Seit mehr als 2 Jahren verschlägt eine globale SARS-CoV-2-Pandemie den Menschen den
Atem – mit bislang weltweit mehr als einer Drittelmilliarde Infektionen, mehr als
5,6 Millionen an und mit COVID-19 Verstorbenen, und derzeit täglich auf neue Rekordhöhen
ansteigenden Infektionszahlen (Stand: 26.1.22). Glücklicherweise gibt es seit mehr
als einem Jahr[
1
] eine neue Klasse sehr wirksamer Impfstoffe und in einem beispiellosen Tempo erfolgten
zwischenzeitlich etwa 10 Milliarden Impfungen weltweit.[
2
] An den Grundlagen zu diesen Impfstoffen wurde mehr als 20 Jahre lang geforscht.
Wie es sich darstellt, ist ihr Wirkungsmechanismus sicherer als die früheren Generationen
von Impfstoffen, ihre Wirkung effizienter und die Nebenwirkungen geringer. Langzeitfolgen
der Impfung sind aufgrund des neuen Wirkprinzips, dass man zunächst für Krebstherapien
erforscht hat, nicht zu erwarten, denn die Wirkung erfolgt über einen Botenstoff –
messenger-RNA, der überhaupt nur deswegen Botenstoff ist, weil er schnell abgebaut wird (und
eben gerade nicht lange im Körper verbleibt). Die Langzeitfolgen der Krankheit COVID-19 dagegen, die
auch bei jungen Menschen und nach zunächst leicht verlaufender Infektion auftreten
können, sind mitunter schwerwiegend. Man spricht mittlerweile von „Long-Covid“, was
über Monate andauernde Abgeschlagenheit, verminderte Aufmerksamkeit, reduzierte Fähigkeit
zum Denken und vor allem allgemeine Leistungsminderung (Arbeitsunfähigkeit) und Leid
bedeutet.
Angesichts dieser Situation erscheint zunächst völlig unverständlich, warum in Deutschland
und Europa noch immer viele Menschen behaupten, die Infektion mit dem Corona-Virus
sei ungefährlich oder sogar, es gäbe sie gar nicht, und als Konsequenz die Impfung
verweigern. Sie gehen auf die Straße, um zu demonstrieren, Randalierer mischen sich
oft darunter, und im Fernsehen sind Szenen zu sehen, die aussehen wie Bürgerkrieg.
Würde es sich hier um einige wenige handeln, gäbe es keinen Anlass für eine weitere
Diskussion. Es sind aber seit Monaten in den verschiedensten Städten Tausende Menschen.
Am 22.1.22 demonstrierten beispielsweise in Brüssel 70 000 gegen die Maßnahmen der
Regierungen Europas zur Eindämmung der seit Wochen in nicht dagewesenem Ausmaß ansteigenden
Infektionen mit SARS-CoV-2. Der soziale Frieden und vor allem der soziale Zusammenhalt
in Gesellschaften im Herzen Europas scheint gefährdet. Dabei ist sich die Wissenschaft
darüber einig, dass es erstens SARS-CoV-2 tatsächlich gibt und dass zweitens Impfen
ganz allgemein zu den Erfolgsgeschichten der Medizin gehört: Schwere Krankheiten wie Kinderlähmung und
Pocken sind verschwunden und viele andere Krankheiten haben ihren Schrecken verloren.
Warum also kommt es dann zu diesen Ausschreitungen, die von Hass gegen die Obrigkeit
(„das System“) und Misstrauen gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen einerseits
und Ärzten andererseits getragen werden, obwohl Wissenschaft und Medizin ansonsten
die höchsten Vertrauenswerte haben. Wer ein Auto oder Flugzeug besteigt, über eine
Brücke läuft oder sich operieren lässt, tut dies nur aufgrund dieses Grundvertrauens.
Ganz offensichtlich läuft etwas aus dem Ruder! Warum? Warum nicht schon bei früheren
Krisen und anderen Impfungen? Warum jetzt und warum gerade hier in Europa? Wer sind
diese Leute?
Wer ist Corona-Leugner oder Impfgegner?
Wer ist Corona-Leugner oder Impfgegner?
Es muss an dieser Stelle betont werden, dass es unter den Menschen, die z. B. an „Corona-Demonstrationen“
teilnehmen, Unterschiede in der „Breite“ und Stärke der Corona-Skepsis gibt. Viele
Menschen möchten sich einfach nur wieder ungehinderter miteinander treffen und austauschen
– ein sehr gesundes und nachvollziehbares Bedürfnis. Andere sind nicht generell gegen
die Impfung, sondern nur gegen den Impfzwang, was aus meiner Sicht durchaus begründbar
ist. Wieder andere sind mit einzelnen Aspekten der Maßnahmen gegen die Verbreitung
des Erregers SARS-CoV-2 nicht einverstanden oder weisen auf Inkonsistenzen hin. Einzelne
Menschen (und das ist sicher eine kleine Minderheit) bereiten sich jedoch auf den
Weltuntergang vor, besorgen Waffen, horten Nahrungsmittel und glauben tatsächlich
daran, dass die Vernichtung der Menschheit unmittelbar bevorstehe.
Trotz der mit Sicherheit vorliegenden großen Heterogenität der Sichtweisen und Meinungen
im Hinblick auf die Besonderheiten und das Ausmaß von Skepsis gegenüber der Corona-Pandemie,
den ergriffenen Maßnahmen und der Impfung liegen zu diesem weltweit Dutzende von Studien
vor, von denen einige in [
Tab. 1
] zusammenfassend für eine bessere Übersicht zu deren Ergebnissen dargestellt wurden.
Menschen, die entweder die Gefahren durch SARS-CoV-2 leugnen oder sogar dessen Existenz,
fühlen sich weniger informiert, haben weniger Vertrauen in die staatlichen Maßnahmen
zur Eindämmung des Virus, und verhalten sich in geringerem Maße nach den Sicherheitsvorschriften
der Behörden, wie eine Befragung von 3487 Personen im Alter von 35 bis 45 Jahren im
November 2020 während des zweiten Lockdowns ergab [36]. Interessanterweise waren Ängste vor dem Corona-Virus bei Leugnern und Nichtleugnern gleich stark ausgeprägt, generalisierte Ängste (p
= 0,004) und Depressionen (p < 0,0001) waren bei Leugnern dagegen signifikant erhöht.
Die Autoren vermuten, dass dies durch den erlebten Kontrollverlust in Corona-Zeiten
sowie durch einen geringeren Wissensstand bedingt sein könnte.
Tab. 1
Studien zu Corona-Skeptikern und Impf-Skeptikern im Vergleich zu Kontrollprobanden.
|
Autor/Jahr
|
Land, wann (n)
|
Wer (n)
|
Wesentliche Ergebnisse
|
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Teufel et al. 2021
|
Deutschland November 2020
|
Corona-Skeptiker (434), Kontrollen (3053)
|
Angst vor Corona bei Corona-Skeptikern und Kontrollen gleich; generalisierte Ängste
und Depressionen hingegen bei Corona-Skeptikern größer als bei Kontrollen
|
|
Janssens et al. 2021
|
Deutschland, Dezember 2020 (2305); Februar 2021 (3501)
|
Mitarbeitende im Gesundheitswesen
|
Zustimmung zur Impfung von 85,2 % auf 92,1 % angestiegen (p < 0,001); Impfbereitschaft
von 63,8 % auf 75,9 % angestiegen (p < 0,001); geringer bei Frauen, Pflegekräften
und Alter unter 45 Jahren
|
|
Kose et al. 2020
|
Türkei, September 2020
|
Mitarbeitende im Gesundheitswesen (1138)
|
Zustimmung zur Impfung höher bei Männern, Studenten, jüngeren Menschen und Menschen,
die sich bereits gegen Influenza impfen ließen
|
|
Kwog et al. 2021
|
Hongkong
|
Pflegepersonal (1205)
|
Impfbereitschaft 63 %; bei jüngerem Alter, mehr Vertrauen, weniger Selbstzufriedenheit
und mehr kollektive Verantwortung vergleichsweise höher
|
|
Dror et al. 2020
|
Israel
|
Pflegepersonal und Allgemeinbevölkerung (1661)
|
Impfbereitschaft bei Ärzten 78 %, Pflegekräften 61 %, Allgemeinbevölkerung 75 %
|
|
Sirikalyanpaiboon et al. 2021
|
Thailand 31.3.–30.4.2021
|
Ärzte (705)
|
Impfbereitschaft 95,6 %
|
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Gagneux-Brunon et al. 2021
|
Frankreich 26.3.–2.7.2020
|
Mitarbeitende im Gesundheitswesen (2047)
|
Impfbereitschaft: 77 %. Höher bei Männern, höherem Alter, Angst vor COVID-19, wahrgenommenem
letztjähriger Grippeimpfung. Krankenschwestern weniger impfbereit als Ärzte
|
|
Gadoth et al. 2021
|
Los Angeles, USA
|
Mitarbeitende im Gesundheitswesen (1069)
|
Ärzte haben eine signifikant höhere Impfbereitschaft als das Pflegepersonal. Personal
im Alter von über 50 Jahren ist eher impfbereit als jüngeres Personal
|
|
Bauernfeind et al. 2021
|
Deutschland
|
Mitarbeitende im Gesundheitswesen (2454)
|
Impfbereitschaft 59,6 %; geringer bei Frauen, Jüngeren Mitarbeitern ohne Kontakt mit
COVID-19-Patienten und Pflegekräften (53,3 %) im Vergleich zu Ärzten (82,7 %)
|
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Turbat et al. 2022
|
Mongolei; Februar bis April 2021
|
Mitarbeitende im Gesundheitswesen (238)
|
93,7 % für Impfplicht, mehr als in der Allgemeinbevölkerung (77,8 %); Impfbereitschaft
67,2 %, geringer bei jüngeren Mitarbeitern
|
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Ulbrichtova et al. 2021
|
Slovakai;
30.8.–30.9.2021
|
Mitarbeitende im Gesundheitswesen (1277)
|
84,3 % geimpft, 15,3 % ungeimpft. Impfbereitschaft höher bei Ärzten, bei gegen Influenza
bereits Geimpften; geringer bei Pflegekräften und Personen, die bereits COVID-19 hatten
|
|
Kumar et al. 2021
|
Qatar; 5.10.–15.11.2020
|
Allgemeinbevölkerung (6275) und Mitarbeitende im Gesundheitswesen (1546)
|
Impfskepsis bei 12,9 %, in beiden Gruppen ähnlich; bei Frauen höher; mehr Wissen bewirkt
höhere Impfbereitschaft
|
|
Martin et al. 2021
|
Großbritannien
|
Mitarbeitende im Gesundheitswesen (19044)
|
Impfquote bei weißen Mitarbeitern (70,9 %) signifikant höher als bei anderen ethnischen
Gruppen (Südasiaten: 58,9 %, Schwarze: 36,8 %); Impfquote zudem geringer bei Jüngeren,
Frauen, Schwangerschaft und bei geringerem Einkommen („more deprivation“)
|
|
Zürcher et al. 2021
|
Schweiz
|
Mitarbeitende im Gesundheitswesen (3793)
|
Impfbereitschaft 39,8 %; unsicher 29,4 %, Ablehnung 30,8 %. Ärzte: 76,1 %; Pflegepersonal
27,8 %; höher bei Älteren und bereits gegen Influenza Geimpften
|
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Dzieciolowska et al. 2021
|
Kanada; Dezember 2020
|
Mitarbeitende im Gesundheitswesen (2761)
|
Impfbereitschaft 80,9 %; geringer bei Frauen, Pflegepersonal und Alter unter 50 Jahren
|
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Elsayed et al. 2022
|
Ägypten; März bis April 2021
|
Junge gut ausgebildete Erwachsene (968)
|
Impfbereitschaft 32,85 %; geringer bei Frauen und Arbeitslosen, höher bei ländlicher
Bevölkerung
|
Eine Gruppe von Wissenschaftlern aus Eschweiler, Hamburg, Aachen, Köln, Bonn und Regensburg
untersuchte die Einstellung zur Impfung gegen SARS-CoV-2 von deutschen Krankenhausmitarbeitern
vor (n = 2305) und nach (n = 3501) Beginn der Impfungen mittels zweier Umfragen im
Dezember 2020 und Februar 2021 [15]. Die Einschätzung der Bedeutung der Impfung für eine wirkungsvolle Eindämmung der Corona-Pandemie stieg von Dezember bis Februar
von 85,2 % auf 92,1 % an. Im Vergleich zu Männern schätzten Frauen die Bedeutung der
Impfung geringer ein, nicht jedoch Ärztinnen, die im Vergleich zu anderen weiblichen
Berufsgruppen die Impfung deutlich positiver bewerteten. Auch die Befragten mit einem
Lebensalter von unter 55 Jahren waren eher skeptisch. Was die Impfbereitschaft anbelangt, so zeigte sich ebenfalls eine Zunahme von Dezember 2020 bis Februar 2021.
Dabei war die Impfbereitschaft bei Frauen, Pflegekräften und Befragten unter 45 Jahren
signifikant geringer.
Eine Befragung mittels Fragebogen über Google Forms und soziale Medien von 1138 türkischen Mitarbeitern im Gesundheitswesen im September
2020 ergab eine Impfbereitschaft gegen SARS-CoV-2 von 69 % [18]. Männer, Studenten, jüngere Mitarbeiter und diejenigen, die bereits eine Grippe-Impfung
erhalten hatten, waren vergleichsweise eher bereit, sich gegen COVID-19 impfen zu
lassen.
Eine Umfrage aus Hongkong zur Impfbereitschaft des Pflegepersonals gegen COVID-19
an 1205 Mitarbeitern im Krankenpflegedienst (90 % weiblich; Durchschnittsalter 41
± 10 Jahre) im April 2020 (also während der ersten Welle) ergab eine Impfbereitschaft
von 63 % [20]. Eine höhere Impfbereitschaft zeigte sich bei jüngerem Alter, mehr Vertrauen, weniger
Selbstzufriedenheit und mehr kollektiver Verantwortung. COVID-19-bezogene Anforderungen
wurden mit größerem Arbeitsstress und daher mit einer stärkeren COVID-19-Impfabsicht
in Verbindung gebracht.
In Israel wurde im März 2020 eine Online-Umfrage unter 1661 Personen (338 Ärzte, 211
Pflegekräfte sowie 1112 Personen aus der Allgemeinbevölkerung) zur Akzeptanz zukünftiger
Impfungen gegen SARS-CoV-2 durchgeführt [9]. Eine Impfbereitschaft bestand bei 78 % der Ärzte, 61 % der Pflegekräfte und 75
% der Allgemeinbevölkerung. Weiterhin wurde gefunden, dass das mit der Betreuung von
COVID-19-positiven Patienten befasste Gesundheitspersonal, und Personen, die sich
selbst als krankheitsgefährdet einschätzen, mit größerer Wahrscheinlichkeit eine COVID-19-Impfung
befürworten. Im Gegensatz dazu wiesen Eltern, Krankenschwestern und nicht mit der
Betreuung von SARS-CoV-2-positiven Patienten betrautes medizinisches Personal, eine
geringere Impfbereitschaft auf.
Zwischen dem 26. März und dem 2. Juli 2020 (also ebenfalls während der ersten Welle)
wurden in Frankreich 2047 Mitarbeitende im Gesundheitswesen zu ihrer Impfbereitschaft
im Hinblick auf eine künftige Impfung befragt. Insgesamt entschieden sich 77 % für
eine Impfung [14]. Höheres Alter, männliches Geschlecht, Angst vor COVID-19, das wahrgenommene individuelle
Risiko und die Grippeimpfung in der vorangegangenen Saison prädizierten eine höhere
COVID-19-Impfbereitschaft. Krankenschwestern waren weniger impfbereit als Ärzte. Kalifornische
Mitarbeitende im Gesundheitswesen (n = 609) gaben in 67 % der Fälle an, aufgrund von
Bedenken eine Impfung gegen SARS-CoV-2, sollte sie denn irgendwann verfügbar sein,
eher zeitlich nach hinten zu verschieben [13]. In 26 chinesischen Provinzen nahmen im März 2020 352 Mitarbeitende im Gesundheitswesen
an einer Befragung teil. 76 % der Befragten sprachen sich für eine Impfung gegen SARS-CoV-2
aus (Allgemeinbevölkerung, n = 189, im Vergleich 73 %) [12].
Unter Berücksichtigung dieser Daten sowie weiterer Reviews [46], [49], [51] lässt sich Folgendes festhalten: In den meisten Befragungen von Mitarbeitenden im
Gesundheitswesen (mitunter auch zusätzlich der Allgemeinbevölkerung) zeigte sich ein
Unterschied im Antwortverhalten in Abhängigkeit vom Geschlecht, der Berufsgruppe und
ein Zusammenhang mit dem Lebensalter. Befragte weiblichen Geschlechts, aus der Gruppe
der Pflegekräfte und jüngeren Alters zeigten meist eine höhere Impfskepsis und hatten
mehr Bedenken in Bezug auf Wirksamkeit der Impfungen, Nebenwirkungen und Langzeitschäden.
Befragungen von Mitarbeitenden im Gesundheitswesen in den verschiedensten Ländern
zeigen ähnliche Ergebnisse: Auch in Israel waren Frauen und Pflegekräfte vergleichsweise
eher skeptisch gegenüber der Impfung. Ähnlich fielen Befragungen französischer und
amerikanischer Mitarbeiter im Gesundheitswesen aus. Während mehrere Studien zeigten,
dass eine erhöhte Bereitschaft für die Grippe-Impfung auch eine höhere Bereitschaft
für die Corona-Impfung vorhersagt, fand sich der umgekehrte Zusammenhang in einer
Studie, die darüber berichtete, nicht [14].
Ängste und Depressionen, Filterblasen und Echokammern
Ängste und Depressionen, Filterblasen und Echokammern
Ängste und Depressionen nahmen in der Corona-Pandemie weltweit um etwa 25 % zu und
verursachten zusammen etwa 20 Millionen disability ajusted life years (DALYs), wie man im Fachblatt Lancet kürzlich nachlesen konnte [24], [32]. Das hat die Situation nicht besser gemacht, sondern sorgte für ein Klima der Unzufriedenheit,
des Pessimismus, der Angespanntheit und Unruhe sowie der Resignation und zuweilen
Verzweiflung. Hierauf prasselte dann noch etwas auf die Menschheit ein, das es erst
seit wenigen Jahren weltweit gibt, und mit einer derartig geballten Macht, dass es
die meisten Menschen nicht geschafft haben, auch nur ansatzweise darüber kritisch
zu reflektieren: Die sozialen Medien wie Telegram, Facebook, Instagram, Twitter, WhatsApp,
YouTube, Xing, LinkedIn, Snapchat oder Tik Tok sind Plattformen, auf denen jeder jegliche
Inhalte verbreiten kann, mit täglich Milliarden von Nutzern. Ihre Wirkungen wurden
und werden häufig mit Begriffen wie „Filterblase“ oder „Echokammer“ beschrieben. Hiermit
ist die durch sie verursachte Störung der zwischenmenschlichen Kommunikation gemeint.
Diese Störung lässt sich wie folgt kurz beschreiben: Normalerweise (d. h. seit Beginn
der Menschwerdung bis vor wenigen Jahren) treffen wir in der wirklichen Welt auf diesen
oder jenen bekannten oder unbekannten anderen Menschen, und hören im Gespräch immer
Gutes und Schlechtes und immer auch Lob und Kritik.
Seit wenigen Jahren sieht unser Erleben anders aus: Wir hören vor allem das, was wir
hören wollen, weil das Ziel der sozialen Medien, über die wir kommunizieren, nicht
darin besteht, uns zu informieren, sondern darin, dass wir sie noch öfter nutzen,
denn nur dies generiert ihre Einnahmen. In ihnen wird die Unwahrheit nachweislich
deutlich schneller verbreitet als die Wahrheit, wie im Fachblatt Science publiziert
wurde [41] und weiterhin ist die Radikalisierung der Nutzer Bestandteil ihres Geschäftsmodells,
wie in der New York Times nachzulesen war [38]. Da sehr viele Menschen einen großen Teil ihrer zwischenmenschlichen Kommunikation
über social media abwickeln, kam was kommen musste: Eine deutliche Zunahme der psychischen Folgen von
Kommunikationsstörungen. Mehr Verunsicherung im Hinblick auf Wahrheit und Falschheit,
mehr Mobbing und mehr Einsamkeit, die mittlerweile als Mortalitätsfaktor Nummer 1
(d.h. vor Übergewicht, Rauchen, Hypertonie und anderen bekannten Einflüssen auf die
Sterblichkeit) angesehen wird [q, [48]. Die ursächliche Beteiligung von social media an der Skepsis gegenüber Impfungen
wurde bereits vor der Corona-Pandemie nachgewiesen [52]. Eine Analyse von Mitteilungen auf der Kurznachrichtenplattform Twitter aus 137
Ländern der Welt in den Jahren 2018 und 2019 zeigte einen Zusammenhang von impfbezogener
Missinformation und Impfverweigerung. Zunächst wurden 2,5 Milliarden geokodierte Twitter-Nachrichten
identifiziert, um das Ausmaß der Twitter-Nutzung bezogen auf die einzelnen Länder
zu ermitteln. Dann wurde eine Teilmenge von 258769 dieser Nachrichten dadurch identifiziert,
dass man nach impfbezogenen Wörtern (‚vaccine‘, ‚vaccination‘, ‚vaxx‘) in den 20 auf
Twitter am meisten verwendeten Sprachen (entspricht 95% aller Tweets) allen grammatischen
Varianten suchte. Eine Bewertung (sentiment) der Nachrichten wurde vorgenommen und
diese Daten mit denen aus einer anderen Studie zur Nutzung von social media zur Organisation
von (politischen) Off-line-Aktionen. Aufgrund der Länderkodierung konnten jeweils
ausländische von inländischen Nachrichten unterschieden werden. Schließlich wurde
noch die Impfbereitschaft im Hinblick auf verschiedene Impfungen (Diphtherie-Tetanus-Keuchhusten,
Masern, Röteln, Polio, Hepatitis B; Daten der Weltgesundheitsorganisation, WHO) zu
diesen Daten in Beziehung gesetzt.
Neben dieser Aufforderung zu mehr klarer und standfester Kommunikation zwischen medizinischem
Personal und Skeptikern sei hier zudem auf die prinzipielle Bedeutung von Kommunikation
für unsere Gesundheit hingewiesen. Um diese zu erfassen, muss man sich vergegenwärtigen,
dass Menschen täglich stundenlang miteinander reden, dabei etwa 16000 Wörter sprechen
(Frauen etwa 700 mehr) [22] und dabei vor allem Klatsch und Tratsch austauschen (also sich miteinander über
andere unterhalten) wie Forschungen zur Sprachentwicklung beim Menschen nahelegen
[10]. Wir sprechen uns mithin ständig mit anderen ab, wodurch unsere Gedanken, Gefühle,
Wünsche und Bedürfnisse mit denen der anderen austariert werden. Geschieht dies nicht
mehr im direkten Miteinander, laufen unsere Gedanken frei, unkontrolliert und damit
unkorrigiert umher. Je länger diese Situation besteht, desto schwerer fällt irgendwann
die Korrektur. Und von hier erscheint der Schritt zu der für den Wahn charakteristischen
subjektiven Überzeugtheit und Unkorrigierbarkeit nicht mehr besonders groß.
Ob man hier [
3
] von noch als nicht krankhaft geltenden „überwertigen Ideen“ spricht, also von emotional
aufgeladenen Gedanken wie beispielsweise im Zustand der der Wut auf einen Feind oder
der Eifersucht gegenüber einem Partner, oder von Wahnideen die gerade aufgrund ihrer Unwahrheit besser verbreitet, durch Ängste noch stärker befeuert, durch die Auswirkungen von Filterblasen und Echokammern jedoch nicht mehr hinreichend korrigiert, sondern – im Gegenteil – nur noch bestätigt werden, ist letztlich eine Frage der Bewertung im Einzelfall: Als „pathologisch“
wird ein Sachverhalt im Bereich der Psychiatrie u. a. immer dann bewertet, wenn entweder
der Betreffende oder seine Mitmenschen (oder beide) darunter leiden.
Verschwörungstheorien[
4
]
Verschwörungstheorien[
4
]
Verschwörungstheorien sind definiert als Versuche, wichtige politische oder gesellschaftliche
Ereignisse als durch geheime Pläne mächtiger Menschen oder Organisationen verursacht
zu betrachten. Sie sind seit Jahrzehnten Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen,
auch wenn diese eher selten im Fachgebiet der Psychiatrie angesiedelt sind. Dies mag
gerade manchen Kollegen zunächst verwundern, denn beim Glauben an das Werk höherer
böswilliger Mächte als Ursache von Sachverhalten, die zufällig geschehen, handelt
es sich aus psychiatrisch-psychopathologischer Sicht um Phänomene, die als Wahn klassifiziert werden können, wenn die Person, objektiv betrachtet, dadurch Schaden
nimmt, auch wenn sie das selbst nicht so sieht: Die Beziehung geht kaputt, der Arbeitsplatz
verloren, die Wohnung wird gekündigt etc.
In den USA glaubt gut die Hälfte der Bevölkerung an mindestens eine Verschwörungstheorie
([
Tab. 2
]). Werden 2 geglaubt, so kann es durchaus vorkommen, dass sich diese widersprechen:
Die gleichen Menschen glauben, dass Prinzessin Diana und ihr Partner vom Britischen
Geheimdienst umgebracht wurden und in Wahrheit noch leben [53]. Der Glaube an Verschwörungstheorien kann handfeste Konsequenzen auf das Verhalten
einer Person haben. Man braucht dabei gar nicht an fanatische Terroristen und deren
Taten denken. Im Bereich der Medizin können Verschwörungstheorien beispielsweise gesundheitsrelevantes
Verhalten beeinflussen und dadurch den Menschen schaden. In den USA glauben 49 % der
Amerikaner an mindestens eine medizinische Verschwörungstheorie[
5
], 18 % glauben an 3 oder mehr. Zum Gesundheitsverhalten zeigten sich folgende Zusammenhänge: Je mehr jemand Anhänger medizinischer Verschwörungstheorien
ist, desto weniger gebraucht er Sonnenschutzmittel und geht zur Vorsorgeuntersuchung,
zum Zahnarzt oder zur Grippe-Schutzimpfung. Diese Effekte sind robust und bleiben
bestehen, selbst wenn man den sozioökonomischen Status oder eine allgemeine soziale
Entfremdung der Person aus den Daten „herausrechnet“, d. h. durch multiple Regression
kontrolliert. Angesichts der gefundenen Häufigkeiten von Anhängern von Verschwörungstheorien
handelt es sich bei diesen nicht um eine „kleine Randgruppe Verrückter“, sondern vielmehr um ganz normale Leute, deren
Ansichten man ernst nehmen muss, weil sie mit Verhaltensweisen einhergehen, die ungesund
sein können, z.B. kein Maskentragen, kein Abstandhalten und keine Impfung.
Tab. 2
Prozentualer Anteil der US-Amerikaner, die an verschiedene Verschwörungstheorien glauben.
|
Verschwörung
|
Prozentualer Anteil der Bevölkerung, der daran glaubt
|
|
Mondlandung ist Lüge der NASA
|
6–20 (USA) bzw. 28 (Russland)
|
|
Anschläge vom 11.9.2001 wurden vom Geheimdienst geplant bzw. er hat davon gewusst
und sie nicht verhindert
|
49 bzw. 19
|
|
Eine Elite wie die Freimaurer/Illuminaten bestimmt die Weltgeschichte
|
28
|
|
Pharmaindustrie unterdrückt wirksame Therapien
|
37
|
|
Impfrisiken werden verschwiegen
|
20
|
|
HIV wurde vom CIA entwickelt
|
12
|
|
Präsident Obama ist in Wahrheit der Teufel
|
21
|
|
Stromsparlampen wurden eingeführt, um die Menschen duldsamer und kontrollierbar zu
machen
|
10
|
Der Zusammenhang zwischen dem Glauben an Verschwörungstheorien und dem Verweigern
von Impfungen für sein Kind war in einer britischen (an 89 Eltern) und einer US-amerikanischen
Studie (an 246 Eltern) mit r = –0,40 hoch signifikant (p < 0,001). Die Bereitschaft,
sein Kind impfen zu lassen, war signifikant geringer bei Personen, die Informationen
erhalten hatten, die Anti-Impfungs-Verschwörungstheorien unterstützten, und Gefühle
von Desillusionierung, Kontrollverlust und Machtlosigkeit sowie Misstrauen gegenüber
Autoritäten empfanden. Umgekehrt verstärkt das Gefühl des Kontrollverlusts die Neigung
zu Verschwörungstheorien [43]. Gegen Impfverweigerung allein mit der Autorität der Wissenschaft zu argumentieren,
erscheint angesichts der Daten wenig erfolgreich, denn Verschwörungstheorien untergraben
diese Autorität. Das direkte Widerlegen von Argumenten hingegen war erfolgreich, änderte
es doch dadurch die Einstellung. Allerdings führt die Änderung der Einstellung nicht notwendig zu einer höheren Impfbereitschaft: Falschinformationen sind gegenüber Korrekturen
recht resistent. Sitzen Verschwörungstheorien also erst einmal tief in den Köpfen
der Leute, sind sie schwer dort wieder zu entfernen und bleiben mindestens latent
verhaltensrelevant. Dies zeigte sich leider sehr deutlich im Fall der Publikation
im Fachblatt Lancet zu den vermeintlichen Zusammenhängen der Masernimpfung mit Autismus
im Jahr 1998 durch den Kinderarzt Andrew Wakefield. Obgleich sich die Forschungsergebnisse
als gefälscht erwiesen, die Publikation zurückgezogen wurde und der betreffende Autor
aufgrund seines untragbaren Gebarens sogar die Approbation als Arzt verlor, sperren
sich bis heute Eltern gegen die Masernimpfung, weil sie Autismus bei ihrem Kind befürchten.
In Großbritannien kam es zu deutlich geringeren Impfraten und danach zu einem drastischen
Ansteigen von Masern-Fällen, was bei einer Komplikationsrate mit Todesfolge von etwa
1:1000 definitiv nicht als Kleinigkeit zu werten ist: Masern-Partys, die von Eltern
veranstaltet werden, um ihren Kindern durch bewusstes Infizieren mit Masern anschließende
Immunität zu verleihen, sind in Wahrheit versuchte Körperverletzung. Auch hierzulande
sind die Impfraten für Masern in vielen Regionen unzureichend [44] und in Berlin bis Kalifornien sterben Kinder unnötig an Masern, also letztlich an
der Unwissenheit bzw. Starrköpfigkeit ihrer Eltern.
Zu den Ursachen bzw. beitragenden Faktoren von Verschwörungstheorien gehört das Gefühl,
den Dingen ohnmächtig ausgeliefert zu sein bzw. keine Kontrolle über die Geschicke
zu haben. Die eindrucksvollste Bestätigung dieses Zusammenhangs lieferten 2 Politikwissenschaftler,
die 104823 von der New York Times in den 121 Jahren von 1890 bis 2010 publizierten
Leserbriefen inhaltlich auswerteten, d. h. durchschnittlich 866 Briefen pro Jahr (Median:
845; Bereich: 347–2477) [40]. In 875 Briefen war von Verschwörungstheorien die Rede und sie wurden genauestens
im Hinblick darauf untersucht, wer, wem, was, aus welchen Gründen, und mit welchem
Ziel unterstellte. Betrachtet man Verschwörungstheorien nicht als einen völlig abwegigen,
individuellen, krankhaften Sachverhalt, sondern als „Ausdruck eines bei allen Menschen
vorhandenen Alarmsystems gegenüber Bedrohungen“ [40], welches zuweilen leider auch überborden kann, dann sollte sich dies in den Daten
klar zeigen. Und so war es auch: In Zeiten internationaler Kriege und Krisen stieg
der Anteil ausländischer Bösewichte in den Verschwörungstheorien von 28 % auf 45 %.
Noch interessanter war es, ab 1897 die innenpolitischen Verhältnisse zu betrachten,
denn ab diesem Zeitpunkt hatte sich in den USA das bekannte 2-Parteien-System etabliert,
bei dem die Mehrheiten wechselten und es daher in einem gegebenen Jahr immer Machthaber
und Machtlose gab, also Gewinner und Verlierer. Sind Verschwörungstheorien Ausdruck
von Ohnmacht, dann sollten sich Verschwörungstheorien vor allem auf die jeweils an
der Macht befindliche Partei beziehen. Kurz: „Who controls the White House invites
conspiracy theories“ [40]. Und wieder war es genauso: In den Jahren republikanischer Präsidentschaft herrschen
Verschwörungstheorien gegenüber bösen Menschen oder Mächten aus dem rechten bzw. kapitalistischen
Lager vor, wohingegen sich die Verschwörungstheorien in den Zeiten demokratischer
Präsidentschaft mehrheitlich auf Linke und Kommunisten beziehen ([
Abb. 1
]). Dieser Effekt wiederum ist geringer in Zeiten von „divided government“, d. h.
wenn die Parteien des Präsidenten und der Kongressmehrheit nicht identisch sind: Geringere
Machtkonzentration provoziert weniger Verschwörungstheorien. Interessant ist ferner
die Auswertung der Anhänger der Verschwörungstheorien nach Berufsgruppen. Menschen,
die am Bau, in der Fabrik, im Transport oder im Gesundheitswesen arbeiten, neigen
deutlich mehr zu Verschwörungstheorien als Menschen aus den Bereichen Unterhaltung,
Finanzwesen oder Militär ([
Abb. 2
]). Das wirft kein gutes Licht auf das Ausmaß von erlebter Freiheit und Selbstbestimmung
bei im Gesundheitswesen arbeitenden Menschen. Das könnte die Politik ändern. Mehr Eigenverantwortung und weniger Gängelung würde Ärzten
und Pflegepersonal die Arbeit erleichtern! Halten wir fest: Verschwörungstheorien
sind die gedanklichen Produkte erlebter Bedrohung und Ohnmacht.
Abb. 1 Prozentsatz rechter/kapitalistischer bzw. linker/kommunistischer Verschwörungstheorien
in Abhängigkeit von der Partei des Präsidenten (nach Daten aus [40])
Abb. 2 Neigung zu Verschwörungstheorien in Abhängigkeit vom Berufsfeld (nach Daten aus [40]). Nach diesen Daten erscheint das subjektiv erlebte Ausmaß an Kontrolle im Bereich
der Medizin erschreckend gering.
Falsch oder krank?
Bei den meisten Menschen, die an Corona oder der Impfung Zweifel haben, liegt aus
meiner Sicht – und ich habe mit vielen Menschen darüber gesprochen – keine psychische
Störung vor. Vielmehr sind sie aus den unterschiedlichsten Gründen ungenügend informiert,
haben vielleicht einmal schlechte Erfahrungen mit einem Arzt gemacht, vermuten bei
sich eine Prädisposition zu Nebenwirkungen oder sind sich nicht im Klaren über den
Unterschied zwischen Wissenschaft und Stammtischmeinungen. Das halte ich für eine
ebenso bemerkens- wie bedauernswerte Krise der Wissenschaft, die zumindest teilweise auch auf das Konto der Medien geht: Es muss immer eine Kontroverse
her, auch wenn es tatsächlich gar keine gibt.[
6
] Wenn also beispielsweise das Fernsehen wissenschaftliche Kontroversen in Talkshows
wie Schaukämpfe inszeniert und/oder Boulevardblätter dies dann ihrerseits verzerrt
und mit viel Klamauk berichten, ist niemandem gedient, aber dem Ansehen der Wissenschaft
geschadet. Dies erklärt, warum viele Menschen sich nicht für Wissenschaft interessieren,
obwohl sie die Grundlage unserer Lebensweise, Lebensqualität, Gesundheit und unseres
ökonomischen und technologischen Erfolgs in der Welt – und damit auch unserer Zukunft
– darstellt.[
7
]
Nicht wenige Menschen sind durch die Corona-Pandemie bzw. die dagegen verordneten
Maßnahmen so stark betroffen, dass dadurch ihre Lebensqualität beeinträchtigt ist.
Einer meiner Söhne beispielsweise lebt mit Frau und 2 Kindern in einer kleinen Wohnung
ohne Garten oder Balkon. Lockdown mit Home-Schooling und Home-Office – gleichzeitig!
– der pure Stress - und bei Alleinerziehenden fast prinzipiell unmöglich. Das bewirkt
Frustration und Verzweiflung. Kommen dann noch ökonomisch reale Existenzängste hinzu,
wird nachts schlecht geschlafen und tagsüber viel gegrübelt, dann ist man von einer
klinisch manifesten Depression nicht mehr weit weg. Richtet sich die Wut nach außen,
können Feindseligkeit und aggressives Verhalten entstehen. All dies ist noch kein
Wahn, sondern liegt mehr oder weniger im Bereich des Normalen, was Menschen schon
immer mehr oder weniger gut ausgehalten haben. Entsteht jedoch offensichtlich bei
der betreffenden Person oder bei anderen Menschen Schaden, dann ist dies anders. Wenn
beispielsweise eine Ärztin keine Maske trägt, falsche Bescheinigungen ausstellt und
die Bürger dazu auffordert, Deutschland schnellstmöglich zu verlassen, weil sie hier
mit ihrem baldigen Tod durch die Impfung demnächst das gleiche Schicksal ereilen würde
wie die Juden während der NS-Zeit; wenn sich diese Ärztin vor der Polizei versteckt,
dann doch aufgegriffen wird, sich aggressiv wehrt und unkorrigierbar weiter ihre Behauptungen
vertritt, das Corona-Virus gäbe es nicht und die Impfung dagegen sei tödlich: – Wie
soll man das nennen, wenn nicht Wahn?
Wahnentwicklungen
Etwa so, wie jeder Mensch von einer Mangelernährung oder einer Erkältung betroffen
sein, oder sich ein Bein brechen kann, kann jeder Mensch auch einen Wahn bekommen.
Wahn ist keineswegs dasselbe wie Psychose und schon gar nicht dasselbe wie Schizophrenie.
Dies mag psychiatrische Laien zunächst überraschen, denn schließlich werden schwere
psychische Störungen (wie beispielsweise schwere depressive Störungen, bipolare Störungen,
hirnorganische Störungen oder Schizophrenie) bei Patienten, die sich in stationärer
psychiatrischer Behandlung befinden, sehr oft von Wahn begleitet. Es gibt Wahn jedoch
auch als Folge von rein psychologischen Gegebenheiten. In der älteren psychiatrischen Literatur sprach man hier von psychogenen Psychosen [33]–[35], um sie von endogenen und organischen Psychosen abzugrenzen. Die Gemeinsamkeit psychogener
Wahnentwicklungen besteht in der gestörten Kommunikation eines Menschen mit seinen Mitmenschen. Betrachten wir die bekanntesten Beispiele.
Wahn bei Schwerhörigkeit
Dass es so etwas gibt wie rein psychologische Ursachen von psychotischen Phänomenen
wie Wahn und Halluzinationen (bei denen der Psychiater bis heute zunächst an schwere
endogene[
8
] oder organische Störungen denkt), wurde durch keinen anderen als Emil Kraepelin
selbst in seinen Ausführungen zum Wahn bei Schwerhörigen oder völlig ertaubten Menschen
vor mehr als 100 Jahren klar herausgearbeitet. Im Jahr 1915 publizierten vierten Band
der achten, von ihm völlig neu bearbeiteten Auflage seines Lehrbuchs der Psychiatrie
für Studierende und Ärzte [45] findet sich hierzu Folgendes: „Bei Personen, denen die Verständigung mit der Umgebung
durch starke Schwerhörigkeit oder gar völlige Taubheit nahezu unmöglich gemacht wird,
kommt hier und da ein etwas verschwommener Verfolgungswahn mit eigentümlich unbestimmten
Sinnestäuschungen und halb ängstlicher, halb gereizter Stimmung zur Beobachtung […].
Es ist bekannt, dass Schwerhörige im Lauf der Zeit, namentlich Fremden gegenüber,
misstrauisch werden und sehr geneigt sind, Blicke, Gebärden und Heiterkeitsausbrüche
auf sich zu beziehen, da ihnen die Hilfsmittel fehlen, dem Gang der Unterhaltung zu
folgen […]“ [45]. Das Störungsbild entwickele sich nicht selten schleichend über Jahre hinweg, trete
vor allem bei Frauen im Alter zwischen 40 und 60 Jahren auf und nehme einen chronischen
Verlauf. Einsamkeit sei ein zusätzlicher Risikofaktor, eine verständnisvolle Umgebung
könne das Krankheitsbild bessern. Wie man heute weiß, gehen auch leichtgradige Hörminderungen
mit Misstrauen, Feindseligkeit und sozialem Rückzug einher. Umgekehrt findet man bei
älteren Menschen mit paranoiden Störungen eine 3-fache Häufung von Schwerhörigkeit.
Eine familiäre Belastung, d. h. eine genetische Komponente, findet man bei schwerhörigen
Wahnkranken eher nicht [7], [8], was als Indiz dafür gewertet werden kann, dass eine solche Komponente nicht für
jede Wahnentstehung notwendig ist. Von entscheidender Bedeutung für die Entstehung
dieses Syndroms ist wahrscheinlich auch die Tatsache, dass Schwerhörigkeit eine der
häufigsten Beeinträchtigungen älterer Menschen ist und zugleich meistens über lange
Zeiträume unerkannt bleibt [4].
Für den visuellen Bereich ist ein ähnliches Phänomen unter der Bezeichnung Charles-Bonnet-Syndrom bekannt: Störungen des Sehens (z. B. durch Katarakt) können Verkennungen und Halluzinationen
verursachen [28]. Diese werden jedoch als solche erkannt. Es kommt also nicht zum Wahn, den man auch
bei visuellen Störungen nicht gehäuft findet. Mit dem Wahn bei akustischer Deprivation
hat das Syndrom jedoch die Gemeinsamkeit, dass es bei Behebung der Deprivation meist
rasch rückläufig ist. Werden beispielsweise eine Linsentrübung oder eine Leitungsschwerhörigkeit
durch OP beseitigt oder reduziert, kann der Wahn sich ohne jede weitere psychopharmakologische
Behandlung verflüchtigen.
Wahn in sprachfremder Umgebung
Stellen Sie sich vor, es verschlägt Sie ganz plötzlich und unerwartet nach China in
eine ländliche Region, Sie ganz allein und auch ohne Smartphone. Sie verstehen die
Menschen nicht und diese verstehen Sie auch nicht. Zuweilen werden sie misstrauisch,
vermuten, dass über Sie geredet wird, und je mehr Vermutungen Sie darüber anstellen,
desto mehr fällt es ihnen auf, desto ängstlicher werden Sie und desto eher hören und
sehen Sie auch irgendwann, wie andere über Sie tuscheln. Vielleicht weil sie Böses
im Schilde führen? – Das macht ihnen noch mehr Angst und die beschleunigt und fokussiert
Ihr Wahrnehmen und Denken noch weiter in Richtung von Vermutungen und entsprechenden
Wahrnehmungen. Bereits im Jahr 1920 wurde von Allers [54] die Entstehung von Wahn in sprachfremder Umgebung beschrieben und ganz ähnlich eingeordnet
wie der Wahn von Schwerhörigen.
Sensitiver Beziehungswahn
Bei dem von Ernst Kretschmer erstmals so bezeichneten und zusammen mit Robert Gaupp
(beides bekannte Tübinger Psychiater) entwickelten Gedanken des sensitiven Beziehungswahns
geht es um eine weitere Form der rein psychogenen Wahnentwicklung. Besonderheiten
von Charakter, Erlebnis und Milieu lösen in einem unglücklichen Zusammenspiel diese
Wahnform aus. Der Charakter sei durch starke Kontraste zwischen Stärken und Schwächen
sowie starke Emotionen und ein ebenso starkes Bedürfnis nach Emotionskontrolle geprägt.
Es handele sich zudem meist um differenzierte und intelligente Menschen. „Erlebnisse,
die bei dieser Persönlichkeitsstruktur wie der Schlüssel zum Schloss passen und die
Wahnentwicklung auslösen, sind Insuffizienzerfahrungen und persönliche Niederlagen,
aber auch andere Enttäuschungen und Verfehlungen in zwischenmenschlichen Beziehungen
sowie Schulderleben […], Insuffizienzerleben [und…] Zurücksetzung im beruflichen und
sozialen Bereich“, beschreibt Rainer Tölle in seinem Lehrbuch der Psychiatrie das
Geschehen eindrucksvoll.[
9
]
Psychogener Wahn galt bislang in der Psychiatrie als selten. Das mag auch daran liegen,
dass die Patienten definitionsgemäß keine anderen Beeinträchtigungen aufweisen und
daher in unserer Gesellschaft gleichsam „unter dem Radar fliegen“, wie man sich zuweilen
ausdrückt. Die gesellschaftlichen und vor allem die ökonomischen Folgen der Corona-Pandemie
und der Versuche, sie durch Maßnahmen der Isolation und der Schließung ganzer Wirtschaftszweige
einzudämmen, haben Wahnentwicklungen aus meiner Sicht dramatisch gefördert. Der Lockdown
brachte viele Menschen in wirtschaftliche Schwierigkeiten, was zu Frustration und
Erlebnissen der Insuffizienz führte. Beziehungen gingen zu Bruch und in einem ganz
besonderen, vielleicht zuvor nie dagewesenen Ausmaß kam es zu einer deutlichen Reduktion
der zwischenmenschlichen Kommunikation. Hierdurch wurden seelische Prozesse angeschoben,
Teufelskreise zwischen sich wechselseitig befeuernden Emotionen und Gedanken in Gang
gesetzt, und das Ganze dann durch veränderte mediale Kommunikation noch jeglicher
Korrekturmöglichkeit beraubt, sodass sich Wahn in einem Ausmaß in der Gesellschaft
verbreiten konnte, wie wir es in unserer modernen aufgeklärten Welt nicht mehr für
möglich gehalten hätten.
Soziale Ansteckung
Der Ausdruck „Massenwahn“ wird heute nur noch selten gebraucht, und wenn, dann nicht
im Bereich der Psychiatrie, sondern im Feuilleton und allenfalls in manchen Bereichen
der Kulturwissenschaften. Nach dem zweiten Weltkrieg war das anders. Im Jahr 1947
verfasste der Psychiater und Neurologe Karl Ludwig Bonhoeffer[
10
] (1868–1948), von 1912 bis 1938 Ordinarius für Psychiatrie und Neurologie an der
Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin und Direktor der Klinik für psychische und Nervenkrankheiten
der Charité in Berlin, die kleine Schrift „Führerpersönlichkeit und Massenwahn“, die
erst im Jahr 1968 anlässlich einer Festschrift zu dessen 100. Geburtstag publiziert
wurde. Dort beschreibt Bonhoeffer ein Phänomen, das auch im Zusammenhang dieser kleinen
Übersicht Relevanz hat: den induzierten Wahn.[
11
] „Der Psychiater kennt eine Form der geistigen Erkrankung, die als induziertes Irresein
bezeichnet wird. Es handelt sich dabei darum, dass ein psychisch Kranker seine Umgebung
mit seinen Wahnbildungen so beeinflusst, dass diese selbst dem Wahne verfällt. Die
Aufgabe ist in einem solchen Falle im Interesse der Therapie zunächst, den primär
Erkrankten festzustellen, was keineswegs immer ganz einfach ist wegen der oft weitgehenden
Identität der Wahnidee und der Übereinstimmung des Affektes. Weiterhin sind die Besonderheiten
der Psyche der beiden Beteiligten zu klären, die die Übernahme des Wahnes verursacht
haben. […] Es ist nun kein Zweifel, dass sich auch im Leben der Völker, vor allem
in revolutionären Zeiten, Erscheinungen finden, die in ihrem psychischen Mechanismus
diesem Vorgang beim Einzelindividuum entsprechen“ [5].
Aus meiner Sicht sollte der Begriff „Wahn“ für kranke Individuen reserviert bleiben,
weswegen der Ausdruck „Massenwahn“ mit Recht im medizinisch-wissenschaftlichen Bereich
nicht verwendet wird. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es induzierten Wahn nicht geben
kann. Und soziale Ansteckung als soziologischen bzw. sozialpsychologischen Sachverhalt
gibt es durchaus. Betrachten wir als Beispiel hierfür ein Phänomen, das sich im Frühling
des Jahres 1856 in Südafrika ereignet hat.[
12
] Ein 15-jähriges Mädchen namens Nongqawuse erzählte ihrem Onkel, dass sie 3 Geister gesehen habe. Diese hätten ihr aufgetragen,
den Menschen im Dorf zu erzählen, dass die Toten auferstehen würden, wenn der gesamte
Stamm (d. h. über 100 000 Menschen) das gesamte Vieh (mehr als 400 000 Tiere) töten
würde. Zunächst glaubte ihr niemand, aber schon einen Tag später erzählte ihr Onkel
dies den Häuptlingen und vielen anderen Mitgliedern des Stammes. Daraufhin wurden
etwa 400 000 Tiere tatsächlich geschlachtet, was eine Hungerkatastrophe und den Tod
von mehr als 80 000 Menschen (über drei Viertel des gesamten Stammes!) zur Folge hatte.
Nongqawuse wurde von den damals Südafrika beherrschenden britischen Behörden verhaftet,
lebte nach ihrer Entlassung noch etwa 40 Jahre auf einer Farm in Südafrika und verstarb
im Jahr 1898. Diese Geschichte ist Inhalt der Monografie des südafrikanischen Historikers
Jeff Peires (1989/2003) mit dem Titel Die Toten werden auferstehen und hat sich tatsächlich so oder so ähnlich abgespielt. Der Fall ruft bis heute in
Südafrika kontroverse Diskussionen hervor, nicht zuletzt, weil die damaligen britischen
Kommandeure keine – wie wir heute sagen würden – humanitäre Hilfe leisteten und dem
Hungertod Zehntausender Menschen tatenlos zuschauten.
Wenn man nach solchen Vorfällen in der Geschichte sucht, findet man sie überall und
zu allen Zeiten: Den Hexenverfolgungen der frühen Neuzeit (1450–1750) erlagen in Mitteleuropa nach neueren Schätzungen 40
000 bis 60 000 Menschen, drei Viertel davon Frauen. Der Aberglaube der Alchemisten (vom Altertum bis heute), Geisterhäuser und Spukschlösser sowie der tierische Magnetismus (Mesmerismus) sind weitere bekannte Beispiele. Derartige soziale Ansteckungsphänomene wurden als
solche auch schon im Jahr 1841 vom schottischen Journalisten Charles MacKay beschrieben.
Der Tulpenwahn von 1637 in den Niederlanden gilt als die erste Marktblase mit anschließendem Crash,
von denen wir mittlerweile eine ganze Reihe erlebt haben. Der Klassiker unter den
einschlägigen Publikationen zur sozialen Ansteckung ist die Monografie Psychologie der Massen des französischen Arztes und Gelehrten Gustave Le Bon (1841–1931) aus dem Jahr 1895.
Darin beschreibt er die Ausbreitung von Emotionen analog zu Erregern von Krankheiten,
und deren Konsequenzen im Sinne gesteigerter Angst und verminderter Kritikfähigkeit
größerer der gegenseitigen Ansteckung unterliegender sozialer Gemeinschaften. Das
Buch ist noch heute (oder gerade heute wieder!) sehr lesenswert.
Diskussion: Weniger Angst, mehr Aufklärung und realer Kontakt
Diskussion: Weniger Angst, mehr Aufklärung und realer Kontakt
Ängste und Depressionen waren in der Corona-Pandemie weltweit noch häufiger als sie
zuvor schon waren. Verstärkende Filterblasen und Echokammern gab es auch schon und
die gesunde soziale Rückkoppelung in Form von Kritik war dadurch ebenfalls beeinträchtigt
bis unterbrochen. Und das Virus selbst sorgte schon für Angst als es die Lockdown-Maßnahmen
noch nicht gab, durch die Ängste, Frustration, Resignation und gelernte Hilflosigkeit
noch deutlich zugenommen haben. Falsche Behauptungen („Fake News“) über die Corona-Pandemie
und das Impfen sind ansteckend und verbreiten sich nachweislich schneller und weiter
als die Wahrheit. Zusammen mit einschneidenden und schlecht begründeten oder gar in
sich widersprüchlichen Gegenmaßnahmen haben sie negative Auswirkungen auf das das
Vertrauen in das öffentliche Gesundheitswesen im Allgemeinen und auf ganz praktische
Gesundheitsentscheidungen, einschließlich der Akzeptanz von Impfungen [55]. Impf-Skeptiker verwenden Verschwörungstheorien, zitieren selektiv und/oder falsche
Experten, haben unmögliche Erwartungen („100% Sicherheit“), stellen Wahrscheinlichkeiten
und Fakten falsch dar und stehen damit außerhalb jedes wissenschaftlichen Diskurses.
– Was kann man tun?
Zunächst ist alles, was dazu geeignet ist, Angst zu reduzieren und Vertrauen wiederherzustellen,
prinzipiell geeignet, die Situation zu bessern. Eine als Impfzwang missverstandene
Impfpflicht gehört sicherlich nicht dazu. Ich habe selbst in Mitarbeitergesprächen
erlebt, wie fest der Gedanke, man könnte zur Impfung gezwungen werden, in vielen Menschen
verankert zu sein scheint. „Wir haben Angst, dass Sie uns zur Impfung zwingen wollen.“
Darauf antwortete ich wahrheitsgemäß: „Dann säße ich jetzt nicht mit ihnen hier. Denn
ich will sie nicht zwingen, sondern versuche das genaue Gegenteil: ich möchte sie
davon überzeugen, das richtige aus eigenem Entschluss zu tun.“ Dazu muss über alles
gesprochen werden, wozu die Mitarbeiter wiederum nicht bereit waren. Nachdem ich einen
ihrer Einwände entkräftet hatte, wurde mir entgegnet: „Das war nur einer, wir haben
aber 20“. – „Ok, dann bitte den nächsten.“ – „Wir wollen aber nicht mehr mit ihnen
diskutieren.“
Jetzt gibt es tatsächlich ein systematisches Problem: Unsere Gesellschaft lebt von
der Vielfalt der Meinungen, aber auch von Tatsachen, auf die sich alle einigen können.
Der geschilderte kleine Gesprächsausschnitt fand in einem Seminarraum der Universität
statt, in dem sehr oft wissenschaftliche Arbeiten kritisch diskutiert werden: Was
ist dran an dem Paper? Stimmt die Methode? Wird tatsächlich das, was behauptet wird,
auch nachgewiesen? – Fragen wie diese gehören im Bereich der Wissenschaft zum Alltag
und werden in Seminaren rauf und runter durchgesprochen; an Beispielen; zum Lernen;
damit man es kann, wenn es mal nicht nur um die Wahrheit, sondern um Leben und Tod
geht, wie das in der Medizin eben nicht selten der Fall ist.
Niemand wird gezwungen, etwas einfach zu glauben; alle bemühen sich vielmehr, durch
kritische Diskussion herauszufinden, was richtig und was falsch ist. Niemand würde
am Ende einer wissenschaftlichen Diskussion ernsthaft sagen: „Das mag ja alles so
sein, aber ich behaupte das Gegenteil – einfach so, weil ich da so ein Bauchgefühl
habe.“ Man würde entgegnen, dass Bauchgefühle bei der Wahrheitsfindung nichts zu suchen
haben und dass man seine Zeit verschwendet, wenn man es dennoch tut. Zudem würde man
entgegnen, dass der Betreffende nicht begriffen hat, wie wichtig es ist, dass man
sich in der Wissenschaft, in der es um tatsächliches Wissen geht, grundsätzlich nur
durch kritischen Diskurs der Wahrheit annähert. Gar nicht zählt beispielsweise folgendes
Argument: „Ich habe ein YouTube-Video gesehen, in dem ein Experte etwas anderes gesagt
hat.“ Und erst recht nicht dieses: „Ich habe irgendwo gehört, dass Bill Gates die
Weltbevölkerung mit der Corona-Impfung auslöschen will.“
Solche Verschwörungstheorien sind wissenschaftlich gut untersucht und entstehen unter
Bedingungen von Niederlage, Frustration, Kontrollverlust und Angst. Wer nicht an Corona
glaubt, behält aus subjektiver Sicht die Kontrolle – und lässt sich auch nicht impfen.
Das mag unlogisch klingen, entspricht aber bekannten bei Wahnkranken vorliegenden
Denkmustern: Wer unter Verfolgung leidet, so ein Extrembeispiel, begeht einen Suizidversuch,
„um den Verfolgern zuvor zu kommen“, wie man auf Nachfrage erfährt. Mit anderen Worten:
Die Kontrolle wird höher bewertet als das eigene Leben. Verschwörungstheorien sind
sehr häufig und kommen bei ansonsten psychisch gesunden Menschen vor. Sie zeigen jedoch,
dass Denkmuster, an denen bis zur wahnhaften Gewißheit und Unkorrigierbarkeit festgehalten
wird, tatsächlich bei jedem Menschen auftreten können. Wenn es hierfür eine Prädisposition
gibt, dann muss diese wie die Verschwörungstheorien auch sehr häufig sein.
Die Tatsache, dass es induzierten Wahn gibt, macht deutlich, dass Wahn mit Kommunikation
in enger Verbindung steht. Die evolutionäre Nische von Menschen sind andere Menschen,
mit denen wir in täglichem Austausch sind. Die Phänomene der sozialen und emotionalen
Ansteckung sind bekannt und die Auswirkungen von längerfristig beeinträchtigter Kommunikation
ebenfalls. Wenn unter den Bedingungen des Lockdowns insgesamt weniger echte soziale,
diskursive Kommunikation stattfindet, erleichtert dies die Entstehung von Denkmustern,
die von denen der Gemeinschaft abweichen. Wenn man zudem seine eigene Gemeinschaft
findet, behält man diese Denkmuster eher bei. Und wenn die Kommunikation zudem vor
allem medial erfolgt, führen Filter und andere bekannte Auswirkungen dieser Medien
(Falschheit wird durch Twitter schneller, weiter und tiefer verbreitet als Wahrheit;
Radikalisierung als Geschäftsmodell von YouTube) zu einem insgesamt weiter verstärkenden
Effekt.
Es gibt kein Wundermittel gegen Corona-Leugnung und Impfverweigerung, denn es handelt
sich um psychiatrisch nicht unbekannte Reaktionsmöglichkeiten von Menschen. Ihr Verständnis
im Rahmen unseres Fachgebiets eröffnet aber auch Perspektiven für adäquates Handeln.
Ängste kann man reduzieren und bei unverschuldeten finanziellen Notlagen kann man
Unterstützung gewähren. Kontrollverlust wird in geringerem Maß erlebt, wenn Gegenmaßnahmen
klar begründet und kommuniziert werden. Häufig wechselnde, zuweilen in sich logisch
nicht stimmige Anordnungen schaden sehr. Wenn sich wechselseitig verstärkende Kommunikationsdefizite
ursächlich an der Entstehung eines Problems beteiligt sind, ist gute Kommunikation
notwendig Teil von dessen Lösung.
Schon vor dem Beginn der Impfungen gegen COVID-19 schrieb die kanadische Kinderärztin
Noni MacDonald [50] in ihrer Arbeit „Fake News und die Attacken von Wissenschaftsleugnern auf Impfstoffe:
Was kann man tun?“: „Es ist wichtig, dass Sie sich gut überlegen, was Sie sagen, und
dass Sie Ihre Meinung äußern – ganz gleich, ob Sie beim Abendessen sind, mit Freunden
ausgehen oder sich in ihrer Arztpraxis oder Klinik befinden. Wenn Sie nichts sagen,
bedeutet das, dass Sie mit der Fehlinformation einverstanden sind“. Gegen wahnhaft
überzeugte Impfgegner jedoch nützt Argumentieren nichts.