers diskutiert. Die Befürworter einer medianen Episiotomie, die dies aus Gründen einer besseren Wundheilung und geringeren Dyspareunierate bevorzugen, nehmen ein deutlich erhöhtes Risiko für anale Sphinkterverletzungen (DR III/IV) in Kauf (OR 2,4 – 2,9) [91], [92]. Diejenigen, die eine mediolaterale Episiotomie bevorzugen, erzielen deutlich niedrigere DR-III/IV-Raten bei vermeintlich schmerzhafterer Wundheilung, welche jedoch in Studien nicht belegt wurde. Die generelle Empfehlung ist die restriktive/selektive Anwendung der mediolateralen Episiotomie [92]; auch im Cochrane Update von 2017 war die routinemäßige Anwendung der Episiotomie der restriktiven Vorgehensweise unterlegen [93]. Fodstad et al. können keine Unterschiede hinsichtlich Dyspareunie, Schmerzen oder Wundinfektionen bei 300 Geburten mit medianer, mediolateraler oder lateraler Episiotomie aufzeigen [94].

Die mediolaterale Episiotomie hat gerade bei der vaginal-operativen Entbindung einen protektiven Effekt bezüglich höhergradiger Geburtsverletzungen [95]. Bezüglich des „richtigen“ Winkels bei der mediolateralen Episiotomie zeigt sich, dass sich der Winkel zum Zeitpunkt der Durchführung der Episiotomie um ca. 15° vom Winkel zum Zeitpunkt der Nahtversorgung unterscheidet [96]. Eogan et al. beschreiben eine DR-III/IV-Rate von knapp unter 10% bei einem Nahtwinkel von 25° im Vergleich zu 0,05% bei einem Winkel von mehr als 45° [97]. Pro 6° Zunahme des Schnittwinkels reduziert sich das DR-III/IV-Risiko um 50% [97]. Die Empfehlung des richtigen Schnittwinkels bei der mediolateralen Episiotomie liegt bei 60° [98].

Somit bietet die Episiotomie, die mit ca. 60° zur Mittellinie geschnitten wird, eine Option, vor allem bei der vaginal operativen Entbindung die Anzahl an höhergradigen Dammrisse zu reduzieren, und sollte insbesondere bei Frauen mit einer Dammlänge unter 30 mm (gemessen in der frühen Eröffnungsperiode) in Betracht gezogen werden [99]. Inwieweit das Etablieren einer „elektiven Episiotomie“ bei diesen Frauen sinnvoll ist, werden zukünftige Studien zeigen [99]. Des Weiteren ist der restriktive/selektive Einsatz der mediolateralen Episiotomie der routinemäßigen vorzuziehen [93].


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Periduralanästhesie

Betrachtet man die Periduralanästhesie aus rein beckenbodenprotektiven Aspekten, so zeigten hinsichtlich Sphinkterverletzungen (DR III/IV) Jango et al. bei n = 214 256 Geburten mit einer OASIS-Rate von 6,5% protektive Effekte einer PDA (aOR 0,84; 95%-KI 0,81 – 0,88; p = 0,0001) [100].


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Postpartale Möglichkeiten der Inkontinenz- und Deszensus-Prävention und -Therapie

Im Folgenden werden präventive Maßnahmen im Wochenbett beschrieben. Symptomatische Wöchnerinnen mit Belastungs- oder Stuhlinkontinenz, gerade nach Verletzungen des analen Schließmuskelkomplexes, bedürfen einer intensivierten Diagnostik und Therapie und sind nicht Thema dieser Übersichtsarbeit. Hier sei auf die entsprechenden AWMF-Leitlinien hingewiesen.

Wochenbettgymnastik/Rückbildungsgymnastik/Physiotherapie

Eine sinnvolle Beckenbodenrehabilitation kann unmittelbar nach der Geburt beginnen. Hier steht zunächst nicht das Training der Beckenbodenmuskeln per se im Vordergrund, sondern vielmehr die (Re-)Sensibilisierung der Frau für ihre Genitalregion, Beckenbodenwahrnehmung und Sensibilisierung für die veränderten Beckenbodenempfindungen und -funktionen, Hilfe bei der Ausscheidung, entstauende Übungen, Wiedergewinnung der Beckenbeweglichkeit, Sensibilisierung und stabilisierende Übungen für die veränderte Statik, korrekter Umgang mit der reduzierten Rumpfstabilität bei Rektusdiastase, Entspannung der Rückenmuskulatur etc. [23]. Eine palpatorische Beurteilung der Beckenbodenstruktur, -funktion und Willkürkontraktion ist nicht nur hilfreich, sondern auch international empfohlen (PERFECT-Schema) [101]. Die betreuende Hebamme hat hier im Setting der kontinuierlichen aufsuchenden Wochenbettbetreuung bei der Frau zu Hause frühen und niederschwelligen Zugang zur Wöchnerin in ihrer vertrauten Umgebung und in einer Einzelbetreuung. Die Wiedergewinnung der Kontrolle über den Beckenboden ist die Grundvoraussetzung für weitergehende Beckenbodenarbeit.

Das Erkennen von präpartalen Risikofaktoren und das Einordnen von Geburtsverläufen, die evtl. eine Traumatisierung und strukturelle Verletzung mit sich gebracht haben, machen eine Risikoeinschätzung auch aus physiotherapeutischer Sicht notwendig. Diese Einschätzung sollte innerhalb der ersten Tage postpartal erfolgen und zu einer entsprechenden Einordnung führen. In wieweit dies als Screening etabliert werden kann, wird Thema zukünftiger wissenschaftlicher Diskussion sein.

Funktionelle Beckenbodenarbeit nach der Geburt hat einen signifikanten regenerativen Effekt bei Harninkontinenz [102] – [104] und verbessert signifikant die allgemeine körperliche Regeneration [105]. Diese sollte daher besonders in Kombination mit beckenbodenschonendem Alltagsverhalten in der frühen, aber auch in der späten postpartalen Zeit umgesetzt werden [48], [49]. Selbstständiges Üben, zusätzlich zu den Übungsstunden, verbessert die Wirkung der Gymnastik [103].

Eine einmalige Einweisung durch die Physiotherapie zur Beckenbodenaktivierung, wie sie in vielen Geburtshilflichen Abteilungen organisatorisch gut möglich wäre, verändert nicht die Zahl der inkontinenten Frauen, verbessert aber die Adhärenz deutlich [106].

Es gibt Hinweise auf den Zusammenhang zwischen Bestehen einer Rektusdiastase und Organsenkungen, Rückenschmerzen und verminderter Lebensqualität. Aufgrund dessen ist die Reduktion der Rektusdiastase und das Erreichen einer funktionellen Reaktionsbereitschaft der Bauchmuskulatur als ergänzendes Ziel zur Prävention der Organsenkung zu sehen [107]. Die Reduzierung der Rektusdiastase durch angepasstes funktionelles Bauchmuskeltraining kann in der frühen postpartalen Zeit begonnen werden [108], hierzu sollten spezifische Anleitungen erfolgen [107], [109].

Eine ideale Versorgung für Wöchnerinnen ist in der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Hebammen und Physiotherapeut*innen, Geburtsmediziner*innen und auch Urogynäkolog*innen gesichert, insbesondere bei Frauen mit schwerwiegenderen Beckenbodenverletzungen und -dysfunktionen. Im Idealfall ist eine urogynäkologische Betreuung im Wochenbett nicht notwendig. Die Hebamme als Vertrauensperson mit engem Kontakt direkt nach der Geburt kann eventuelle Probleme erkennen und behandeln, hierzu ist die Anwendung von standardisierten Assessments (allgemeine und symptomorientierte Anamnese, klinische Untersuchung [110]) sinnvoll, um dann ggf. Physiotherapeut*innen und Urogynäkolog*innen in die Mitarbeit einzubeziehen oder die Frau in eine gezielte Weiterbehandlung überzuleiten. In dieser Zusammenarbeit, in der es um die Wiederherstellung der Beckenbodenfunktionalität und -sensibilität von Frauen geht, sollte nicht Konkurrenz, sondern Interdisziplinarität zum Wohle der Frau im Vordergrund stehen [7], [111].


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Pessartherapie

Zur postpartalen Pessartherapie gibt es bisher wenig Erfahrung, dennoch scheinen erste Pilotstudien die Optionen für mögliche weitere Analysen zu eröffnen [112], [113]. Neben der Verbesserung des Senkungsgefühls sind unter der Vorstellung der unmittelbar postpartalen Stabilisierung der bindegewebigen Strukturen des Beckenbodens durch ein Pessar auch positive Effekte im Rahmen der Rückbildung auf die Beckenbodenfunktion denkbar. Studien hierzu sind geplant.


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Schlussfolgerung

Hebammenwissenschaft, spezialisierte Beckenboden-Physiotherapie und Urogynäkologie bieten große Überschneidungen beim Thema Beckenbodenprotektion. Eine für jede werdende Mutter individualisierte Risikoeinschätzung kann Grundlage für eine nachhaltige Verbesserung der Versorgungsqualität in den Phasen der Schwangerschaft, Geburt und im Wochenbett darstellen. Ziel dieser Arbeit ist es, auf Basis der selektiven Literatursuche interdisziplinäre und interprofessionelle Synergismen zu beschreiben, damit Frauen adäquat beraten und ggf. präventive Strategien entwickelt werden können.

Das Streben nach einer peripartalen Beckenbodenprotektion hat viele Aspekte und individualisierte Ansatzpunkte, und eine empathische Kommunikation kann dazu beitragen, die Frauen in ihrem Wunsch nach natürlicher Geburt zu bestärken, Ängste abzubauen, gleichsam aber Risikosituationen zu erkennen und adaptiert zu reagieren. Eine individualisierte Risikobewertung der einzelnen werdenden Mutter stellt eine wichtige Alternative zu pauschalen Präventionsstrategien dar.


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Conflict of Interest/Interessenkonflikt

Markus Hübner: PROMEDON GmbH consultant, Aesculap AG consultant. The other authors declare that there is no conflict of interest./Markus Hübner: PROMEDON GmbH Consultant, Aesculap AG Consultant. Die anderen Autor*innen erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Correspondence/Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Markus Hübner
Klinik für Frauenheilkunde
Universitätsklinikum Freiburg
Hugstetter Straße 55
79106 Freiburg
Deutschland   

Publication History

Received: 29 January 2021

Accepted after revision: 17 May 2021

Article published online:
05 April 2022

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Fig. 1 The lowest and highest urinary incontinence rates in the course of pregnancy and post partum described in the studies are shown.
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Abb. 1 Angegeben sind die in den Studien beschriebenen jeweils geringsten und höchsten Harninkontinenzraten im Verlauf der Schwangerschaft und postpartal.