In der klinischen Praxis präsentieren sich Patient*innen mit nervenbezogenen Schmerzen als inhomogene Gruppe. Diese Diversität manifestiert sich in der unterschiedlichen klinischen Präsentation, den Schmerzmechanismen sowie den zugrunde liegenden nozizeptiven bzw. neuropathischen Schmerztypen. Neuropathische Schmerzen sind Schmerzen, die „durch eine Verletzung oder Erkrankung des somatosensorischen Nervensystems“ ausgelöst werden [1].
Spektrum an Nervenschmerzen
Spektrum an Nervenschmerzen
Modell Die Bandbreite verschiedener Nervenschmerzen wird an einem einfachen Modell verständlich. An einem Ende des Spektrums stehen Schmerzzustände aufgrund einer Nervenläsion, wie sie bei Entrapment-Neuropathien, z. B. dem Karpaltunnelsyndrom oder der Radikulopathie, auftreten. Am anderen Ende stehen klinische Präsentationen mit sehr vagen Anzeichen einer Nervenstörung, welche durch nicht-spezifische Schmerzen und eine erhöhte neurale Mechanosensitivität charakterisiert sind [2],[3], [4].
Eine erhöhte neurale Mechanosensitivität zeigt sich bei Nervenschmerzen, die als nozizeptiv oder entzündlich gelten [5], [6], [7]. Dieses Phänomen kann selbst dann auftreten, wenn bildgebende Verfahren oder Nervenleitfähigkeitsuntersuchungen keine sensorischen oder motorischen Ausfallserscheinungen oder Auffälligkeiten entdecken bzw. keine Nervenschädigung diagnostiziert werden kann [3], [8], [9], [11].
Merke
Klinisches Bild
Klinisch manifestiert sich eine erhöhte neurale Mechanosensitivität als schmerzhafte Reaktion auf Bewegungen der Extremitäten, bei denen die entsprechenden Nerven verlängert werden, sowie als lokale Berührungsempfindlichkeit bei Palpation dieser Nerven [2], [3], [8], [9], [10].
Nervenbezogene Schmerzen können überall auf dem Kontinuum zwischen den Gegenpolen „rein nozizeptiv“ und „rein neuropathisch“ liegen [12]. Das Bestimmen der patientenspezifischen „Schmerzmischung“ bzw. der Dominanz einer bestimmten Schmerzart hat v. a. bei neuropathischen Schmerzen – gerade sie benötigen ein gezieltes Management – eine besondere therapeutische Relevanz [13], [14].
Epidemiologie
Die Prävalenz von Schmerzstörungen mit erhöhter neuraler Mechanosensitivität ist nur schwer zu beziffern.
In der Pilotstudie von Allison et al. aus dem Jahr 2002 zeigte ein Viertel der Probanden mit Zervikobrachialsyndrom klinische Zeichen einer erhöhten neuralen Mechanosensitivität [2]. Ob sich diese Zeichen als eigenständige Störung ohne klinische Zeichen einer Nervenschädigung präsentierten, gaben die Autoren nicht an.
In einer anderen Untersuchung aus dem Jahr 2019 wies mehr als die Hälfte der Probanden mit nicht-spezifischen Nacken-Arm-Schmerzen eine erhöhte neurale Mechanosensitivität auf [26].
Bei 40 Probanden mit nervenbezogenen Rücken- und Beinschmerzen zeigten 57% Anzeichen einer erhöhten neuralen Mechanosensitivität mit klinischen Zeichen einer Nervenwurzelschädigung, d. h. Defiziten in Sensorik, Kraft und Reflexen [27]. Bei 10% der Probanden trat die erhöhte neurale Mechanosensitivität als eigenständige Störung ohne klinisch festzustellende neurologische Defizite auf.
Angesichts der Studienlage scheint eine erhöhte neurale Mechanosensitivität in Form einer eigenständigen Störung also nicht so prävalent, wie oft vermutet wird. Dessen ungeachtet mag sie jedoch bei einigen Patient*innen eigenständig und unabhängig von einer offensichtlichen Nervenschädigung existieren.
Pathophysiologie
Für die erhöhte neurale Mechanosensitivität von Nervengewebe werden zwei pathophysiologische Mechanismen diskutiert: die Sensibilisierung von Nervengewebe durch noxische Reize sowie die nozizeptive Funktion der Nervi nervorum.
Sensibilisierung von Nervengewebe
Ein Nerv kann durch mechanische, chemische oder entzündliche Einwirkung sensibilisiert werden, wodurch sich seine Reaktionsempfindlichkeit auf mechanische Stimuli erhöht [28],[29], [30]. Diverse Tierstudien zeigen, dass eine induzierte Entzündung intakte Nervenfasern derart verändern kann, dass diese – ohne axonale Schädigung – auf Druck und Dehnung mechanosensitiver reagieren [5], [31], [32]. Die meisten dieser reaktiveren Nervenfasern feuerten bereits bei einer Dehnung von weniger als 5%. D. h. sie reagierten bereits bei einer minimalen Dehnung, die bei einem Menschen innerhalb der Spannweite normaler Arm- und Beinbewegungen liegt [33].
Merke
Mechanische, chemische oder entzündliche Sensibilisierung
Die durch mechanische, chemische oder entzündliche Stimuli induzierte erhöhte neurale Mechanosensitivität könnte erklären, warum bei Patient*innen mit nervenbezogenen Schmerzen bereits das normale Bewegen von Armen und/oder Beinen Schmerzen auslöst.
Nervi nervorum
Als weiterer Mechanismus für die erhöhte neurale Mechanosensitivität wird das Aktivieren der Nervi nervorum diskutiert [6], [34], [35], [36]. Nervi nervorum sind kleine im Epineurium verlaufende Nerven, welche der nozizeptiven Versorgung des Bindegewebes eines peripheren Nerven sowie seiner intrinsischen afferenten Innervation dienen.
Elektrophysiologische Studien Mitte der 1990-er Jahre zeigten, dass die Nervi nervorum zumindest teilweise als Nozizeptoren fungieren können und folglich auf schädliche mechanische, chemische und thermale Stimuli reagieren [37], [38].
Ferner wurde nachgewiesen, dass die Nervi nervorum Neuropeptide enthalten – u. a. ‚Substanz P‘ und ‚Calcitonin Gene Related Peptide‘ (CGRP). Die Ausschüttung dieser Neuropeptide spielt möglicherweise eine Rolle bei der Entstehung von neurogenen Entzündungen und trägt so zur Nozizeption und Schmerzwahrnehmung bei [38], [39].
Die Nervi nervorum können auch durch eine entzündliche Reaktion innerhalb des Epineuriums sensibilisiert werden, bspw. bei einer dezenten chronischen Nervenkompression [40].
Merke
Nervi nervorum
Eine erhöhte neurale Mechanosensitivität könnte auch auf die Nervi nervorum zurückgeführt werden. Sie übernehmen nozizeptive Funktionen, reagieren dementsprechend auf noxische Reize, schütten schmerztypische Neuropeptide aus und können durch Entzündungen sensibilisiert werden.
Assessment bei Verdacht auf Schmerzen neuralen Ursprungs
Assessment bei Verdacht auf Schmerzen neuralen Ursprungs
Ein fundiertes Assessment von Patient*innen mit Verdacht auf Schmerzen neuralen Ursprungs berücksichtigt neben der individuellen medizinischen Vorgeschichte und der Auswertung bereits vorliegender Befunde auch die Untersuchung relevanter muskuloskelettaler und neuraler Gewebe sowie die neurologische klinische Untersuchung der sensorischen und motorischen Funktion, um mögliche Nervenverletzungen zu identifizieren.
Neurologische Untersuchung
Sensorische Untersuchung
Bei der sensorischen Untersuchung werden sowohl die C- und Aδ-Nervenfasern als auch die Aβ-Nervenfasern getestet [41].
Zusatzinfo
C-, Aδ- und Aβ-Nervenfasern
C-Fasern sind dünne, langsam leitende, unmyelinisierte Nervenfasern. Sie dienen der afferenten Erregungsleitung – v. a. im Rahmen der Thermozeption und Nozizeption.
Aδ-Fasern sind dünne myelinisierte Nervenfasern. Sie führen Hautafferenzen und dienen hauptsächlich der Temperaturempfindung und Nozizeption.
Aβ-Fasern sind dicke myelinisierte Nervenfasern. Sie leiten nicht-nozizeptive Signale des Tastsinns bzw. der kutanen Mechanosensorik in Form von Berührung und Vibration.
Bei nervenbezogenen Schmerzen können neben den dünnen C- und Aδ-Fasern gleichzeitig auch die dicken Aβ-Fasern betroffen sein [11], [40], [42], [43]. Zudem können Beeinträchtigungen der C- und Aδ-Fasern zur Dysfunktion der Aβ-Fasern führen [42], [44].
Praxis
Berührung + Pinprick + Temperatur
Bei Verdacht auf Schmerzen neuralen Ursprungs müssen – neben der Untersuchung der Berührungsempfindlichkeit – auch Pinprick-Tests sowie eine Prüfung der Thermozeption durchgeführt werden.
Motorische Untersuchung
Die motorische Untersuchung schließt die Untersuchung der Muskelkraft und Reflexe ein. Defizite, wie z. B. eine myotomale Schwäche des M. biceps brachii mit entsprechendem Reflexverlust, könnten ein Hinweis auf eine C6-Nervenwurzelläsion sein.
Koexistenz von Schmerztypen
Die klinische neurologische Standarduntersuchung oder elektrodiagnostische Verfahren sind bei Schmerzen neuralen Ursprungs zumeist ohne Befund [3], [8], [9], [11]. Erst bei vorliegender Nervenschädigung – so u. a. bei der zervikalen Radikulopathie oder beim Karpaltunnelsyndrom – sind diese Untersuchungsmethoden positiv [11], [43], [45], [46], [47]. In diesen Fällen können nozizeptive und neuropathische Schmerztypen koexistieren.
Untersuchung der Beweglichkeit
Praxis
Schmerz bei Bewegung
Bei erhöhter neuraler Mechanosensitivität werden die Schmerzen durch Bewegungen der Extremitäten ausgelöst oder verstärkt, weil dadurch der betroffene Nerv mechanisch beansprucht wird.
In Analogie zur Stärke der neuralen Mechanosensitivität kann der Bewegungsumfang der Extremität im Vergleich zur asymptomatischen Seite limitiert sein [2], [8], [9]. Klassisches Beispiel ist die Abduktion im Schultergelenk: das Abspreizen des Arms erhöht die Spannung des Plexus brachialis sowie des N. medianus [48], [49], [50], [51].
Neurodynamische Tests
Geschichte
Bereits in den 1880-er Jahren beschäftigte man sich mit der Untersuchung und Behandlung erhöhter neuraler Mechanosensitivität in den Extremitäten [15], [16]. Heute wird der ‚Straight-Leg-Raise‘ in allen medizinischen Fachdisziplinen routinemäßig bei Rücken- oder Beinschmerzen angewandt [17], [18], [19], [20]. Dagegen werden die neurodynamischen Tests für die obere Extremität – nicht zuletzt wegen der Pionierarbeiten von Robert Elvey, David Butler und Michael Shacklock – hauptsächlich in der Physiotherapie genutzt [2], [3], [8], [9], [21], [22], [23], [24].
Nomenklatur
Die ursprüngliche Nomenklatur mit Begriffen wie ‚Brachial Plexus Tension Test‘, ‚Upper Limb Tension Test‘ oder ‚Adverse Mechanical Tension‘ zeigt, dass die Ursache einer Nervenstörung damals in einer abnormalen neuralen Spannung vermutet wurde. Heute nutzt man besagte Untersuchungsmethoden zur Prüfung der neuralen Mechanosensitivität und spricht folgerichtig von ‚Neural Tissue Provocation Tests‘ oder ‚neurodynamischen Tests‘.
Klinischer Standard
Neurodynamische Tests sind seit mehr als 20 Jahren fester Bestandteil in der klinischen Standarduntersuchung bei neuromuskuloskelettalen Schmerzerkrankungen [25]. Dass sich mit dieser Untersuchungsmethode eine potentiell erhöhte neurale Mechanosensitivität der Extremitäten diagnostizieren lässt, ist evident [16], [52], [53], [54], [55].
Interrater-Reliabilität
Von besonderer Relevanz für die Test-Praxis ist die Interrater-Reliabilität. Sie bezeichnet die Übereinstimmung bzw. Wiederholbarkeit von Messungen oder Bewertungen zwischen verschiedenen Beurteilern bzw. Beobachtern.
Für die neurodynamischen Tests an der oberen Extremität wurde eine „moderate“ bis „substanzielle“ Interrater-Reliabilität nachgewiesen [24], [56], [57]. Dementgegen wird die Interrater-Reliabilität des ‚Straight Leg Raise‘ und des ‚Laségue-Tests‘ äußerst unterschiedlich bewertet. In der Fachliteratur reicht die Bandbreite von „minimal“ bis „fast perfekt“ [59], [60]. Diese Divergenz ist möglicherweise auf die ungleiche Erfahrung der Tester und/oder die Testdurchführung zurückzuführen.
Interpretation
Zum anderen stellt sich die Frage, wie neurodynamische Test interpretiert werden sollen bzw. wann sie als positiv zu bewerten sind.
Symptomreproduktion Einige Autoren bewerten einen Test als positiv, wenn er die Symptome reproduziert und gleichzeitig das Bewegungsausmaß der Extremität im Vergleich zur asymptomatischen Seite eingeschränkt ist [3], [9], [61].
Strukturelle Differenzierung Als weitere Bedingung für ein positives Testergebnis gilt, dass sich die Symptomatik durch eine Abwandelung der Nervenprovokation – dies geschieht durch eine Veränderung proximaler und/oder distaler Gelenkpositionen der untersuchten Extremität – beeinflussen lässt. Mit Hilfe dieser ‚strukturellen Differenzierung‘ lassen sich Symptome neuralen Ursprungs von lokalen muskuloskelettalen Pathologien unterscheiden.
Merke
Positiver Neurodynamik-Test
Ein neurodynamischer Test gilt nach Robert Nee et al. als positiv,
-
wenn er die typischen Symptome zumindest teilweise reproduziert
-
und sich die Symptomatik durch die ‚Strukturelle Differenzierung‘ via Veränderung proximaler oder distaler Gelenkpositionen verändert [62].
Palpation der Nerven
Periphere Nervensensibilisierung
Die Palpation der Nerven ist ein Bestandteil der Untersuchung auf erhöhte mechanische Nervensensitivität [3], [10], [16], [21], [36], [52], [54], [55], [56]. Bei schmerzhafter zervikaler Radikulopathie oder bei Beinschmerzen lumbalen Ursprungs zeigten einige Studien eine mechanische Hyperalgesie der peripheren Nerven [10], [45], [63].
Diagnostischer Wert
Der diagnostische Wert der Nervenpalpation für die Evaluation von nervenbezogenen Schmerzen ist umstritten. Einerseits kann die Palpation eines Nervs auch andere Gewebe wie Faszien oder Muskeln in dessen unmittelbarer Umgebung stimulieren und dadurch eine Schmerzreaktion auslösen. Andererseits bedeutet eine erhöhte Schmerzreaktion bei einer Nervenpalpation oder einem neurodynamischen Test nicht zwangsläufig, dass ein peripherer Nerv sensibilisiert ist.
In diesem Sinne zeigten Patient*innen mit Beschleunigungstrauma eine verminderte Druckschmerzschwelle der peripheren Nerven sowie auch abnormale Reaktionen bei neurodynamischen Tests nicht nur im symptomatischen, sondern auch im asymptomatischen Arm [23], [64]. Bei Fibromyalgie wurden ebenfalls bilaterale Schmerzreaktionen in beiden Armen bei neurodynamischen Tests nachgewiesen [43].
Globale Hypersensitivität Dass die Empfindlichkeit neuraler Strukturen auf Druck und Bewegung bei Schleudertrauma- und Fibromyalgie-Patient*innen sowohl auf der symptomatischen als auch auf der asymptomatischen Seite erhöht ist, lässt bei diesen Patientengruppen eine globale Hypersensitivität vermuten. Folglich müssen neurodynamische Tests immer im Rahmen einer detaillierten neuromuskuloskelettalen Untersuchung und eines fundierten Clinical Reasoning interpretiert werden.
Klassifikationskriterien
Die patientenspezifische Reaktion auf einen einzigen neurodynamischen Test hat nur einen geringen diagnostischen Wert für die Identifikation von Nervenschmerzen. Bevor die damit assoziierte erhöhte neurale Mechanosensitivität als klinisches Zeichen klassifiziert werden kann, müssen die Testergebnisse im Kontext einer Reihe weiterer Untersuchungsverfahren interpretiert werden. Robert Elvey schlug hierzu drei Klassifikationskriterien vor [3]:
-
abnormale Reaktion auf einen neurodynamischen Test
-
korrelierende Dysfunktion der aktiven Bewegung:
-
Arme: Bewegungseinschränkung der Schulterabduktion und/oder Schmerzen bei Schulterabduktion, die bei zervikaler kontralateraler Flexion und/oder Extension des Handgelenks zunimmt/zunehmen
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Beine: Bewegungseinschränkung bei lumbaler Flexion, die bei Dorsalflexion zunimmt
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abnormale Reaktion bei klinisch relevanter Nervenpalpation:
Die Reliabilität des Klassifikationssystems von Elvey ist für lumbale Rücken-, Bein- sowie Nacken-Arm-Schmerzen belegt [2], [4], [9], [27], [65].
Cave
Grenzen des Klassifikationssystems von Elvey
Das Klassifikationssystem von Elvey hat allerdings auch Grenzen – so z. B. bei Schmerzpatient*innen ohne erkennbare Bewegungseinschränkung, ohne Schmerzreaktion bei der Nervenpalpation oder schlichtweg bei Patient*innen mit für die Palpation nicht zugänglichen Nerven. Angesichts dessen bleiben die teilweise Symptomreproduktion bei neurodynamischen Tests sowie die strukturelle Differenzierung durch den Positionswechsel proximaler oder distaler Gelenke weiterhin wichtige Indizien für eine erhöhte neurale Mechanosensitivität.
Gängige Irrtümer zur Neurodynamik
Gängige Irrtümer zur Neurodynamik
Bis heute kursieren einige gravierende Missverständnisse über das weite Feld der Neurodynamik. Diese betreffen das diagnostische Potenzial neurodynamischer Tests, ihre Aussagekraft über Nervenläsionen oder Neuropathien sowie schließlich die Annahme, dass ein positives Testergebnis mit der Verkürzung eines Nervs oder dessen reduzierter Gleitfähigkeit im umliegenden Gewebe gleichzusetzen ist.
Diagnostische Leistungsfähigkeit
Anfänglich waren die neurodynamischen Tests für die Diagnose von Entrapment-Neuropathien wie z. B. Radikulopathien, Karpaltunnelsyndrome etc. gedacht. Obgleich sie bis heute hierfür oftmals in der klinischen Praxis eingesetzt werden, zeigt die Forschung, dass isoliert eingesetzte neurodynamische Tests nur eine begrenzte diagnostische Leistungsfähigkeit haben [66].
Praxis
Diagnostisches Potenzial
Neurodynamische Tests eignen sich, um eine erhöhte neurale Mechanosensitivität festzustellen, nicht aber für die Diagnose von Entrapment-Neuropathien.
Neurodynamik vs. Nervenschädigung
Diverse Studien belegen, dass – anders wie so oft angenommen – neurodynamische Tests auch ohne offensichtliche Nervenschädigung positiv ausfallen können [2], [9], [67]. Im Gegenzug zeigten Larissa Baselgia und ihre Forschergruppe, dass selbst bei bestätigter Entrapment-Neuropathie signifikant viele neurodynamische Tests ohne Befund sind [68].
Dieses Phänomen erklärt sich dadurch, dass neurodynamische Tests die Funktionszunahme eines Nervs – ergo seine Hypersensitivität bei mechanischer Stimulation – bewerten [67], nicht aber dessen Funktionsverlust, dem oftmals dominanten Faktor bei Entrapment-Neuropathien [70].
Gleichzeitig belegen andere Arbeiten, dass Patient*innen mit größerem Verlust der Nervenfaserfunktion weniger wahrscheinlich Anzeichen einer erhöhten neuralen Mechanosensitivität zeigen [68], [71].
Praxis
Neurodynamik vs. Nervenschädigung
Ein neurodynamischer Test kann selbst bei vorliegender Nervenläsion negativ sein. Ein positives Testergebnis bedeutet nicht automatisch, dass ein Nerv geschädigt ist.
Neurodynamik vs. Neuropathische Schmerzen
Irrtum Nummer 3: Zeichen einer erhöhten neuralen Mechanosensitivität sind mit neuropathischen Schmerzen assoziiert.
Neuropathische Schmerzen werden heute verstanden als „Schmerzen, die durch eine Verletzung oder Erkrankung des somatosensorischen Systems verursacht werden“ [1]. Diese Definition von Troels Jensen et al. aus dem Jahr 2011 besagt eindeutig, dass bei einer Neuropathie eine Nervenschädigung vorliegen muss.
Entgegen dieser Definition zeigen diverse experimentelle und klinische Studien, dass selbst ohne Nervenschädigung, d. h. ohne neuropathische Schmerzen, Merkmale einer erhöhten neuralen Mechanosensitivität auftreten können [2], [5], [9], [11], [31], [43]. In diesem Fall werden die zugrunde liegenden Schmerzen als „nozizeptive Schmerzen“ klassifiziert, die möglicherweise durch die Aktivierung der Nervi nervorum im Bindegewebe eines peripheren Nervs ausgelöst werden [6].
Praxis
Neurodynamik vs. Neuropathische Schmerzen
Eine erhöhte neurale Mechanosensitivität bedeutet nicht zwangsläufig, dass neuropathische Schmerzen vorliegen müssen.
Neurodynamik vs. Verkürzung des Nervs
Ein weit verbreiteter Fehlglaube ist schließlich die Annahme, dass Schmerzsensationen sowie ein eingeschränkter Bewegungsumfang als Reaktion auf einen neurodynamischen Test immer und ausnahmslos darauf hinweisen, dass die untersuchte Nervenstruktur verkürzt oder in ihrer Mobilität eingeschränkt ist, weshalb dieser Nerv gedehnt oder seine Gleitfähigkeit im umliegenden Gewebe verbessert werden müsse.
Während beim Karpaltunnelsyndrom tatsächlich ein reduzierter neuraler Bewegungsumfang beobachtet wurde, konnte dies für Beinschmerzen lumbalen Ursprungs nicht bestätigt werden [72], [73].
Unseres Wissens liegen bis dato keine Forschungsergebnisse über Veränderungen der neuralen Gleitfähigkeit nach neurodynamischer Mobilisation bei Entrapment-Neuropathien vor. Zudem verändert die chirurgische Behandlung des Karpaltunnelsyndroms nicht die neurale Bewegungsfähigkeit des Medianusnervs, selbst wenn die Symptomatik abklingt [74].
Praxis
Neurodynamik vs. Nervenverkürzung
Reagieren Patient*innen auf einen neurodynamischen Test mit Schmerzen sowie einem eingeschränkten Bewegungsumfang, bedeutet dies nicht automatisch, dass die untersuchte Nervenstruktur verkürzt oder in ihrer Bewegungsfähigkeit eingeschränkt ist.
Behandlungsoptionen bei nervenbezogenen Schmerzen
Behandlungsoptionen bei nervenbezogenen Schmerzen
Die Heterogenität nervenbezogener Schmerzstörungen sowie die Wahrscheinlichkeit einer Koexistenz von nozizeptiven und neuropathischen Schmerzen unterstreicht die Wichtigkeit einer zielgerichteten Therapie. Für eine erfolgreiche Behandlung kommen verschiedene Ansätze infrage. Das Spektrum reicht von der Physiotherapie inkl. Manueller Therapie über pharmakologische Maßnahmen zur Behandlung von neuropathischen Schmerzen bis hin zu chirurgischen Interventionen bei Entrapment-Neuropathien [2], [8], [46], [75], [76], [77], [78], [79], [80], [81], [82].
Evidenz Bis dato liegen noch zu wenige Untersuchungen hinsichtlich der Evidenz für die Effektivität sowie die biomechanischen und neurophysiologischen Wirkungen dieser Behandlungsoptionen vor [83]. De facto ist es äußerst schwierig, Patient*innen mit nervenbezogenen Schmerzen in Untergruppen einzuteilen. Die daraus resultierende Heterogenität der Probanden wirkt sich jedoch negativ auf die Aussagekraft klinischer Untersuchungen aus.