Schlüsselwörter
Patientenverfügung - stationäre Pflegeeinrichtungen - Patientenautonomie - Reanimation
- Dokumentenanalyse
Key words
living will - nursing homes - patients’ autonomy - resuscitation - document analysis
Einleitung
Mit einer Patientenverfügung besteht die Möglichkeit, Behandlungsmaßnahmen bereits
im Vorfeld einer Behandlung abzulehnen oder in diese einzuwilligen. Die Regelung des
§ 1901a BGB erklärt den vorausverfügten Willen für verbindlich, wenn für den Fall
der Einwilligungsunfähigkeit in ausreichend bestimmter Weise Maßnahmen genannt werden,
die der Patient (nicht) wünscht. Der Bundesgerichtshof hat in mehreren Entscheidungen
in den letzten Jahren die Anforderungen an eine Patientenverfügung konkretisiert [1]
[2]
[3]. Dabei ging es vor allem um die Frage der Bestimmtheit, also wie konkret Maßnahmen,
die abgelehnt werden, benannt werden müssen. Die pauschale Formulierung „lebensverlängernde
Maßnahmen“ soll dabei nicht ausreichen, sondern die Maßnahmen sollen möglichst konkret
benannt werden (z. B. Reanimation, Beatmung, Dialyse), ohne allerdings die Anforderungen
an eine Patientenverfügung zu überspannen. Darüber hinaus sollten die Situationen
(z. B. irreversibler Bewusstseinsverlust), für die die Patientenverfügung gelten soll,
möglichst konkret beschrieben werden. Aber auch hier stehen Verfügende vor der Schwierigkeit,
ihren Krankheitsverlauf als zukünftige Patienten nicht im Detail vorausahnen zu können.
Je konkreter die Beschreibungen von Behandlungssituationen und -maßnahmen, desto leichter
dürfte für die Feststellung ausfallen, was die verfügende Person gewollt hätte und
was nicht. Vor diesem Hintergrund ist die Qualität von Patientenverfügungen im Sinne
ihrer Gültigkeit und der daraus resultierenden Bindungswirkung von besonderem Interesse.
Denn nur mit einer Patientenverfügung, die die Anforderungen des § 1901a BGB erfüllt,
entfaltet diese ihre Bindungswirkung und verpflichtet die Akteure im Gesundheitswesen,
den niedergelegten Willen zu beachten. Dies bedeutet zwar keineswegs, dass andernfalls
der Wille keine Berücksichtigung findet, aber oftmals auf die Ermittlung des mutmaßlichen
Willens, mit dem Risiko der Fehleinschätzung, zurückgegriffen werden muss.
Für Bewohnende stationärer Pflegeeinrichtungen sind medizinisch-pflegerische Vorausplanungsprozesse,
u. a. aufgrund alters- und krankheitsbezogener Merkmale dieser Personengruppe [4] und einer erhöhten Demenzprävalenz [5], von besonderer Relevanz. Zudem markiert der Einzug in eine Pflegeeinrichtung für
viele Bewohnende den Eintritt in die letzte Lebensphase [6]. Prävalenzquoten in Bezug auf das Vorhandensein von Patientenverfügungen bei Bewohnenden
variieren zwischen 12 % [7], 20 % [8] und 33 % [9]. Auch der Gesetzgeber hat die Bedeutung des Themas Vorausplanung erkannt, sodass
über § 132g SGB V die Möglichkeit zur Finanzierung von Gesprächen zur gesundheitlichen
Vorausplanung in Pflegeeinrichtungen und Einrichtungen der Eingliederungshilfe besteht.
Hinzu kommt, dass Günther et al. [10] zuletzt von einer geringen Wahrscheinlichkeit erfolgreicher Reanimationsversuche
mit guten neurologischen Outcomes bei Bewohnenden in Pflegeeinrichtungen berichtet
haben und hieraus die Notwendigkeit der medizinischen Vorausplanung in diesem Setting
schlussfolgern.
Untersuchungen aus unterschiedlichen Versorgungsbereichen aus dem deutschsprachigen
Raum zeigen, dass Reanimationsmaßnahmen, künstliche Ernährung und Flüssigkeitszufuhr
häufig in Patientenverfügungen abgelehnt werden, zugleich ist der Wunsch nach der
Gabe von symptomlindernden Medikamenten zu finden [11]. Zudem werden durchschnittlich 3–6 Behandlungssituationen genannt; am häufigsten,
nämlich in fast 3 Viertel respektive 2 Drittel der Patientenverfügungen, der „unabwendbare
Sterbeprozess“ sowie der „irreversible Bewusstseinsverlust“ [12]. Häufig verbunden werden Behandlungswünsche außerdem mit dem „Endstadium einer tödlich
verlaufenden Krankheit“ [13]. Eine generelle Ablehnung jeder Form von Behandlungsmaßnahmen, ohne eine Erläuterung
von weiteren Umständen, wann diese gelten soll, kommt lediglich bei 1 % der Patienten
vor [14]. Oftmals werden Floskeln wie die Ermöglichung eines „friedvollen Sterbens“ verwendet
[15].
Bislang liegen im nationalen Kontext kaum Daten darüber vor, welche medizinisch-pflegerischen
Behandlungsmaßnahmen von Bewohnenden stationärer Pflegeeinrichtungen gewünscht oder
abgelehnt werden und ob diese in Patientenverfügungen festgehalten sind. Vor dem Hintergrund
von Forderungen eines vermehrten Einsatzes von Patientenverfügungen und des umfassenderen
Ansatzes von Advance Care Planning (ACP) [16], gerade auch in Zeiten der Corona-Pandemie [17], ist es wichtig, einen Überblick über die dokumentierten Inhalte in Patientenverfügungen
in diesem Setting zu erlangen. Nicht zuletzt, um auch einer ungewollten Überversorgung
am Lebensende entgegenzuwirken. Mit einem verbesserten Kenntnisstand lassen sich die
Informations- und Beratungsangebote passgenauer zuschneiden und ein besserer Überblick
über die Vorstellungen der Bewohnenden zur Gestaltung ihres Lebensendes gewinnen.
Zur Generierung dieser bislang weitestgehend fehlenden Erkenntnisse wurde eine Analyse
von Vorsorgedokumenten durchgeführt. Die Ergebnisse können u. a. als Grundlage zur
Weiterentwicklung von ACP-Konzepten im Setting Pflegeheim herangezogen werden.
Der Dokumentenanalyse liegen folgende Fragestellungen zugrunde: Welche Situationsbeschreibungen
und welche medizinisch-pflegerischen Behandlungsmaßnahmen sind wie häufig in Patientenverfügungen
von Bewohnenden dokumentiert? Erfolgt die Ablehnung von Reanimationsversuchen pauschal
oder wird sie von bestimmten Behandlungssituationen abhängig gemacht?
Methoden
Erhebung
Von November 2018 bis März 2019 wurde eine multizentrische Vollerhebung aller Vorsorgedokumente
(Patientenverfügungen, Vorsorgevollmachten, Generalvollmachten, Betreuerverfügungen,
Notfallpläne und Kombinationen verschiedener Dokumenttypen) von Bewohnenden in 13
stationären Pflegeeinrichtungen in der Stadt und dem Landkreis Würzburg durchgeführt.
Insgesamt wurden 16 mit dem unten genannten Forschungsschwerpunkt kooperierende Pflegeeinrichtungen
um Studienteilnahme gebeten, von denen sich alle 16 zur Teilnahme bereit erklärten.
Drei Einrichtungen wurden aufgrund der Ein-/Ausschlusskriterien (u. a. Ausschluss
von Einrichtungen mit primär hochgradig dementen Bewohnenden) nicht eingeschlossen.
Die Dokumente wurden jeweils vollständig erfasst. Die Einsichtnahme und Erfassung
geschah durch Projektmitarbeitende in physischen und digitalen Bewohnendenakten. Im
Zuge der Datenerhebung wurden die Dokumente vollständig anonymisiert.
Auswertung
Die zu identifizierenden Merkmale der erhobenen Patientenverfügungen (Ausprägungen
und Anzahl der beschriebenen Behandlungssituationen, Ausprägungen und Anzahl der dokumentierten
medizinisch-pflegerischen Behandlungsmaßnahmen) wurden auf Dokumentebene nach deduktiv-induktivem
Vorgehen mithilfe von MaxQDA 2018 kategorial zusammengefasst und mittels Häufigkeitszählungen
deskriptiv ausgewertet (SPSS 26). Zunächst wurden einzelne deduktive Analysekategorien
im Hinblick auf das Erkenntnisinteresse der Studie im Projektteam gebildet. Anschließend
wurden diese Kategorien durch induktives Vorgehen um weitere aus dem Datenmaterial
heraus ergänzt. Die deskriptive Beschreibung fand entlang der finalen Analysekategorien
statt.
Ethikvotum
Für die Durchführung der Studie liegt ein Unbedenklichkeitsvotum der Ethikkommission
der Universität Würzburg vor (AZ: 140/18-sc/10.08.2018).
Ergebnisse
Stichprobe
In den 13 Pflegeeinrichtungen lebten zum Erhebungszeitpunkt 832 Bewohnende (Mittelwert
(M) = 64; Standardabweichung (SD) = 40,4), von denen 556 Personen mindestens ein Vorsorgedokument
in ihrer Bewohnendenakte hinterlegt hatten. Die Bewohnenden waren zu 71,1 % weiblich
und zum Erhebungszeitpunkt im Durchschnitt 87 Jahre alt. Weitere Merkmale der Bewohnendenstichprobe
und der untersuchten Pflegeeinrichtungen zeigt [Tab. 1].
Tab. 1
Stichprobenmerkmale.
|
Pflegeeinrichtungen (n = 13)
|
|
Trägerschaft
|
kommunal: n = 7
freigemeinnützig: n = 3
privat: n = 3
|
|
Größe (Anzahl Bewohnende)
|
M: 64
SD: 40,4
Range: 15–160
|
|
Lage
|
Stadt: n = 8
Landkreis: n = 5
|
|
Prävalenz Bewohnende mit mind. einem Vorsorgedokument
|
M: 67,1 %
SD: 18,4 %
Range: 28,6–87,8 %
|
|
Bewohnende (n = 832)
|
|
Alter (in Jahren)
|
M: 87
SD: 7,2
Range: 54–105
|
|
Geschlecht
|
weiblich: 71,1 %
|
|
Bewohnende mit mind. einem Vorsorgedokument
|
66,8 %
|
|
Bewohnende mit Patientenverfügung
|
20,4 %
|
M = Mittelwert; SD = Standardabweichung.
Patientenverfügungen
Im Zuge der Datenerhebungen wurden 909 Vorsorgedokumente erfasst, darunter 265 Patientenverfügungen.
Der durchschnittliche Seitenumfang betrug 3 Seiten (SD = 1,8; Range = 1–15), sie waren
zu 4,9 % handschriftlich erstellt worden. Die Patientenverfügungen wurden, zum Referenzzeitpunkt
der Erhebung, im Durchschnitt vor 8,5 Jahren erstellt und in 19,2 % der Fälle bereits
mindestens 1-mal aktualisiert. Die Verwendung von Textbausteinen war bei 94 % aller
Patientenverfügungen ersichtlich sowie die Verwendung von Multiple-Choice-Formaten
bei 42,6 %. Einer erkennbaren Formularvorlage konnten 61,9 % der erfassten Patientenverfügungen
zugeordnet werden, dabei wurden am häufigsten die Formatvorlagen des Bayerischen Staatsministeriums
für Justiz [18]
[1] (18,9 %) sowie verschiedener freigemeinnütziger Organisationen (9,1 %) identifiziert
[8].
Behandlungssituationen
In den erfassten Patientenverfügungen wurden insgesamt 2072 Beschreibungen von Behandlungssituationen
ermittelt (durchschnittlich 7,8 Situationsbeschreibungen pro Patientenverfügung).
Die am häufigsten dokumentierten Situationsbeschreibungen waren: Eintritt bzw. Vorliegen
eines fortschreitenden Hirnabbauprozesses (88,3 %), unabwendbarer Sterbeprozess (74,3 %),
irreversible Gehirnschädigungen (73,2 %), Ausfall lebenswichtiger Körperfunktion bzw.
Organversagen (72,8 %). Am seltensten wurden schwere Schmerzzustände (15 %) und Lähmungen
(0,4 %) beschrieben. Weitere Häufigkeiten zeigt [Tab. 2].
Tab. 2
Behandlungssituationen (n = 265 Patientenverfügungen).
|
Behandlungssituation
|
Anzahl
(% aller Patientenverfügungen)
|
|
fortschreitender Hirnabbauprozess
dabei explizit benannt: Alzheimer oder Demenzerkrankungen
|
234 (88,3)
104 (39,3)
|
|
unabwendbarer/unmittelbarer Sterbeprozess
|
197 (74,3)
|
|
irreversible Gehirnschädigung (direkt/indirekt)
|
194 (73,2)
|
|
Ausfall lebenswichtiger Körperfunktionen/Organversagen
|
193 (72,8)
|
|
(Folgen) Krankheit/Unfall
|
163 (61,5)
|
|
keine Aussicht auf umweltbezogenes Leben
|
157 (59,3)
|
|
Endstadium einer unheilbaren/tödlichen Krankheit
|
156 (58,9)
|
|
Fähigkeit, Willen bilden/Einsichten gewinnen/Entscheidungen treffen, erloschen
|
156 (58,9)
|
|
(Folgen) Schlaganfall
|
134 (50,6)
|
|
(Folgen) Wiederbelebung/Schock
|
123 (46,4)
|
|
(Folgen) Entzündung
|
115 (43,4)
|
|
nicht in der Lage sein, Nahrung/Flüssigkeit auf natürliche Weise aufzunehmen
|
79 (29,8)
|
|
irreversibler Bewusstseinsverlust/Wachkoma
|
77 (29,1)
|
|
Herz-Kreislauf-Versagen
|
27 (10,2)
|
|
Altersschwäche
|
23 (8,7)
|
|
menschen(un)würdiges Dasein
|
20 (7,6)
|
|
Atemstillstand
|
11 (4,2)
|
|
Risiko-Operationen
|
4 (1,5)
|
|
(Folgen) Tumorerkrankung
|
4 (1,5)
|
|
schwere Schmerzzustände
|
4 (1,5)
|
|
Lähmung
|
1 (0,4)
|
|
Anzahl gesamt
|
2072
|
Behandlungsmaßnahmen
Insgesamt wurden in den erfassten Patientenverfügungen zudem 1673 medizinisch-pflegerische
Behandlungsmaßnahmen identifiziert, was einer Quote von 6,3 Behandlungsmaßnahmen pro
Patientenverfügung entspricht. Am häufigsten benannt wurden symptomlindernde Maßnahmen
(90,9 %), Reanimationsversuche (76,2 %) sowie künstliche Ernährung bzw. Flüssigkeitszufuhr
(75,9 %). In geringerer Häufigkeit waren die Ablehnung der Verständigung von Notärzten
(3,8 %), die Zustimmung zum Einsatz „alternativer Heilmethoden“ (2,6 %) sowie die
Ablehnung einer ärztlichen Aufklärung (0,8 %) festgelegt. 58,2 % der Willensbekundungen
beinhalteten eine Ablehnung bestimmter Behandlungsmaßnahmen. Weitere Häufigkeiten
zeigt [Tab. 3].
Tab. 3
Medizinisch-pflegerische Behandlungsmaßnahmen (n = 265 Patientenverfügungen).
|
medizinisch-pflegerische Behandlungsmaßnahme
|
Anzahl
(% der Patientenverfügungen)
|
Anzahl Ablehnung
(% der Maßnahme)
|
Anzahl Zustimmung
(% der Maßnahme)
|
|
Symptomlinderung
-
Schmerzen
-
Unruhe/Angst
-
Atemnot/Luftnot
-
Erbrechen/Übelkeit
-
Durst
-
Depressivität
|
241 (90,9)
237 (89,4)
187 (70,6)
165 (62,3)
147 (55,5)
133 (50,2)
4 (1,5)
|
–
–
–
–
–
–
–
|
241 (100)
237 (100)
187 (100)
165 (100)
147 (100)
133 (100)
4 (100)
|
|
Reanimationsmaßnahmen
|
202 (76,2)
|
191 (94,5)
|
11 (5,5)
|
|
künstliche Ernährung/Flüssigkeitszufuhr
|
201 (75,9)
|
192 (95,5)
|
9 (4,5)
|
|
lebensverlängernde/lebenserhaltende Maßnahmen
|
191 (72,1)
|
179 (93,7)
|
12 (6,3)
|
|
Gabe symptomlindernder Medikamente
|
157 (59,3)
|
–
|
157 (100)
|
|
Körper-/Mundpflege
|
146 (55,1)
|
–
|
146 (100)
|
|
künstliche Beatmung
|
106 (40,0)
|
101 (95,3)
|
5 (4,7)
|
|
Gabe Blut/Blutbestandteile
|
64 (24,2)
|
57 (89,1)
|
7 (10,9)
|
|
Dialyse
|
62 (23,4)
|
59 (95,2)
|
3 (4,8)
|
|
Gabe Antibiotika
|
59 (22,3)
|
53 (89,8)
|
6 (10,2)
|
|
Organspende/Organtransplantation
|
54 (20,4)
|
43 (79,6)
|
11 (20,4)
|
|
Dauerhafte Hilfe bei Nahrungs-/Flüssigkeitszufuhr
|
36 (13,6)
|
9 (25,0)
|
27 (75,0)
|
|
Ermöglichung würdevolles/friedvolles Sterben
|
33 (12,5)
|
–
|
33 (100)
|
|
Intensivtherapien
|
24 (9,1)
|
24 (100)
|
–
|
|
Einsatz diagnostischer Verfahren ohne therapeutische Konsequenz
|
19 (7,2)
|
19 (100)
|
–
|
|
aktive Sterbehilfe
|
17 (6,4)
|
17 (100)
|
–
|
|
operative Eingriffe
|
16 (6,0)
|
7 (43,8)
|
9 (56,2)
|
|
Einsatz nicht zugelassener Medikamente
|
14 (5,3)
|
–
|
14 (100)
|
|
Gabe lebenserhaltender Medikamente
|
12 (4,5)
|
12 (100)
|
–
|
|
Verständigung Notarzt
|
10 (3,8)
|
10 (100)
|
–
|
|
Einsatz alternativer Heilmethoden
|
7 (2.6)
|
–
|
7 (100)
|
|
ärztliche Aufklärung
|
2 (0,8)
|
1 (50,0)
|
1 (50,0)
|
|
Anzahl gesamt
|
1673
|
974
|
699
|
Reanimation
Von den 202 dokumentierten Willensbekundungen (davon Ablehnung: 94,5 %), die der Behandlungsmaßnahme
Reanimation bzw. Reanimationsversuch zugeordnet wurden, waren 88,6 % mit dem Eintritt
oder Bestehen bestimmter Behandlungssituationen verbunden. Im Falle einer Ablehnung
von Reanimationsmaßnahmen wurden der „unabwendbare Sterbeprozess“, das „Endstadium
einer tödlichen/unheilbaren Krankheit“, „Schlaganfall“, „irreversible Gehirnschädigungen“
sowie die unwahrscheinliche Aussicht auf ein „umweltbezogenes Leben“ am häufigsten
genannt. In den 5,6 % der Patientenverfügungen, die die Zustimmung zu Reanimationsmaßnahmen
mit Situationsbeschreibungen verknüpfen, wurden die Folgen von Unfall, Schlaganfall
sowie der Kontext von Operationen beschrieben. Der Herz-Kreislauf-Stillstand wurde
explizit in 15,1 % der 179 Fälle genannt, davon in 11,2 % der Fälle im Zusammenhang
mit der Ablehnung von Reanimationsbemühungen.
Diskussion
Die Untersuchung liefert quantitative Erkenntnisse über den Inhalt von Patientenverfügungen
von Bewohnenden stationärer Pflegeeinrichtungen und gibt damit Hinweise auf medizinisch-pflegerische
Behandlungswünsche und -ablehnungen dieser Personengruppe im Falle der Einwilligungsunfähigkeit.
Die häufige Verbindung konkret umschriebener Behandlungssituationen mit gewünschten
oder abgelehnten Behandlungsmaßnahmen zeigt, dass Bewohnende nur in wenigen Fällen
Behandlungsmaßnahmen ohne eine zugeordnete Nennung von Behandlungssituationen ablehnen.
Daten aus anderen Stichproben weisen auf eine häufige Ablehnung lebensverlängernder
Maßnahmen hin [7], was in dieser Studie bestätigt werden konnte. Die in der Stichprobe identifizierte
Prävalenzquote von fast 8 Situationsbeschreibungen pro Patientenverfügungen liegt
deutlich höher als in Stichproben anderer Settings, wobei sich die Ausprägungen der
Situationsbeschreibungen kaum unterscheiden [12]. Es kann nicht abschließend geklärt werden, ob dieses erhöhte Vorhandensein mit
einer gesteigerten Erfahrung mit Erkrankungen oder Multimorbidität in dieser Stichprobe
zusammenhängt oder mit dem hohen Anteil an Multiple-Choice-Formatvorlagen. Bei Letztgenannten
sind die Verbindungen zwischen Behandlungssituation und -maßnahme zumeist inhärent.
Symptomlindernde Maßnahmen werden in den Patientenverfügungen häufig gewünscht, lebensverlängernde
bzw. -erhaltende häufig abgelehnt. Konkret werden Reanimation, künstliche Ernährung
und Flüssigkeitszufuhr sowie künstliche Beatmung relativ häufig abgelehnt. Dies stimmt
mit vergleichbaren Untersuchungsergebnissen [11] überein.
Reanimationsmaßnahmen werden von den Bewohnenden mittels Patientenverfügung in der
Mehrheit abgelehnt. In 88,6 % der 202 Dokumente, in denen Reanimationsmaßnahmen benannt
wurden, werden diese auf eine konkrete Behandlungssituation bezogen, wobei der Herz-Kreislauf-Stillstand
nur in wenigen Patientenverfügungen als explizite, spezifische Situationsbeschreibung
benannt wird. Da eine Reanimation jedoch bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand erfolgt,
lässt sich die Patientenverfügung entsprechend auslegen. Günther et al. [10] plädieren vor dem Hintergrund der Wahrscheinlichkeit eines schlechten neurologischen
Outcomes bei der Zielgruppe für einen verstärkten Einsatz von ACP. Diese Ableitung
korrespondiert mit den Befunden der Dokumentenanalyse, als die betroffene Personengruppe
Reanimationsmaßnahmen eher ablehnt bzw. eine Ablehnung oder Zustimmung mit konkreten
Behandlungssituationen verbunden ist. Dies muss nicht zwangsläufig mit einem Wissen
um einen mit hoher Wahrscheinlichkeit schlechten neurologischen Outcome zusammenhängen,
sondern kann auch auf das Bedürfnis nach einer möglichst selbstbestimmten letzten
Lebensphase [19] und den gesellschaftlich verbreiteten Wunsch nach einem schnellen Tod [20] zurückgeführt werden, wobei alle genannten Aspekte einander bedingen können. Die
Forderung von Günther et al., medizinische Vorausplanungsprozesse in stationären Pflegeeinrichtungen
anzustoßen, bleibt gleichwohl wichtig. Denn die Ergebnisse der Arbeitsgruppe dürften
im Rahmen der Risikokommunikation zwar die Versorgungsrealität widerspiegeln, für
die Beurteilung im Einzelfall sind aber sowohl die Rahmenbedingungen (Pflegeeinrichtung
reanimiert selbst oder nicht, wartet auf Eintreffen des Notarztes, unklare Latenzzeit
etc., Günther et al. beschreiben stark unterschiedliche Ausgangssituationen) als auch
der jeweilige Gesundheitsstatus der Person zu berücksichtigen.
Das Vorhandensein einer Patientenverfügung bei 20,4 % der Bewohnenden in der untersuchten
Stichprobe liegt in einem zu erwartenden Bereich im Vergleich mit Prävalenzquoten
anderer Stichproben [7]
[9]. Frühere Untersuchungen zeigen einen hohen Anteil an formularbasierten Dokumenten
sowie Patientenverfügungen mit vorformulierten Textbausteinen oder Multiple-Choice-Bestandteilen
[15]
[21]. Die damit verbundene hohe Tendenz zu festgelegten Floskeln, wie z. B. die Ermöglichung
eines „würdevollen Sterbens“ (Prävalenz in dieser Stichprobe: 12,5 %), oder zur Ablehnung
bzw. Zustimmung zu „lebensverlängernden Maßnahmen“ (72,1 %) wirft Fragen zur Aussagekraft
und damit schließlich zur Bindungswirkung der Patientenverfügung im Sinne des § 1901a
BGB auf [22]. Pauschale Formulierungen werden für die ärztliche Praxis häufig als wenig hilfreich
zur Ermittlung des individuellen Patientenwillens beschrieben [21] bzw. sind oftmals nicht eindeutig genug, um medizinische Entscheidungsfindungsprozesse
hierauf zu stützen [12]. Sie genügen in der Regel auch nicht den rechtlichen Anforderungen im Sinne des
§ 1901a Abs. 1 BGB. Aus ärztlicher Perspektive werden Patientenverfügungen mit wertebasierten,
möglichst individuell formulierten Bestandteilen eher akzeptiert [23], vor allem wenn den Dokumenten eine ärztliche Beratung zugrunde liegt [24], die allerdings nicht erforderlich ist. Werteanamnesen und Wertebeschreibungen,
die als Interpretationsstützen oder bei der Ermittlung des mutmaßlichen Willens helfen
können, als Bestandteil von Patientenverfügungen wurden lediglich in 8,3 % der erhobenen
Dokumente identifiziert [8]. Teilweise wird von der faktischen „Wirkungslosigkeit“ von Patientenverfügungen
aufgrund Setting-immanenter Strukturen, z. B. der nicht schnellen Auffindbarkeit der
Dokumente und der fehlenden Bekanntheit bei Einrichtungsmitarbeitenden, berichtet
[25]. Diese Erschwernis sowie auch eine geringe Aussagekraft der Patientenverfügungen
können zu einem Hindernis bei deren Beachtung insbesondere in akutmedizinischen Notfallsituationen
werden [7].
Stärken der Studie sind die Stichprobengröße im Sinne einer Vollerhebung von Vorausplanungsdokumenten
in 13 Pflegeeinrichtungen unterschiedlicher Größe und heterogener Trägerschaft. Limitationen
der Untersuchung ergeben sich aus dem Vorgehen der Datenerfassung, da ausschließlich
Patientenverfügungen aus Bewohnendenakten erfasst wurden. Somit ist nicht auszuschließen,
dass innerhalb der Stichprobe weitere Dokumente (z. B. hinterlegt in den Zimmern der
Bewohnenden oder bei Angehörigen) vorhanden sind. Die Generalisierbarkeit der Ergebnisse
ist aufgrund des regionalen Bezuges der Untersuchung und einer möglichen Ergebnisverzerrung
durch die nichtrepräsentative Einrichtungsstichprobe nur eingeschränkt möglich. Der
Vergleich mit nationalen Daten stationärer Pflegeeinrichtungen lässt jedoch auf eine
vergleichbare Bewohnendenstruktur (durchschnittliches Alter der Bewohnenden in Stichprobe:
87 Jahre (SD = 7,2), national: 63,6 % aller Bewohnenden zwischen 80 und 95 Jahre;
Anteil weiblich in Stichprobe: 71,1 %, Anteil weiblich national: 69,7 %) [26] schließen.
-
Je Patientenverfügung werden durchschnittlich 8 Behandlungssituationen mit Behandlungswünschen
oder -ablehnungen verbunden. Am häufigsten benannt wird der fortschreitende Hirnabbauprozess
in 88,3 % der Patientenverfügungen.
-
In der untersuchten Stichprobe legen Bewohnende stationärer Pflegeeinrichtungen in
den 265 erfassten Patientenverfügungen durchschnittlich 6 ablehnende oder gewünschte
Behandlungsmaßnahmen fest.
-
Symptomlindernde Maßnahmen werden in 90,9 % der Patientenverfügungen gewünscht, wohingegen
lebensverlängernde Maßnahmen wie eine künstliche Ernährung bzw. Flüssigkeitszufuhr
überwiegend abgelehnt werden.
-
In 76,2 % der Patientenverfügungen werden Reanimationsversuche von Bewohnenden benannt,
davon in 94,5 % der Fälle abgelehnt. In 88,6 % wird die Ablehnung bzw. Zustimmung
zu Reanimationsmaßnahmen mit bestimmten Behandlungssituationen (z. B. fortschreitender
Hirnabbauprozess) verbunden.
-
Untersuchungsergebnisse zu Formalien und Inhalten von Patientenverfügungen aus anderen
Versorgungsbereichen (u. a. die Verwendung von Formularvorlagen, Textbausteinen und
zu pauschalen Formulierungen) bestätigen sich im Setting stationärer Pflegeeinrichtungen.
Diese können Schwierigkeiten in Bezug auf den Umgang mit Patientenverfügungen in der
Praxis zur Folge haben, weil deren Bindungswirkung fraglich ist.