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DOI: 10.1055/a-1709-0591
Wirksamkeit und ethische Bewertung von Nudging-Interventionen zur Förderung des Selbstmanagements bei Diabetes Mellitus Typ 2
Effectiveness and Ethical Evaluation of Nudging to Promote the Self-Management in Diabetes Mellitus Type 2- Zusammenfassung
- Abstract
- Einleitung
- Methoden
- Literatur
Zusammenfassung
Hintergrund Nudges bieten vielfältige Möglichkeiten zur Förderung von gesundheitsbezogenem Verhalten im Alltag, die klassische Public Health-Maßnahmen ergänzen können. Vor diesem Hintergrund führten wir vorläufige Untersuchungen zur Wirksamkeit und zu ethischen Aspekten verschiedener Nudges zur Förderung des Selbstmanagements von Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 im Kontext von Disease-Management-Programmen (DMPs) durch.
Methodik Die ethische Bewertung der Nudges erfolgte im systematischen Rahmen von Marckmann et al. (2015) zur Public Health-Ethik. Die bisherige Evidenz zur Wirksamkeit von Nudges wurde mittels einer narrativen Literaturübersicht zusammenfassend dargestellt.
Ergebnisse Zielvereinbarungen mit Umsetzungsplänen, Erinnerungen, Feedback, Sammeltermine bei Ärzten, Peer Mentoring sowie Verhaltensverträge sind Nudging-Interventionen mit mäßiger Eingriffstiefe in die Persönlichkeitsrechte der Patienten und ethisch relativ unproblematischen Voraussetzungen, die sich in verschiedenen Kontexten bewährt haben. Automatische Einschreibungen zu Patientenschulungen, Einbindung der Lebenspartner, Konfrontation mit sozialen Normen und Verwendung von Schockbildern können ebenfalls wirksam sein, greifen jedoch tiefer in die Freiheit und Privatsphäre der Patienten ein und unterliegen stärkeren ethischen Voraussetzungen und Beschränkungen. Die Evidenzlage ist insbesondere bei Maßnahmen zur sozialen Unterstützung durch Angehörige und Peers noch unzureichend.
Schlussfolgerungen Nudging bietet ein breites Spektrum gezielter Interventionen zur Förderung des Selbstmanage-ments von Patienten mit chronischen Erkrankungen, dessen Potenzial bislang noch zu wenig erschlossen wurde. Besonders vielversprechende Maßnahmen sollten in Pilotstudien auf ihre Akzeptanz, Wirksamkeit und Kosteneffektivität im Rahmen von DMPs evaluiert werden.
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Abstract
Background Nudges offer a wide range of options for protecting health in everyday life that supplements traditional public health measures. Against this background, we conducted initial investigations on the effectiveness and ethical aspects of different nudges for promoting self-management of patients with diabetes mellitus type 2 in the context of Disease Management Programs (DMPs).
Methods The ethical assessment of the nudges was done within the systematic framework of Marckmann et al. (2015) for public health ethics. The existing evidence on the effectiveness of nudges was summarised by means of a narrative literature review.
Results Target agreements with implementation plans, reminder, feedback reports, shared appointments of patients with physicians, peer mentoring, and behavior contracts are nudging interventions with moderate interference with personal rights and relatively unproblematic ethical requirements, which have demonstrated effectiveness in different contexts. Default enrollment for patient training courses, involvement of partners, confrontation with social norms, and shocking pictures may be effective as well; however, they interfere more deeply with the freedom and privacy of patients and, therefore, are bound to stronger ethical requirements and restrictions. The evidence base is still insufficient, especially for social support measures by relatives and peers.
Conclusions Nudging offers a wide range of targeted interventions for supporting self-management of patients with chronic diseases, the potential of which has not yet been fully realized. Particularly promising interventions should be tested in pilot studies for their acceptance, effectiveness and cost-effectiveness in the context of DMPs.
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Einleitung
Ein großer Teil menschlichen Verhaltens beruht auf Intuitionen, die nur begrenzt von bewussten Verhaltenssteuerungen kontrolliert werden können [1]. Intuitives Verhalten ist anfällig für die Anreize zu ungesundem Verhalten in modernen Gesellschaften, wie den ständig verfügbaren Nahrungsmitteln und der weitgehenden Vermeidbarkeit körperlicher Aktivität [2] [3] [4]. Klassische Public Health-Instrumente wie Informationskampagnen, Regulierungen (Ge-/Verbote) und finanzielle Anreize (Zuzahlungen usw.) sprechen primär die Vernunft der Menschen an [5]. Sie verändern jedoch nicht die ungünstigen Anreize im Alltag und reichen in vielen Situationen nicht aus, um die rationale Selbstkontrolle von Menschen zu aktivieren.
Um dies zu erreichen, erscheinen sog. Nudges (deutsch: „Anstupser“) vielversprechend. Sie sind Gestaltungselemente, die Personen in konkreten Entscheidungssituationen zu bestimmten Verhaltensweisen anregen sollen, z. B. am vereinbarten Termin zum Arzt zu gehen oder die Treppe statt des Fahrstuhls zu nehmen [6]. Nudges beeinflussen die Art und Weise, wie Verhaltensoptionen in Entscheidungssituationen präsentiert werden, z. B. durch Erinnerungen, räumliche oder optische Hervorhebungen, Widerspruchsregelungen oder sozialen Normierungen. Sie können die intuitiven Anreize einer konkreten Entscheidungssituation beeinflussen, z. B. durch Veränderung der Tellergröße in einer Kantine, oder die rationale Selbstkontrolle aktivieren, z. B. indem in Kantinen der Kaloriengehalt verschiedener Gerichte anzeigt wird [7]. Sie können Stimuli für spontane Reaktionen setzen (z. B. die Wahl einer Mahlzeit) oder längerfristige Entscheidungen und Vorsätze stimulieren (z. B. an einem DMP teilzunehmen). Im weitesten Sinne handelt es sich bei Nudges um Maßnahmen, die es Menschen leichter machen können, bestimmte Verhaltensweisen in bestimmten Situationen auszuführen, ohne sie zu diesen Verhaltensweisen zu nötigen [8]. Nudges sind vielfach relativ kostengünstig und können Menschen in ihrem Gesundheitsverhalten unterstützen [9]. Jedoch wird ihr gezielter Einsatz auch kritisch bewertet. Zum einen ist die Wirksamkeit konkreter Interventionen in vielen Kontexten noch nicht hinreichend belegt. Zum anderen gibt es ethische und rechtliche Vorbehalte gegen Nudges, weil sie als manipulativ, übergriffig, stigmatisierend oder paternalistisch angesehen werden oder weil in Frage gestellt wird, dass die intendierten Verhaltensweisen zum Wohle der Betroffenen sind [10]. Diese Bedenken gelten insbesondere dem staatlichen Nudging, weil das Neutralitätsgebot der öffentlichen Gewalt engere Eingriffsgrenzen gegenüber seinen Bürgern setzt als den Akteuren in unternehmerischen oder privaten Bereichen [11] [12]. Die Problematik zeigt sich aktuell in besonderer Weise bei staatlichen Maßnahmen zur Förderung der Impfbereitschaft in der Bevölkerung gegen das SARS-CoV-2-Virus, die neben Regulierungen auch eine Reihe von Nudges beinhalten (z. B. Erinnerungen, Impfangebote „vor Ort“ und soziale Normsetzung), ohne im strengen Sinne einen Impfzwang zu beinhalten.
Da Nudges ganz unterschiedliche Maßnahmen mit unterschiedlicher Eingriffstiefe in unterschiedlichen Kontexten umfassen, erscheint es kaum möglich, eine pauschale Beurteilung vorzunehmen [7] [13]. Stattdessen untersuchen wir den Einsatz verschiedener Nudges zum Zwecke der Förderung des Selbstmanagements von Personen mit Diabetes mellitus Typ 2 im Rahmen strukturierter Behandlungsprogramme.
Diabetes gehört zu den großen chronischen Erkrankungen in Deutschland, mit voraussichtlich weiter ansteigender Prävalenz [14]. Die Behandlung erfordert von den Patienten ein hohes Maß an Mitwirkungsbereitschaft, Selbstmanagement und Verhaltenskontrolle [15]. Zu den Erfordernissen gehören insbesondere die Teilnahme an Schulungen und Beratungen, regelmäßige körperliche Aktivität, das Befolgen eines Ernährungsplans, eine regelmäßige Kontrolle der Blutzuckerwerte und des Körpergewichts, das Führen eines Diabetes-Tagebuches sowie die regelmäßige Durchführung medizinischer Untersuchungen.
Disease Management Programme (DMPs) konnten zu einer Verbesserung der Versorgung beitragen [16], jedoch besteht weiterhin Optimierungsbedarf beim Patientenverhalten u. a. im Hinblick auf die Teilnahme an Diabetesschulungen und die Erreichung individueller Behandlungsziele [17] [18]. In einer bevölkerungsbasierten Langzeitstudie konnte gezeigt werden, dass Diabetespatienten mit besserem Selbstmanagement ein deutlich verringertes Sterberisiko aufweisen [19] [20]. Nudges, die das Selbstmanagement von Patienten durch intuitive Anreize oder durch die Aktivierung ihrer rationalen Verhaltenskontrolle stärken können, wären daher von hoher gesundheitlicher Relevanz.
Die vorliegende Untersuchung bündelt die bestehenden Hinweise in der Literatur auf die Wirksamkeit von Nudges zur Förderung des Selbstmanagements von Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 und analysiert, wie die untersuchten Nudging-Interventionen aus ethischer Sicht zu bewerten sind. Während im Haupttext die Untersuchung entlang verschiedener Nudging-Kategorien verläuft, geben wir als Zusatzmaterial eine tabellarische Übersicht über den möglichen Einsatz verschiedener Nudges im typischen Verlauf des Krankheitsmanagements von Diabetes mellitus Typ 2 (Zusatzmaterial, vgl. [21]). Die chronologische Darstellung im Zusatzmaterial beinhaltet Mehrfachnennungen einiger Nudges in verschiedenen Phasen des Krankheitsmanagements, die im Haupttext durch eine kategoriale Darstellung vermieden wurden. Da einzelne Nudges in der Praxis nicht immer von komplexeren Interventionen getrennt werden können, schließt die Untersuchung an einzelnen Stellen Kombinationen von Nudges mit weiteren Maßnahmen ein, die keine Nudges darstellen (z. B. Regulierungen).
Die Arbeit soll Experten im Gesundheitswesen Anregungen für den Einsatz von Nudges im Kontext von Diabetes mellitus Typ 2 geben. Sie kann Grundlage für die Pilotierung einzelner Nudges im Rahmen von strukturierten Behandlungsprogrammen sein. Eine breitere Anwendung von Nudging-Interventionen im Gesundheitswesen sollte erst erfolgen, wenn die Pilotstudien erfolgreich verlaufen sind.
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Methoden
Die leitenden Forschungsfragen der vorliegenden Untersuchung lauteten: Welche Hinweise bestehen in der Forschungsliteratur bezüglich der Wirksamkeit von Nudges zur Förderung des Selbstmanagements von Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 im Rahmen von strukturierten Behandlungsprogrammen? Und wie können die Nudges in diesem Kontext ethisch bewertet werden?
Die Auswahl der Nudges und die Beurteilung ihrer Wirksamkeit basieren auf einer narrativen Literaturübersicht (vgl. u. a. [22]). Es wurde keine Bewertung der Studienqualität vorgenommen. Die Literaturübersicht verfolgt das Ziel, einen breiten Überblick über das Potenzial von Nudges für Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 zu geben und hierbei auch Potenziale für Nudges aufzuzeigen, deren Wirksamkeit bisher nur in der Primärprävention oder in nicht-gesundheitsbezogenen Kontexten untersucht wurde.
Die Literaturübersicht identifiziert und synthetisiert insbesondere Studien zum Einsatz von Nudges zur Förderung des Selbstmanagements von Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2. Da die Studienlage bisher jedoch nicht ausreichend ist, um die Breite des möglichen Einsatzes von Nudges im Bereich von Diabetes mellitus Typ 2 aufzuzeigen und einer ethischen Bewertung zu unterziehen, wurden auch Studien zur Wirksamkeit von Nudges, die bisher (1) nur bei Patienten mit anderen chronischen Erkrankungen, (2) im Kontext der Primärprävention (wie bspw. Widerspruchsregelungen bei Terminen für Grippeimpfungen oder Schockbilder bei Tabak oder zuckerhaltigen Getränken) oder (3) in nicht-gesundheitsbezogenen Kontexten (wie bspw. soziale Normen zur Reduzierung des Energieverbrauchs) erprobt wurden, einbezogen.
Die Suche nach relevanten Studien erfolgte in der Datenbank PubMed sowie in den Suchmaschinen Google und Google Scholar. Darüber hinaus wurde bei identifizierten relevanten Studien das Schneeballverfahren angewendet. Auch bestehende systematische Literaturübersichten zur Wirksamkeit von Nudges (u. a. [23]) wurden berücksichtigt und relevante Studien daraus in die vorliegende narrative Literaturübersicht aufgenommen.
Die ethische Bewertung der Nudges orientierte sich an den fünf inhaltlichen Maßstäben zur Bewertung von Public Health-Maßnahmen des systematischen Ansatzes von Marckmann et al. [24] zur Public Health-Ethik.[1] Sie werden im folgenden Abschnitt näher dargestellt und für den vorliegenden Kontext spezifiziert. Im Hauptteil der Arbeit wurden die untersuchten Nudging-Interventionen vor dem Hintergrund dieser Bewertungsperspektiven evaluiert. Diese strukturierte Vorgehensweise führte zu einer hohen Übereinstimmung der ethischen Bewertungen der einzelnen Interventionen zwischen den Autoren. Einzelne Abweichungen wurden in Teambesprechungen im Konsens bereinigt.
Maßstäbe zur ethischen Bewertung von Nudges als Public Health-Interventionen
Der Ansatz von Marckmann et al. [24] orientiert sich an fünf grundlegenden inhaltlichen ethischen Kriterien zur Bewertung von Public Health-Interventionen (vgl. [Tab. 1] ). Diese grundlegenden Kriterien decken die ethisch relevanten inhaltlichen Aspekte zur Bewertung von Public Health-Maßnahmen ab, müssen jedoch für verschiedene Kontexte spezifiziert werden, um konkrete Bewertungen durchführen zu können. In diesem Abschnitt spezifizieren wir die grundlegenden Kriterien für den Anwendungsbereich der Förderung des Selbstmanagements von Diabetespatienten. Im darauf folgenden Abschnitt wenden wir die spezifizierten Kriterien zur Bewertung der konkreten Nudges an. Public Health-Interventionen sind nach Marckmann et al. [24] zunächst am erwarteten Nutzen für die Zielgruppe zu bemessen, der sich im vorliegenden Kontext auf die Verbesserung des Selbstmanagements von Diabetespatienten zum Zwecke der Sekundärprävention ihrer Erkrankung bezieht. Die Wirksamkeit verschiedener Nudges ist im Bereich der Primärprävention vielfach nachgewiesen [25] [26]. Auch gibt es vereinzelte Hinweise auf wirksame Nudges zur Stärkung des Selbstmanagements von Patienten mit chronischen Erkrankungen, vor allem bei Diabetes mellitus sowie bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen [23]. Um zu vermeiden, dass Nudges zur Propagierung bestimmter Lebensstile oder aufgrund sekundärer Interessen eingesetzt werden, sollte ihre konkrete Relevanz für die Gesundheit der Zielgruppe belegt und unverzerrt dargestellt werden. Bei Surrogat-Endpunkten sollte ihr Zusammenhang mit dem primären Endpunkt belegt oder zumindest plausibel sein. Der Nutzen ist zweitens gegen potenzielle Schäden und Belastungen der Nudging-Interventionen abzuwägen. Diese sind bislang kaum untersucht. Nudges können Belästigungen darstellen (z. B. durch häufige Erinnerungen oder drastische Darstellungen von Gesundheitsfolgen), einen Handlungsbedarf aufbürden (Widerspruchslösung), in die Privat- oder Persönlichkeitssphäre eindringen (z. B. durch Einbindung von Partnern oder anderen Patienten (sog. „Peers“)), Probleme des Datenschutzes aufwerfen (z. B. bei Sammelterminen mit mehreren Patienten), zur Stigmatisierung von abweichendem Verhalten beitragen (durch Propagierung sozialer Normen), das psychische Wohlergehen und Selbstwertgefühl der Betroffenen beeinträchtigen (z. B. schlechtes Gewissen, Scham, Versagensgefühle oder Ängste verursachen) und zur Entmutigung oder nachteiligem Ausweich- oder Abwehrverhalten führen (z. B. Gewichtszunahme nach Nikotinabstinenz, Abbruch der Behandlung im Rahmen eines DMPs).
Von Bedeutung sind, drittens, die Auswirkungen von Nudges auf die Autonomie der betroffenen Personen [27] [28]. Nudges wahren die Handlungsfreiheit, können aber die Willensbildung und Entscheidungen von Menschen beeinflussen. Problematisch sind insbesondere Einflüsse, die intransparent und ohne Kenntnis der Betroffenen eingesetzt werden (Manipulation) oder inadäquate bzw. verzerrte Informationen transportieren (Täuschung [7]). Nudges können jedoch auch das Verhalten von Personen beeinflussen, wenn sie transparent und wahrhaftig gestaltet sind [29]; und sie können die Selbstbestimmung von Personen fördern, indem sie ihre Selbstkontrolle zur Erreichung selbstgesteckter Ziele und Vorsätze unterstützen (z. B. Zielvereinbarungen, Verhaltensverträge). Notwendig ist, dass die Freiheit, sich abweichend von den Anreizen der Nudges zu verhalten, stets niederschwellig gewahrt bleibt, und z. B. kein erheblicher Aufwand für den Ausstieg aus einer Standardoption betrieben werden muss.
Das Ausmaß negativer Auswirkungen einzelner Nudges auf das Wohlergehen oder auf die Persönlichkeitsrechte (insb. Privatsphäre, Freiheit, Selbstbestimmung) der Betroffenen kann als „Eingriffstiefe“ bezeichnet werden. Da hierfür kaum Erhebungen mit validierten Instrumenten vorliegen, kann sie i.d.R. nur grob abgeschätzt werden.
Viertens sollte die Perspektive der Gerechtigkeit in die Bewertung von Nudges einfließen, insbesondere inwiefern verschiedene Personengruppen von einer Nudging-Intervention profitieren oder benachteiligt werden. Wenn beispielsweise vom Angebot eines regelmäßigen Feedbacks insbesondere solche Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 profitieren können, deren Selbstmanagement bereits überdurchschnittlich gut ist, dann wäre diese Intervention hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Gleichstellung der Patienten anders zu beurteilen als eine Intervention, von der insbesondere Patienten mit einem schlechten Selbstmanagement profitieren können [24].
Fünftens ist der mögliche Nutzen oder die Wirksamkeit von Nudges in Relation zu ihren Kosten zu setzen. In einigen Kontexten (u. a. bei Grippeimpfungen) wurde für Nudges eine höhere Kosteneffektivität als für traditionelle Public-Health-Instrumente gezeigt [30]. In vielen anderen Kontexten ist der Nutzen und die Kosteneffektivität bzw. Kostenwirksamkeit von Nudges noch nicht hinreichend belegt und sollte zunächst in Pilotprojekten getestet werden.
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Mögliche Nudges zur Förderung des Selbstmanagements von Personen mit Diabetes mellitus Typ 2
Einschreibung zu Erstschulungen und ggf. Nachschulungen als Standardoption
Die Patienten könnten mit der Aufnahme in ein DMP automatisch zu einer Erstschulung und ggf. auch zu notwendigen Nachschulungen angemeldet werden und müssten den vorgegebenen Termin verschieben, wenn sie ihn nicht wahrnehmen können. Inwiefern diese Widerspruchsregelung die Teilnahme an Schulungen signifikant erhöhen und dadurch das Selbstmanagement verbessern würde müsste allerdings geprüft werden, da die Ergebnisse zur Wirksamkeit von Widerspruchsregelungen bisher uneinheitlich sind. In einer Studie zur Teilnahme an Grippeimpfungen zeigten automatische Terminsetzungen positive Effekte [31]. Eine andere Studie fand in einem ähnlichen Kontext jedoch keine signifikanten Effekte [32].
Um die Verbindlichkeit zu erhöhen, könnte unentschuldigtes Fernbleiben mit einer angemessenen Sanktion verbunden werden, z. B. der Zahlung der Ausfallkosten. Patienten, die die Schulung nicht innerhalb einer angemessenen Frist besuchen, könnten automatisch wieder aus dem DMP ausgeschrieben und erst nach einer signifikanten Karenzzeit wieder aufgenommen werden. In gleicher Weise könnte verfahren werden, wenn es aus ärztlicher Sicht angezeigt wäre, eine Nachschulung zu besuchen. Diese Maßnahmen gehen über reines Nudging hinaus, greifen relativ stark in die Freiheit der Patienten ein und können ggf. nennenswerte Kosten verursachen. Jedoch erscheint eine Erstschulung und ggf. Nachschulung für die erfolgreiche Teilnahme am DMP notwendig, und der erhöhte Betreuungsaufwand im DMP kann die Einforderung einer gewissen Verbindlichkeit von den Patienten rechtfertigen. Die automatische Einschreibung kann den Patienten die obligatorische Teilnahme erleichtern. Ethische Voraussetzungen für eine Rechtfertigung dieser Maßnahmen wären, die Patienten vorab explizit über die Teilnahmebedingungen zu informieren und ihnen eine Terminverschiebung ohne großen Aufwand zu ermöglichen.
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Soziale Normen
Patienten könnten zu einer besseren Mitwirkung am DMP angeregt werden, indem man ihnen aufzeigt, was andere Patienten mehrheitlich tun oder was mehrheitlich als angemessenes Verhalten betrachtet wird (soziale Normen). Ein Beispiel wäre die Mitteilung, 2/3 aller im DMP eingeschriebenen Patienten hätten im vergangenen Jahr einen Augenarzt besucht und ihren individuell vereinbarten HbA1c-Zielwert erreicht [33]. Solche Mitteilungen könnten nach Einwilligung der Patienten (Opt-in) in verschiedener Häufigkeit (anlassbezogen, feste Termine) über verschiedene Kanäle (Brief, Newsletter, Feedback-Bericht, SMS, Email, Arztgespräch) und mit unterschiedlicher Individualisierung (allgemeine vs. individuelle Hinweise) erfolgen.
Empirische Studien zu sozialen Normen liegen im Diabetes-Bereich bislang nicht vor, in außermedizinischen Kontexten, wie bspw. der Reduzierung des Energieverbrauchs [34], konnte ihre Wirksamkeit nachgewiesen werden.
Im günstigen Fall können soziale Normen die Selbstkontrolle von Diabetes-Patienten unterstützen. Es besteht jedoch auch ein Risiko, sie unangemessen unter Druck zu setzen oder emotional zu verletzen und zu demotivieren. Deshalb ist ein umsichtiger Umgang mit solchen Nudges angezeigt. Die Angaben sollten konkret, korrekt und nicht irreführend sein. Eine tendenziöse Propagierung sozialer Normen (z. B. die „überragende Mehrheit“ statt 2/3 aller Patienten) wäre sachlich unangemessen und könnte das Vertrauen der Patienten in das DMP beeinträchtigen. Es muss sichergestellt sein, dass normkonformes Verhalten tatsächlich dem Wohlergehen der Patienten dient und normabweichendes Verhalten nicht unangemessen (z. B. als ein „Versagen“) stigmatisiert wird. Dies wäre auch deshalb problematisch, weil die Erfüllung von Normen (z. B. physiologische Zielparameter) z.T. von genetischen oder sozialen Faktoren beeinflusst wird, die nicht kontrolliert werden können. Soziale Nudges senden pauschale Botschaften, die möglichen individuellen Besonderheiten einzelner Patienten nicht gerecht werden. Um konstruktiv wirken zu können, sollten sie stets mit korrespondierenden Vorschlägen zur Verbesserung des Patientenmanagements verbunden werden.
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Feedback
Auch schriftliche oder mündliche Rückmeldungen über den aktuellen Gesundheitszustand könnten zur Förderung des Patienten-Selbstmanagements eingesetzt werden. Individuelles Feedback ist ein in zahlreichen Kontexten erprobtes Instrument zur Steuerung und Qualitätssicherung menschlichen Verhaltens. Es vermittelt Informationen und verbindet sie mit einer positiven oder negativen Botschaft, die beim Empfänger zu einer Verstärkung gewünschter Handlungen oder Vorsätze führen können. Die Wirkung wird beeinflusst von der Art und Weise, in der die Informationen und Botschaften präsentiert werden, und von der Beziehung zwischen dem Feedback-Geber und -Nehmer (Autorität, Zusammengehörigkeit, Sympathie) [35].
Die Wirksamkeit von Feedback ist für den Diabetes-Bereich noch nicht umfassend evaluiert, eine Studie zeigte jedoch Verbesserungen der HbA1c-Werte von Patienten durch Nutzung von Diabetes-Apps mit Feedbackmechanismen [36]. Darüber hinaus hat sich individuelles Feedback auch bei anderen chronischen Erkrankungen insbesondere in Kombination mit weiteren Nudges (wie Erinnerungen oder Verhaltensverträgen) als wirksam erwiesen [37] [38].
Sofern die Patienten ein Interesse an einer strukturierten Behandlung haben, kann davon ausgegangen werden, dass sie zumeist auch ein Interesse an einem Feedback haben. Daher erscheint es gerechtfertigt, dies als Standard in DMPs zu integrieren, zumal der Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Patienten relativ gering ist. Um eine Entmutigung zu vermeiden, sollte das Feedback immer konstruktiv erfolgen. Schriftliche Feedback-Berichte sollten mit dem betreuenden Arzt besprochen werden, um die Interpretation der Befunde für die Patienten zu erleichtern und die emotionalen Botschaften des Feedbacks zu verstärken. In Abhängigkeit von dem nachgewiesenen Nutzen erschiene es sogar gerechtfertigt, regelmäßiges Feedback zum verpflichtendem Bestandteil eines DMPs zu machen. Dies wäre ein Eingriff in die Freiheit der Patienten, der jedoch vertretbar erscheint, sofern sie das Feedback ohne Sanktionen ignorieren können.
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Erinnerungen
Systematische Erinnerungen an Termine, Vereinbarungen und Aufgaben, verbunden mit der Aufforderung, sie einzuhalten, sind im beruflichen und privaten Alltag weit verbreitet. Im Gesundheitswesen haben sich Erinnerungen für Patienten zur Einhaltung von Behandlungsterminen etabliert, sie können aber auch Hinweise auf vereinbarte Ziele (z. B. Gewichtsreduktion) oder Aufgaben (z. B. tägliche Übung, Diät) enthalten. Erinnerungen bringen Vereinbarungen und Vorsätze ins Gedächtnis und wirken der Trägheit, dem Vergessen und dem Aufschieben von Aufgaben von Personen entgegen. Die Wirksamkeit hängt von der Anzahl und dem Zeitpunkt der Erinnerungen ab [39].
Der Effekt von Erinnerungen wurde in einigen Studien mit Diabetespatienten untersucht. Ärztliche Hinweise auf verpasste Kontrolluntersuchungen in Kombination mit dem Angebot einer Nachholung ergaben signifikant positive Effekte [40]. Erinnerungs-SMS verbesserten die physische Aktivität und Ernährung von Patienten [41]; es konnten bisher jedoch keine signifikanten Verbesserungen des HbA1c-Wertes festgestellt werden [42].
Erinnerungen sind ethisch weitgehend unproblematisch und sollten als Standardoption in DMP-Programme integriert werden. Um unzumutbare Belästigungen zu vermeiden, sollte die am wenigsten aufdringliche Form (z. B. schriftlich statt telefonisch) und die geringste Häufigkeit der Erinnerungen gewählt werden, die eine hinreichende Wirksamkeit ermöglicht. Zudem sollte es einfache Möglichkeiten geben, sie abzustellen (opt-out).
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Schockbilder
Schockbilder sollen Patienten „wachrütteln“ und sie für mögliche schwerwiegende Folgen ihrer Erkrankung sensibilisieren. Sie könnten in Feedback-Berichten oder in Verbindung mit Erinnerungen eingesetzt werden, z. B. um Patienten auf eine anstehende Kontrolluntersuchung oder Schulung aufmerksam zu machen.[2] Einige Untersuchungen im Bereich der Primärprävention, bspw. zur Reduzierung des Konsums von Tabak oder von zuckerhaltigen Getränken, lassen vermuten, dass Schockbilder auch bei Diabetespatienten Wirkung zeigen könnten [43] [44]. Allerdings waren Erinnerungen an die Vereinbarung eines Zahnarzttermins in Kombination mit Schockbildern nicht wirksamer als neutrale Erinnerungen ohne Bilder [45].
Im Idealfall können Schockbilder bei Patienten einen Vorsatz zu besserem Verhalten auslösen oder bekräftigen, der im Anschluss umgesetzt wird. Jedoch ist das Schadenspotenzial beachtlich. Sie können als unangemessen aufdringlich und drastisch empfunden werden und möglicherweise bei manchen Diabetes-Patienten, bei denen ohnehin ein erhöhtes Risiko für psychische Belastungen und Erkrankungen besteht, Angst oder Panik verursachen. Dies senkt die Lebensqualität der Betroffenen, kann Unmut gegenüber dem DMP insgesamt auslösen und zu einer Schwächung statt Stärkung des Selbstmanagements führen. Daher erscheint der Einsatz von Schockbildern problematisch. Es sollten vorrangig positiv konnotierte Möglichkeiten der Förderung des Selbstmanagements von Diabetes-Patienten genutzt werden.
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Zielvereinbarungen mit Umsetzungsplänen
Zielvereinbarungen sind, insbesondere in Verbindung mit Umsetzungsplänen, ein bewährtes Instrument der Personalführung, das auch für das Selbstmanagement von Patienten eingesetzt werden kann. Arzt und Patient bestimmen gemeinsam, welche Behandlungsziele in der jeweiligen Situation erreichbar und erstrebenswert sind, und was dafür getan werden muss. Dadurch kann der Patient ein vertieftes Verständnis des Behandlungsprogramms erhalten, sich stärker mit dem Programm identifizieren, Verantwortung für die Erreichung der Ziele übernehmen und den Behandlungsverlauf anhand klarer Maßstäbe beurteilen.
Die Effektivität von Ziel- und Umsetzungsplänen konnte für Patienten mit Diabetes mellitus bereits in verschiedenen Studien aufgezeigt werden [46] [47]. So kann die Aufstellung eines personalisierten Wochenplans nachweislich zu einer besseren Kontrolle des Blutzuckerspiegels beitragen [46].
Ziel- und Umsetzungspläne erhöhen die Verbindlichkeit und die Selbstverpflichtung von Patienten zur Mitwirkung an der Behandlung und erscheinen geradezu prädestiniert für DMPs. Daher können sie nicht nur als Standardoption, sondern als Voraussetzung für die Teilnahme an einem DMP gerechtfertigt werden, auch wenn eine solche Vorgabe die Freiheit der Patienten einschränken würde.
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Verhaltensverträge
Mit Verhaltensverträgen verpflichten sich Patienten schriftlich zur Einhaltung bestimmter Vorgaben (z. B. regelmäßige Kontrolluntersuchungen) oder zur Erreichung bestimmter Ziele (z. B. HbA1c-Werte), um damit ihren eigenen Vorsätzen mehr Verbindlichkeit zu verleihen. Die Verträge können mit Kautionszahlungen oder finanziellen Boni für die Erreichung der Ziele verbunden sein.
Bei Studien zur Reduktion von Körpergewicht hatten Probanden mit einem Verhaltensvertrag signifikant bessere Ergebnisse [48] [49]. Für das Krankheitsbild Diabetes mellitus fehlt es noch an belastbarer Evidenz.
Da sowohl die psychologische als auch die finanzielle Eingriffstiefe solcher Selbstverpflichtungen hoch sein kann, können sie nur als explizit freiwillige Maßnahme nach ausführlicher Beratung gerechtfertigt werden. Die Patienten müssen einschätzen, ob die vertraglichen Ziele für sie realistisch sind und ob die Selbstbindung sie positiv motiviert oder eher hemmt. Unter diesen Bedingungen sind Verhaltensverträge vielversprechende Angebote an die Patienten, ihre Motivation und Selbstkontrolle durch selbstbindende Maßnahmen zu stärken.
Grundlegende Kriterien |
Spezifizierte Kriterien |
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Nutzen für die Zielgruppe |
Verbesserung des Selbstmanagements von Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 in DMPs, u. a. durch
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Schäden und Belastungen |
Beeinträchtigung des psychischen Wohlergehens
Nachteilige Auswirkungen auf das Patientenverhalten
Soziale Schäden und Belastungen
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Auswirkungen auf die Autonomie |
Einschränkung der Selbstbestimmung
Verletzung von Persönlichkeitsrechten
Förderung der Selbstbestimmung
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Auswirkungen auf die Gerechtigkeit |
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Effizienz |
Kosten der Nudge-Interventionen im Vergleich zu ihrem Nutzen oder ihrer Wirksamkeit |
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Einbindung des sozialen Umfeldes
Die Einbindung von Partnern in Schulungen und Behandlungen kann einen positiven Effekt auf das Verhalten von Diabetespatienten haben und z. B. die metabolische Kontrolle, Einhaltung von Ernährungsrichtlinien und regelmäßige Bewegung verbessern, sofern beide Partner dies befürworten [50] [51]. Auch die Einbindung von anderen Patienten in Form von gemeinsamen Untersuchungsterminen, Erfahrungsaustauschen und Peer-Mentoring kann die glykämische Kontrolle von Diabetes-Patienten verbessern [52] [53].
Da die Einbindung anderer Personen in die Privatsphäre der Patienten eingreift und Auswirkungen auf ihre Beziehungen haben kann, ist sie nur als eine (doppelte) Opt-in Option akzeptabel. Nicht alle Patienten sind offen für soziale Kontrolle und nicht alle Angehörigen und Peers möchten soziale Kontrolle und Unterstützung ausüben. Daher erscheint es wichtig, die Beteiligten vorab gut über ihre Rollen sowie über die Chancen aber auch Risiken der Einbindung des sozialen Umfeldes zu informieren, damit sie eine reflektierte Entscheidung treffen können, ob eine solche Maßnahme für sie geeignet wäre.
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Fazit
Nudging bietet ein weites Feld gezielter Interventionen zur Förderung des Selbstmanagements von Patienten mit chronischen Erkrankungen, dessen Potenzial bislang noch zu wenig erschlossen wurde. Die vorliegende Untersuchung untersucht auf Grundlage einer narrativen Literaturübersicht und eines allgemeinen ethischen Bewertungsrahmens die bisherige Evidenz zur Wirksamkeit sowie zur ethischen Zulässigkeit verschiedene Nudges, die innerhalb von DMPs für Patienten mit Typ-2-Diabetes zur Verbesserung ihres Selbstmanagements angewendet werden könnten. Sie kann nicht mehr leisten, als die ethisch-normative Anfangsplausibilität zu prüfen und die vereinzelt vorliegende empirische Evidenz zu den Effekten der Nudges zu bündeln.
Im Gesundheitswesen sind Nudges vielfach verpönt als Instrumente zur manipulativen Beeinflussung von Patienten. Dies übersieht jedoch die Möglichkeit, Nudges offen anzubieten und es den Patienten zu überlassen, ob sie die Angebote zur Stärkung ihrer eigenen Verhaltenskontrolle nutzen möchten. Solche Instrumente gefährden nicht die Autonomie der Patienten, sondern können sie stärken. Aufgrund ihres Einflusses auf die Impulssteuerung und spontane Aktivierung der rationalen Selbstkontrolle können sie wichtige Ergänzungen zu klassischen Public Health-Instrumenten darstellen.
Ethisch weitgehend unproblematisch und in ihrer Wirksamkeit bereits relativ gut belegt erscheinen Nudges, die eine stärkere Einbindung von Patienten in die Planung, Vereinbarung, Kommunikation und Durchführung der Behandlungen beinhalten. Dazu gehören Zielvereinbarungen, Umsetzungspläne, Verhaltensverträge, Erinnerungen und Feedback. Auch für die Einbindung anderer Patienten durch Sammeltermine oder Peer-Mentoring bestehen erste Hinweise auf Wirksamkeit sowie relativ unproblematische ethische Voraussetzungen. Widerspruchslösungen (z. B. automatische Einschreibung zu Patientenschulungen), soziale Kontrolle durch Einbindung der Lebenspartner und soziale und emotionale Konfrontationen mit Normen und Schockbildern können ebenfalls wirksam sein, greifen jedoch tiefer in die Freiheit, Privatsphäre und das Wohlergehen der Patienten ein und sind daher ethisch problematischer und voraussetzungsreicher. Die Evidenzlage ist insbesondere bei Maßnahmen zur sozialen Unterstützung durch Angehörige und Peers noch unzureichend.
Auf der Grundlage der Ergebnisse dieser Untersuchung empfehlen wir im Kontext des deutschen Gesundheitswesens die Testung einzelner Nudges im Rahmen von strukturierten Behandlungsprogrammen. Für die Praxis bietet es sich an, Nudges in Pilotstudien – bspw. mit einem Stepped-Wedge-Design, bei dem zunächst alle Studienteilnehmer unter Kontrollbedingungen beobachtet werden und die Intervention dann stufenweise jeweils zufällig und zeitlich versetzt stattfindet [54] – auf ihre Akzeptanz, Wirksamkeit, Nutzen- und Schadenspotenziale sowie Kosteneffektivität bzw. Kostenwirksamkeit zu evaluieren. Einzelne Nudging-Elemente sollten nicht nur für sich, sondern auch im Zusammenhang mit möglichen weiteren Nudges und darüber hinausgehenden verhaltensökonomischen Interventionen (z. B. Regulierungen, finanzielle Anreize) aus ethischer Sicht bewertet werden. Auch sollte die empirische Evidenz verschiedener Nudges in Bezug auf ihre Wirksamkeit und ihre Kosten verbessert und differenziert werden, v. a. in Bezug auf verschiedene Parameter der Intervention (z. B. Häufigkeit und Dauer), verschiedene Patientenpopulationen sowie auf das Zusammenspiel mehrerer Nudge-Elemente.
Die systematische Prüfung, welche Nudges im Zusammenspiel mit welchen Stellschrauben der Intervention bei welchen Patienten akzeptabel und effizient sind, wäre eine wichtige Aufgabe zur Förderung des Selbstmanagements von Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2. Auch wenn die Ergebnisse dieser Untersuchung nicht unmittelbar auf andere Kontexte wie beispielsweise staatlichen Anreizen zur Förderung der Impfbereitschaft in der Bevölkerung übertragen werden können, bieten sie methodische Anhaltspunkte und inhaltliche Anregungen für entsprechende Studien in anderen Public Health Kontexten.
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Interessenkonflikt
Die Autorinnen/Autoren geben an, in keinem Interessenkonflikt zu stehen.
1 Für die Zwecke der vorliegenden Arbeit haben wir uns auf die inhaltlichen Bewertungskriterien von Marckmann et al. [24] beschränkt. Die prozeduralen Kriterien dieses Ansatzes für die ethische Bewertung von Entscheidungsfindungen und von der Etablierung von Public Health-Maßnahmen in der Praxis treffen hier nicht zu, da wir keine gesundheitspolitischen Entscheidungen bewerten, sondern nur eine inhaltliche ethische Grundlage für solche Entscheidungen vorlegen.
2 Ein eindrückliches Beispiel aus dem Bereich der Primärprävention war die Kampagne „sweet kills“ der thailändischen Diabetes-Gesellschaft (https://www.facebook.com/media/set/?set=a.1143423475717431, Besuch 10.01.22).
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23 June 2022
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