Menschen sind soziale Wesen. Die menschliche Entwicklung ist zwingend an den sozialen
Kontext gebunden. Die Relevanz sozialen Eingebundenseins wird besonders in der aktuellen
COVID-19-Pandemie deutlich. Die notwendigen Maßnahmen des Gesundheitsschutzes, wie
z. B. die Einschränkung sozialer Kontakte, führen zu vermehrter Einsamkeit. Wahrscheinlich
waren noch nie so viele Menschen in Deutschland einsam. Daten der NAKO-Gesundheitsstudie
zeigten auf der Grundlage von über 100 000 Befragten, dass 31,7 % der Deutschen im
Mai 2020 einsam waren, insbesondere Frauen und junge Menschen [1].
Einsamkeit und soziale Isolation
Einsamkeit und soziale Isolation
Soziale Isolation und Einsamkeit werden oft im selben Atemzug genannt, wobei die soziale
Isolation eher ein objektives Maß darstellt und den geringeren Umfang des sozialen
Netzwerks anzeigt. Einsamkeit ist eher eine subjektive Sicht und reflektiert das Erleben
der Menschen, das Bewerten einer Situation: Einsamkeit entsteht dabei aus einer gefühlten
Diskrepanz zwischen tatsächlichem vs. gewünschtem In-Gesellschaft-Sein. Natürlich
sind soziale Isolation und Einsamkeit korreliert, wobei die soziale Isolation eher
ein Prädiktor für Einsamkeit ist als umgekehrt [2]
[3]. Zur Messung sozialer Isolation werden oft unzureichende Proxy-Assessments genutzt,
wie z. B. allein leben oder das Nichtvorhandensein sozialer Aktivität, aber es stehen
auch etablierte Instrumentarien wie die Lubben-Social-Network-Scale, die Social-Isolation-Scale
oder der Social-Network-Index zur Verfügung. Ähnlich ist es bei der Einsamkeit – oft
wird diese mit einem einzigen Item erfragt, z. B. „Wie häufig fühlten Sie sich in
den letzten 4 Wochen einsam?“ Dies hat sich als verzerrungsanfällig erwiesen. Es stehen
etablierte Instrumentarien, wie UCLA-Loneliness-Scale oder die De Jong Gierveld-Scale
zur Verfügung.
Was macht einsam?
Für Einsamkeit gibt es meist keine einzelne Ursache, sondern wir haben es eher mit
einem Ursachengefüge auf verschiedenen Ebenen zu tun. Dabei gibt es Faktoren, die
eher individuell sind oder mit den engeren Beziehungskonstellationen zu tun haben,
aber auch Nachbarschaften und weitere soziale Kontexte und die ganze Gesellschaft
betreffen. Beispiele für individuelle Faktoren sind z. B. biologische Faktoren wie
genetische Ausstattungen und Fähigkeiten der sozialen Kognition, psychologische Faktoren,
Persönlichkeitsfaktoren (z. B. Offenheit für Erfahrungen, Neurotizismus) als auch
die körperliche Funktionsfähigkeit. Bei den engeren Beziehungen spielen frühe Kindheitserfahrungen
und eine daraus resultierende Bindungsfähigkeit, aber auch die soziale Kontrolle eine
Rolle. In größeren sozialen Kontexten wie Nachbarschaften und Gemeinden können Möglichkeiten
für Bildung, Gesundheitsfürsorge und Arbeit die soziale Integration fördern oder hemmen;
ebenso können bauliche Umwelten wirken. Nicht zuletzt spielen soziale und kulturelle
Normen in der Gesellschaft (fernöstliche vs. westliche Traditionen) eine wichtige
Rolle [4]. Maike Luhmann unterscheidet mehr distale und proxymale Risikofaktoren sowie allgemeine
und gruppenspezifische (z. B. Arbeitslosigkeit) und bringt in ihrem Modell auch Lebensereignisse
als Auslöser mit ein [5].
Einsamkeit in Deutschland
Einsamkeit in Deutschland
Im Folgenden werden Resultate berichtet, die sich auf die Zeit vor der aktuellen Pandemie
beziehen. Das sozioökonomische Panel, eine große bevölkerungsrepräsentative Studie
in Deutschland, zeigt, dass zwischen 5 und 10 % der Erwachsenen unter Einsamkeit leiden.
Wenn diejenigen eingeschlossen werden, die sich manchmal einsam fühlen, steigt der
Wert auf 10–15 % [6]. Eigene Ergebnisse der LIFE-Gesundheitsstudie konnten bei fast 10 000 18–69-Jährigen
zeigen, dass 12,3 % sozial isoliert waren. Interessant ist der Altersgang: soziale
Isolation steigt im Altersgang: bei den 60–69-Jährigen waren es schon 20,7 %, bei
den 70–79-Jährigen 21,7 %. Diese Situation verschlechtert sich bei den Hochaltrigen
[7]. Ergebnisse aus der AgeCoDe-AgeQualiDe-Studie zeigten (n = 942, mittleres Alter
86,4 Jahre), dass bei den über 80-Jährigen 32,3 % sozial isoliert waren [8].
Nimmt Einsamkeit zu?
In den westlichen Ländern wird eine Epidemie von sozialer Isolation und Einsamkeit
diskutiert. Dafür gäbe es gute Gründe: steigende Anzahl von Singlehaushalten, weniger
Großfamilien, steigende Scheidungsraten, geringere Geburtenraten, zerstreute soziale
Netzwerke durch Berufsmigration und Bevölkerungsalterung. Gleichwohl ist Vorsicht
geboten – es gibt keine gesicherten Hinweise, dass der relative Anteil einsamer Menschen
in den vergangenen Jahrzehnten bis zum Beginn der COVID-19-Pandemie stark zugenommen
hat. Einschränkend muss gesagt werden, dass Einsamkeit und soziale Isolation erst
seit einigen Jahren systematisch in repräsentativen Studien erfasst werden. Sehr deutlich
ist jedoch der Anstieg der Einsamkeit mit der COVID-19-Pandemie.
Macht Einsamkeit krank?
Einsamkeit macht nicht nur krank, sie tötet sogar. Holt-Lunstad et al. legten schon
2015 eine vielbeachtete Metaanalyse vor, in der sie zeigten, dass Einsamkeit und soziale
Isolation mit einer erhöhten Sterblichkeit verbunden sind [9]. Eine aktuelle Metaanalyse zur Morbidität wurde von Park et al. 2020 publiziert
[10]. Sie konnten zeigen, dass Einsamkeit mittelgroße bis große Auswirkungen auf alle
Gesundheitsfaktoren hatte, wobei die größten Auswirkungen auf die psychische Gesundheit
und das allgemeine Wohlbefinden beobachtet wurden. Gleichwohl gibt es eine umfangreiche
Literatur zu Einsamkeit und körperlichen Erkrankungen, insbesondere zum erhöhten Risiko
von koronaren Herzerkrankungen und zum Schlaganfall [11]. Wenig überraschend ist der Befund von McClelland et al., die in ihrer Metaanalyse
Einsamkeit und Suizidgedanken und suizidales Verhalten untersuchten. Sie konnten Einsamkeit
als relevanten Prädiktor für Suizidgedanken und suizidales Verhalten identifizieren;
Depression wirkte hierbei als Mediator [12]. Van As et al. publizierten jüngst ein systematisches Review auf der Grundlage von
Längsschnittstudien bei älteren Menschen. Sie konnten hier den Zusammenhang zwischen
Einsamkeit und depressiven Symptomen im Längsschnitt zeigen und betonen die temporale
Sequenz – zuerst Einsamkeit, dann Depressivität [13]. Eine Metaanalyse von Lara et al., die ebenfalls Längsschnittstudien bei älteren
Personen einschloss, konnte einen Zusammenhang von Einsamkeit mit einem erhöhten Demenzrisiko
aufzeigen [14]. Dies entspricht unseren eigenen Ergebnissen aus der Leipziger Langzeitstudie in
der Altenbevölkerung (Leila75+) [15].
Wie geht die Einsamkeit unter die Haut?
Wie geht die Einsamkeit unter die Haut?
Dafür gibt es zwei grundsätzliche Erklärungsansätze. Man geht davon aus, dass akuter
und chronischer Stress körperliche Auswirkungen mit negativen gesundheitlichen Folgen
hat. Einsamkeit selbst stellt einen enormen Stressor dar und hat einen direkten Effekt
– dies wird als Haupt-Effekt-Modell beschrieben. Andererseits weiß man, dass soziales
Eingebundensein eine Ressource ist und den Effekt von jedwedem Stress, sei es durch
Erkrankungen, kritische Lebensereignisse oder andere Faktoren, abpuffert. Diesen Erklärungsansatz
nennt man Stress-Puffer-Hypothese [10]. Viele Studien beschäftigen sich auch mit den konkreten Mechanismen. Dabei scheint
längerfristige Einsamkeit zu einer maladaptiven chronischen Stressreaktion zu führen,
die nachgelagerte Entzündungswege und ungünstiges Gesundheitsverhalten auslöst und
schließlich in negativen gesundheitlichen Folgen kulminiert. Dies ist eine vereinfachte
Darstellung, die Zusammenhänge sind komplex und teilweise bidirektional [10]. Es gibt eine Reihe von mechanistischen Studien, unter anderem auch aus der Leipziger
LIFE-Gesundheitsstudie, die z. B. die Zusammenhänge zwischen Einsamkeit und funktionellen
und strukturellen Hirnveränderungen untersuchen [16].
Was kann man gegen Einsamkeit tun?
Was kann man gegen Einsamkeit tun?
Interventionsansätze umfassen (1) das Training sozialer Fertigkeiten/sozialer Kompetenzen,
(2) die Erweiterung sozialer Unterstützung durch regelmäßige Kontaktangebote, Zuwendung
und Gesellschaft, (3) die Erweiterung von sozialen Kontaktmöglichkeiten, also für
neue Kontakte und (4) das Bearbeiten maladaptiver Kognitionen [17]. Obwohl auch neuere Übersichten vorliegen [18]
[19], wird doch oft auf diese klassische Einteilung zurückgegriffen. Mann et al. 2017,
die sich mit Interventionen gegen Einsamkeit bei psychisch Kranken beschäftigten,
erweiterten diese Einteilung, indem sie zum einen die oben genannten direkten Interventionen
aufführten, aber andererseits zusätzliche indirekte und breitere Zugänge zu Gesundheit,
Wohlbefinden und sozialer Integration ansprechen [20]. Diese indirekten Interventionen für psychische Kranke fördern die soziale Integration.
Beispiele sind dabei Anti-Armuts-Intervention, Beschäftigungsförderung (z. B. IPS),
Bildung (z. B. im Rahmen von Recovery-Colleges) oder Interventionen im Bereich Wohnen.
Mann et al. sehen diese Interventionen auf verschiedenen Ebenen angesiedelt: bei dem
einzelnen einsamen Menschen, also beim Individuum, aber auch auf der Ebene von Nachbarschaften
und Gemeinden sowie auf gesellschaftlicher Ebene [20]. Die beste Evidenz gibt es für Interventionen im Bereich sozialer Kognition. Auch
andere Ansätze, wie z. B. zum Befriending, zeitigten ermutigende Resultate [21]. Es liegt natürlich auf der Hand, dass komplexere Interventionen auf der Ebene der
Gemeinden oder gar der Gesellschaft schwerer zu evaluieren sind. Es gibt erheblichen
Forschungsbedarf.
Desiderate
Sozialpsychiater wissen es schon lange: Menschen sind soziale Wesen, die Bedeutung
des sozialen Kontextes für Gesundheit und Krankheit ist enorm. Die Public-Health-Bedeutung
von sozialer Isolation und Einsamkeit wurde in Deutschland bisher weitgehend unterschätzt.
Die COVID-19-Pandemie wirkt auch hier wie ein Brennglas, vorhandene Problemfelder
wurden verstärkt und sichtbar.
Dies kann Türen öffnen für dringend notwendige Schritte: eine programmatische Forschungsförderung
zu psychosozialen Aspekten von Gesundheit und Krankheit, eine bessere Vernetzung von
Stakeholdern zur Förderung von sozialem Eingebundensein und damit der Prävention psychischer
Störungen sowie die konsequente wissenschaftliche Evaluierung von praktischen Initiativen.
Es wird sehr deutlich, dass psychosoziale Aspekte zentrales Element eines Pandemiemonitorings
und -managements sein müssen [22]. Eine Pandemiestrategie kommt ohne Public Mental Health nicht aus.