Schlüsselwörter
Parenterale Ernährung - Europäische Leitlinie - Frühgeborene - Perinatalzentrum -
Praktische Lösungen
Key words
Parenteral nutrition - European guideline - Preterm born - NICU - practical solutions
Einleitung und Ziele
Eine parenterale Ernährung bei Frühgeborenen und kranken Neugeborenen
hat zum Ziel, die Versorgung mit kritischen Nährstoffen zu
gewährleisten und ein altersentsprechendes Gedeihen sowie eine normale
neurologische Entwicklung zu ermöglichen [1]. Die parenterale Ernährung enthält Makro- und
Mikronährstoffe (Glukose, Lipide, Aminosäuren, Vitamine,
Mineralstoffe und Spurenelemente), die je nach Alter in variierender Konzentration
zugeführt werden [2]
[3]
[4]
[5]. Sie wird in der Regel bei
Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht<1500 g angewandt, da
bei ihnen eine ausschließlich enterale Nahrungszufuhr aufgrund der Unreife
des Gastrointestinaltrakts stark eingeschränkt ist beziehungsweise der
erhöhte Nährstoffbedarf allein durch die enterale Zufuhr nicht
gedeckt werden kann [1]
[3]
[5].
Aber auch schwerwiegende Erkrankungen wie eine nekrotisierende Enterokolitis, eine
Sepsis oder eine gastrointestinale Fehlbildung können eine parenterale
Ernährung bei Termingeborenen erfordern [3]
[5]
[6].
Die parenterale Ernährung ist mit gewissen Risiken verbunden, die weitgehend
minimiert werden müssen, um die bestmögliche Patientensicherheit zu
gewährleisten. Sowohl europäische als auch nationale Leitlinien
geben unter Berücksichtigung von klinischen, anwendungsbezogenen,
ernährungswissenschaftlichen und pharmazeutischen Aspekten Empfehlungen zum
gesamten Bereitstellungsprozess der parenteralen Ernährung [3]
[7].
Eine wissenschaftliche Arbeit beschrieb allerdings, dass diese Leitlinien in
fünf europäischen Ländern häufig nicht eingehalten
wurden [8], während weitere von
Behandlungsfehlern berichteten [9].
Im Rahmen eines Projektes der European Foundation for the Care of Newborn Infants
(EFCNI), der Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische
Intensivmedizin e. V. (GNPI) und des Bundesverbandes Deutscher Krankenhausapotheker
e.V. (ADKA) haben sich ExpertInnen aus dem deutschsprachigen Raum zu einem
multidisziplinären Netzwerk zusammengeschlossen und sich diesem Thema
gewidmet. Sie haben sich zum Ziel gesetzt,
-
Informationen über die Anwendung der parenteralen Ernährung
in deutschen Perinatalzentren zu erhalten und mögliche Barrieren
entlang des Bereitstellungsprozesses aufzuzeigen, und
-
die klinische Anwendung evidenzbasierter Leitlinien zu fördern sowie
Hilfestellung und Unterstützung für den praktischen Einsatz
zur Verfügung zu stellen.
Das Netzwerk wurde federführend von EFCNI, GNPI und ADKA angeleitet und von
dem Bundesverband „Das frühgeborene Kind“ e.V. und dem
Berufsverband Kinderkrankenpflege Deutschland e.V. sowie über 21 ExpertInnen
aus unterschiedlichen Bereichen der neonatologischen Patientenversorgung
unterstützt.
Methodik und Ergebnisse
Im Rahmen des Projektes wandten wir eine zweistufige Vorgehensweise an, um die
genannten Ziele zu erreichen, welche in [Abb.
1] und [Abb. 2] schematisch
dargestellt und nachfolgend beschrieben wird.
Abb. 1 Projektablauf.
Abb. 2 Ausarbeitung der Lösungsansätze und Darstellung
im Toolkit.
Online-Befragung und Barrierenanalyse
In einer ersten Arbeitssitzung diskutierten und entwarfen wir eine Online-Umfrage
([Abb. 1]), mit der Hürden in
der Bereitstellung und Anwendung der parenteralen Ernährung sowie
mögliche Barrieren hinsichtlich der Umsetzung von Leitlinienempfehlungen
erfasst wurden. Die Umfrage wurde an 186 PädiaterInnen (PÄD),
einschließlich NeonatologInnen, in deutschen Perinatalzentren der
Versorgungsstufe I und II, und 372 KrankenhausapothekerInnen (KHA) via E-Mail
verschickt. Insgesamt wurden 196 gültige Antworten in die Auswertung
inkludiert. Methodische Details und Ergebnisse der Barrierenanalyse wurden als
Originalarbeit veröffentlicht und sind nachfolgend narrativ
zusammengefasst [10]:
-
77% der PÄD und 48% der KHA gaben an, die
europäische Leitlinie anzuwenden. Gründe für ein
Abweichen von Empfehlungen waren unter anderem besondere
„klinische Fälle“ (PÄD: 92%,
KHA: 63%), sowie die fehlende Verfügbarkeit der
parenteralen Ernährung am Wochenende (PÄD: 4%,
KHA: 10%).
-
Die Herstellung der parenteralen Ernährung geschah z.T. unter
suboptimalen Hygienebedingungen; am Wochenende nahm die
Häufigkeit der Herstellung auf Station von 5% auf
14% und am Krankenbett von 0% auf 3% zu.
-
Etwa die Hälfte der Befragten verwendeten individualisierte
parenterale Ernährung, die andere Hälfte standardisierte
parenterale Ernährung. Demgegenüber empfiehlt die
europäische Leitlinie weitgehend die Verwendung von
standardisierten Lösungen [11], um die Fehleranfälligkeit und das
Kontaminationsrisiko, über die im Zusammenhang mit der
Verwendung von individualisierten Lösungen berichtet wurden, zu
reduzieren.
-
Die Adhärenz mit den Zufuhrempfehlungen für
Makronährstoffe war sehr gut, allerdings wurden die
Zufuhrempfehlungen für Lipide von 22% der PÄD
nur „teils/teils“ oder „sehr
selten“ eingehalten.
-
Die Kontrolle einiger Serumparameter zur Überwachung der
parenteralen Ernährung war unzureichend, weshalb eine umfassende
Beurteilung einer adäquaten Nährstoffzufuhr z.T. nicht
durchgeführt werden konnte.
-
Elektronische Verordnungsprogramme standen nur einem Drittel der
Befragten zur Verfügung.
-
Die Berechnung der Infusionszusammensetzung und der Laufrate wurde zum
Teil mit dem Taschenrechner oder per Kopfrechnung durchgeführt,
was verglichen mit elektronischen Berechnungen fehleranfälliger
ist [12]. Laut 10% der
Befragten fanden keine Kontrollberechnungen statt.
-
Die Verordnung wurde zum Teil handschriftlich erstellt und an die
Apotheken übergeben (3%) oder per Fax
übermittelt (19%), was die Lesbarkeit
beeinträchtigen, Abstimmungsprozesse erfordern oder zu Fehlern
in der Herstellung führen kann.
-
10% der Befragten gaben an, keine
Patientenidentitätskontrolle vor Applikation
durchzuführen.
-
Teilweise wurde die Verwendung von unzulänglichen
Desinfektionsmitteln und Hautantiseptika angegeben (z. B.
Verwendung von Alkohol als Hautantiseptikum (9%)).
-
Eltern wurden überwiegend mündlich (78%)
aufgeklärt, während sich das Netzwerk dafür
ausspricht, die Aufklärung individuell an die Situation der
Eltern anzupassen und auch eine schriftliche Aufklärung
anzubieten [10].
Ergebnisdiskussion, Lösungsansätze und Toolkit
Diese Ergebnisse haben wir innerhalb des Netzwerks in zwei digitalen
Arbeitssitzungen diskutiert und in drei Bereiche zusammengefasst ([Abb. 2]):
-
Strukturelle und organisatorische Barrieren
-
Barrieren in der klinischen Anwendung
-
Wissen um Leitlinien und Schulungen
Ziel war es, zu diesen Barrieren-Clustern gezielte
Lösungsvorschläge zu erarbeiten ([Abb. 1]), die zum einen auf den aktuellen
Leitlinien basieren beziehungsweise deren klinische Implementierung
fördern und die zum anderen in der Praxis für neonatologisches
Klinikpersonal und in Krankenhausapotheken umsetzbar sind. Aus den
Barrieren-Clustern haben wir fünf Anwendungsbereiche definiert und
dafür konkrete Lösungsansätze entwickelt ([Abb. 2]). Diese
Lösungsansätze wurden in einem interaktiven, digitalen
Werkzeugkasten für den Klinikalltag bereitgestellt und bilden das
„Herz“ des Toolkits [13].
Als Lösungen werden leitlinienbasierte Informationen,
Ratschläge, Links und Best-Practice-Ansätze in 19 Unterkapiteln
zur Verfügung gestellt. Zusätzlich helfen Erfahrungsberichte aus
einzelnen Kliniken und individuelle Expertenaussagen, welche besonders
praktische Aspekte hervorheben, der Zielgruppe bei der Überwindung der
Barrieren. Daneben stellt das Toolkit im Anhang praktische Checklisten,
Vorlagen, Handouts und Literaturempfehlungen zur Verfügung [13]. Weitere Details zu den Inhalten sind
in [Abb. 2] und [Abb. 3] zusammengefasst.
Abb. 3 Infobox mit Projektdetails und Informationen zum
Toolkit.
Ein ausgewähltes Beispiel
Anhand eines ausgewählten Beispiels werden nachfolgend die
Projektabläufe und entsprechende Ergebnisse genauer beschrieben. Eine
detaillierte Zusammenfassung zu den einzelnen Arbeitsprozessen ist in [Tab. 1] dargestellt.
Tab. 1 Zusammenfassung der Arbeitsschritte und
entsprechender Ergebnisse anhand des Beispiels
„Standardisierte vs. individualisierte parenterale
Ernährung“.
|
Ein ausgewähltes Beispiel: Standardisierte vs.
individualisierte parenterale Ernährung
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Leitlinienempfehlung
[11]
|
-
Standardisierte Lösungen sollen
gegenüber individualisierten
Lösungen bei der Mehrheit aller
Neugeborenen, inklusive sehr unreifer
Frühgeborenen, angewendet werden.
-
Individualisierte Lösungen sollen verwendet
werden, wenn der Nährstoffbedarf
über standardisierte Lösungen nicht
abgedeckt werden kann (z. B. bei sehr
kranken und instabilen Neugeborenen mit speziellem
Nährstoffbedarf).
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1. Stufe: Projektabläufe bzgl. Online-Umfrage und
Barrierenanalyse (vgl.
[Abb. 1]
)
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Arbeitsschritte
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Ergebnis
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1.
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Arbeitssitzung 1
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Abfrage: „Welche Lösung wird
für>60% der Patienten bevorzugt
verwendet?“ mit mehreren
Auswahlmöglichkeiten (keine Mehrfachantworten)
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2.
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Online-Umfrage
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Ergebnisse [10]:
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Parenterale Lösungen (>60% der
Patienten)
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n=145
|
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Standardlösung, industriell
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5%
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|
Standardlösung, Apotheke
|
47%
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Individuell, Apotheke
|
40%
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Individuell, Station
|
5%
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|
Sonstiges
|
3%
|
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3.
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Barrierenanalyse
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-
Analyse der speziellen Frage
-
Ergebnisdiskussion in Arbeitsgruppe
-
Diskussion und Identifizierung der Barriere
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Barriere:
Leitlinienempfehlung wird von>45% aller
Befragten nicht eingehalten →
Fehleranfälligkeit erhöht
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2. Stufe: Projektabläufe bzgl. Ergebnisdiskussion
und Lösungsansätze (vgl.
[Abb. 1]
)
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Arbeitsschritte
|
Ergebnis
|
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1.
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Arbeitssitzung 2 & 3
|
-
Umfassende Diskussion der Barrierenanalyse
-
Identifizierung von Barrieren-Clustern (vgl. [Abb. 2])
-
Definition von Lösungsbereichen (vgl. [Abb. 2])
-
Eingruppierung der jeweiligen Barrieren in
zutreffende Cluster
-
Festlegung der Lösungsbereiche zur
Ausarbeitung der Toolkit-Inhalte
|
-
Eingruppierung in Cluster „Barrieren in der
klinischen Anwendung“
-
Überlappung mit weiteren Clustern
-
Eingruppierung überwiegend in
Lösungsbereich „Verordnung und
Herstellung“
-
Weitere Inhalte in Lösungsbereich
strukturelle und organisatorische Standards
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2.
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Ausarbeitung von Lösungsvorschlägen
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-
Ausarbeitung der Toolkit-Inhalte in kleineren
Arbeitsgruppen
-
Überprüfung, Review und Korrektur des
gesamten Expertennetzwerks
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Inhalte Toolkit:
-
Überblick über die
Leitlinienempfehlung, vereinfacht dargestellt,
Übersetzung ins Deutsche
-
Vor- und Nachteile beider Lösungsarten,
Möglichkeiten und Grenzen als Hilfe zur
Entscheidungsfindung für die angemessenen
Lösung
-
Beschreibung von Maßnahmen wie mit
standardisierten Lösungen eine Versorgung
nach individuellem Bedarf ermöglicht werden
kann, Verweis auf ein Best-Practice-Beispiel aus
Australien
-
Ideen und Beispiele warum die Verwendung von
standardisierten Lösungen die Bereitstellung
am Wochenende häufig vereinfacht
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3.
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Toolkit [13]
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-
Grafische Ausarbeitung der erarbeiteten Inhalte
-
Verlinkungen und Querverweise
-
Listen und Handouts im Anhang
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Wie die Online-Umfrage zeigte, wird individualisierte parenterale
Ernährung beinahe so häufig wie standardisierte parenterale
Ernährung verwendet, obwohl die europäische Leitlinie die
Verwendung von standardisierten Nährstofflösungen zur
Reduzierung der Fehleranfälligkeit empfiehlt [11]. Dieses Ergebnis wiesen wir dem Cluster
2) „Barrieren in der klinischen Anwendung“ zu und diskutierten
Überlappungen mit den beiden übrigen Clustern. Konkrete
Lösungen werden nun vor allem in dem Bereich Verordnung und Herstellung
durch folgende Inhalte geliefert:
-
Informationen über die Vor- und Nachteile, Möglichkeiten
und Grenzen beider Lösungsarten zur Entscheidungsfindung, wann
welche parenterale Ernährung verwendet werden sollte
-
Überblick über die zugrundeliegende
Leitlinienempfehlung
-
Aufzeigen von Lösungsansätzen wie mit standardisierten
Lösungen eine Versorgung nach individuellem Bedarf
ermöglicht werden kann und Verweis auf ein
Best-Practice-Beispiel aus Australien [14]
-
Im Bereich strukturelle und organisatorische Standards:
Ratschläge, wie die Versorgung mit parenteraler
Ernährung am Wochenende gewährleistet werden kann und
warum die Verwendung von standardisierten Lösungen
gemäß der Leitlinie die Bereitstellung häufig
vereinfacht [11]
Stärken und Grenzen
Aus den Projektergebnissen geht hervor, dass Hürden und Barrieren in der
Umsetzung der europäischen Leitlinie bei der Anwendung der parenteralen
Ernährung bei Früh- und kranken Neugeborenen existieren [10], die sich auf die Qualität und
Sicherheit dieser Therapieform auswirken können. Mit dem beschriebenen
Toolkit erarbeiteten wir als interdisziplinäres und multiprofessionelles
Expertennetzwerk Lösungen für die Praxis, die auf
Leitlinienempfehlungen basieren und um persönliche Erfahrungen
ergänzt wurden. Damit steht ein anwendungsorientierter Werkzeugkasten zur
Verfügung, der mit Beispielen, Ratschlägen und Vorlagen auf
neonatologischen Intensivstationen und Krankenhausapotheken zur Reflexion und ggf.
Anpassung der Routineprozesse anregen soll. Allerdings wurde der verwendete
Fragebogen zur Erfassung der Barrieren nicht validiert. Es bleibt ungeklärt,
inwiefern die vorliegende Stichprobe die Situation an Perinatalzentren in
Deutschland flächendeckend widerspiegelt. Die Erarbeitung der
Lösungsansätze fand nicht systematisch statt, weshalb die
Ratschläge aus dem Toolkit nicht mit evidenzbasierten Leitlinienempfehlungen
gleichzusetzen sind. Dennoch liefert es praxisorientierte
Lösungsvorschläge zur Überwindung der Barrieren. Weiterhin
sollte ein stetiger Erfahrungsaustausch zu praxisnahen
Implementierungsmaßnahmen sowie wissenschaftliche Arbeiten zur
Implementierung einer leitliniengerechten parenteralen Ernährung in der
Neonatologie gefördert und verfolgt werden.
Schlussfolgerung
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Die parenterale Ernährung bei Früh- und kranken Neugeborenen
ist eine kritische Therapieform, die ein hohes Maß an
Therapiesicherheit erfordert
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Eine Online-Umfrage weist auf Hürden und Barrieren in der Umsetzung
der europäischen Leitlinie bei der klinischen Anwendung in deutschen
Perinatalzentren hin
-
Ein multidisziplinäres Expertennetzwerk stellt praktische
Lösungsansätze in einem digitalen Toolkit zur
Verfügung