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DOI: 10.1055/a-1744-4466
Zuhause in meinem Wohnzimmer
Bericht über die 9. Klinische Tagung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung![](https://www.thieme-connect.de/media/sexualforschung/202201/lookinside/thumbnails/10-1055-a-1744-4466-1.jpg)
Die 9. Klinische Tagung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS) stand, wie sollte es anders sein, ganz im Zeichen der Pandemie. Wir vom Fort- und Weiterbildungsausschuss (FWA) sahen uns im März 2021 vor die schwierige Aufgabe gestellt, für den September des gleichen Jahres eine Prognose bezüglich der Möglichkeiten einer Präsenzveranstaltung zu wagen. Nachdem die Workshop-Tagung im Jahr 2020 schweren Herzens verschoben werden musste und wir inzwischen mit dem „Digitalen Donnerstag“ gute Erfahrungen gesammelt hatten, entschieden wir uns für die planungssichere Variante einer Online-Tagung.
Obwohl es inzwischen viel technisches Know-how gab, war die Planung einer digitalen zweitägigen Veranstaltung eine Herausforderung. Einerseits eröffneten sich neue Möglichkeiten, da sowohl für Teilnehmende als auch für Referent:innen lange Anreisezeiten und Unterbringungen nicht mitbedacht werden mussten. Andererseits war es nicht immer einfach, eine angemessene Vorstellung von der Dynamik einer virtuellen Veranstaltung zu entwickeln. Wie könnte es gelingen, das Gefühl von Kontinuität, Gemeinschaft und Verbindlichkeit entstehen zu lassen, wenn all die wichtigen informellen Begegnungen wegfallen würden? Unterschiedlichste technische Möglichkeiten wurden gesammelt und erprobt und wieder verworfen – einerseits hatten wir Lust zum Experiment, andererseits musste an alle Beteiligten gedacht werden, die unterschiedliches Vorwissen und nicht alle dieselbe Bereitschaft zum digitalen Abenteuer mitbrachten. Schließlich entschieden wir uns, bei einem inzwischen fast allen Menschen vertrauten Format – der Zoom-Konferenz – zu bleiben und dessen Möglichkeiten, so gut es eben ging, auszuschöpfen.
Großes Glück hatten wir mit unseren Referent:innen, die ihre Workshops und Vorträge mit viel Leidenschaft engagiert und persönlich gestalteten. Nach der Begrüßung durch Tagungsleiter Guido Schneider (FWA) machte der Sexualwissenschaftler Prof. Martin Dannecker mit dem Vortrag „Sexualitäten in Zeiten von Corona“ den Auftakt. Gewohnt sprachlich fein und präzise und auf Basis neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse präsentierte er Bedenkenswertes über die Folgen von Kontaktbeschränkungen in Pandemiezeiten für die Sexualität. Im Blickpunkt standen vor allem Personengruppen, die auf den öffentlichen Begegnungsraum angewiesen sind. Dabei stellte er die aktuelle Corona-Pandemie der ebenfalls noch aktuellen, aber schon so lange andauernden HIV-Pandemie gegenüber und verglich die Auswirkungen auf diverse sexuelle Subkulturen.
Die Physiotherapeutin Karin Paschinger (Technische Universität München) ging in ihrem Workshop „Traumasensible Körpertherapie nach sexueller und körperlicher Gewalt“ einfühlsam und mit viel Praxiserfahrung auf die vielschichtigen Körperbeschwerden von sexuell traumatisierten Menschen ein und zeigte anhand von Fallbeispielen mögliche Umgangsweisen auf. Sie fokussierte dabei auf die traumasensibilisierte Körpertherapie.
Lustvoll und originell führte Dr. Dr. Stefan Nagel (Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalyse, Sozialmedizin, AMEOS Reha Klinikum Ratzeburg) in das Thema „Sexualität unter Drogen“ ein. Unter dem Titel „Alle Lust will Ewigkeit“ nahm er die Teilnehmenden mit auf eine abwechslungsreiche Reise in Kultur, Medizin und Psychoanalyse und beleuchtete den Wunsch nach und das Erlebnis von sexuellem Rausch unter Drogeneinfluss – ein gelungener Bogenschlag von Guiseppe Verdis „La Traviata“ zur wachsenden Chemsex-Szene unserer Zeit. Stefan Nagels Beitrag war informativ, dabei humorvoll, stets kritisch, aber nie stigmatisierend.
„Warum hast du denn nichts gesagt? – Über Paarkommunikation beim Sex. Wie David Schnarchs Mindmappingkonzept die Mikroanalyse der letzten sexuellen Begegnung bereichert“ – der Workshop der Autorin und psychologischen Psychotherapeutin in eigener Praxis Berit Brockhausen hatte bereits beim „Digitalen Donnerstag“ so viel Interesse geweckt, dass eine zweite Veranstaltung angeboten worden war. Auch bei der Klinischen Tagung war der Andrang groß, was die Relevanz der Konzepte vom im vorletzten Jahr verstorbenen David Schnarch ebenso belegt wie die Fähigkeit von Berit Brockhausen, die Theorie anschaulich, praxis-, erlebnisnah und klug zu vermitteln.
Die Psychologische Psychotherapeutin Laura Kürbitz (Institut für Sexualmedizin, Sexualforschung und Forensische Psychiatrie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf) nutzte in ihrem Workshop „Online kann ich sein wer ich bin. – Die Entwicklung von Geschlechtsidentität/Geschlechtsinkongruenz in einer digitalen Welt“ digitale Methoden wie Online-Umfragen, um die Teilnehmenden in die Möglichkeiten der virtuellen Welt spielerisch mitzunehmen. Mit großer Sorgfalt hatte sie in umfassender Internetrecherche und in Bezugnahme auf wissenschaftliche Erkenntnisse und klinische Erfahrung Chancen (z. B. Wissen aneignen, angstfrei in Verbindung treten) und Grenzen (z. B. realer sozialer Rückzug und Abtauchen in virtuelle Welten) von Personen ausgelotet, die sich mit Fragen der Geschlechtsidentität beschäftigen. Anhand von Fallbeispielen entwickelten sich lebhafte Diskussionen mit den Teilnehmenden.
Erlebnisorientiert war auch der Workshop von Dr. Angelika Eck (Diplompsychologin, Autorin, Einzel-, Paar- und Sexualtherapeutin in eigener Praxis) „Zwischen den Ohren und zwischen den Beinen – sexuelle Fantasien und Körperprozesse sexualtherapeutisch in Beziehung bringen“. Nach Exkursionen in die Bedeutung von Fantasien für verschiedene psychologische/psychotherapeutische Theorien ermutigte sie die Teilnehmenden zu praktischen Übungen. Mit viel Erfahrung, einer positiven und ermutigenden Grundhaltung und Feingefühl zeigte sie damit, was auch digital alles möglich ist.
Der Kommunikationswissenschaftler Dr. Richard Lemke (Dozent für Sozialwissenschaften und Führungskultur an der Polizeiakademie Niedersachsen, selbstständiger Berater und Vorstandsmitglied der DGfS) und die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und Sexualtherapeutin Dr. Eva Kada (Landeskrankenhaus-Universitätsklinikum Graz) boten den spannenden und sehr dichten Workshop „Digitale Sexualität – ein Exkurs zu individuellen Funktionen und unterschiedlichen Bedeutungen“ an. Nachdem sie eindrucksvoll unterschiedliche Dimensionen der digitalen Sexualität beschrieben hatten, schlugen sie mit der Analyse von Chatverläufen und Fallbeispielen den Bogen zur Praxis und verdeutlichten, dass nicht nur der Inhalt, sondern auch die Form der (digitalen) Kommunikation eine eigene Bedeutung hat.
Die Erfahrungsberichte aus den Seminaren zeigten, dass das Engagement der Referent:innen sich gelohnt hatte: Es gab nicht nur theoretischen Erkenntnisgewinn, sondern auch einen intensiven persönlichen Austausch – manchmal vielleicht sogar intensiver als in Präsenzveranstaltungen.
Und auch unser „bunter Abend“, der die legendären Tagungsfeste ersetzen sollte, war eine überraschend lebendige und persönliche Zusammenkunft. Tagungsleiter Guido Schneider und FWA-Mitglied Dr. Tobias Skuban-Eisler luden geheimnisvoll zu einem Raum „für Begegnung und Kulturelles“ ein. Weit über die Hälfte der insgesamt etwa 80 Tagungsteilnehmer:innen ließen sich auf dieses Wagnis ein. Die beiden Moderatoren führten durch einen wunderbaren musikalischen Abend. Es wurden gemeinsam Musikstücke gehört, die die einzelnen Teilnehmenden mit persönlichen Erfahrungen rund um Liebe und Sex verbanden. Natürlich gilt bei dieser Veranstaltung das Gleiche wie bei den Tagungsfesten in Präsenz: „What Happens In Vegas, Stays In Vegas“. Aber so viel sei verraten: Es wurde in Erinnerungen geschwelgt, getanzt, gesungen, sogar Feuerzeuge wurden geschwenkt. Für uns vom FWA war es eine große Freude, zu erleben, dass die Teilnehmenden sich auch nach Stunden vor dem Rechner kaum von der Gemeinschaft trennen wollten und dass es bis zum Schluss nicht den von uns befürchteten „digitalen Schwund“ gab.
Auch die Kleingruppen „Zuhause in unseren Wohnzimmern“, in denen alle Gelegenheit hatten, sich zum Abschluss der Tagung persönlich auszutauschen, wurden rege angenommen.
Der Bedarf an Zeit „weg vom Rechner“ zeigte sich dafür an anderer Stelle. Die virtuellen Begegnungsräume, die in den großzügig gestalteten Pausen angeboten wurden, wurden nicht genutzt – zu notwendig war es wohl, zwischendurch Abstand vom Bildschirm zu nehmen.
„Zuhause in meinem Wohnzimmer“ war der Titel der 9. Klinischen Tagung. Dieser sollte sowohl Bezug auf unsere derzeitige gesellschaftliche Lage und individuelle Situation nehmen (zurückgeworfen auf unsere eigenen vier Wände und zeitweise nur durch das Internet mit den anderen verbunden) als auch roter Faden bei unserer Themenauswahl sein. Was spielt sich ab im Bereich der Sexualität – in virtuellen Welten, in unseren Köpfen und auch abseits von realen körperlichen Begegnungen? Das Changieren zwischen den Welten von Privatheit, Rückzug und intensivem Austausch begleitete uns somit sowohl formal als auch in einigen Inhalten.
Die vielen wertschätzenden und freundlichen Rückmeldungen und die gute Atmosphäre ließen uns vom FWA zu dem Resümee kommen, dass es eine gelungene Veranstaltung war, die gerade in ihrer digitalen Version viele positive Aspekte mit sich brachte. So gab es eine erfreulich hohe Anzahl an Studierenden, die vom kostengünstigen Format profitierten. Das große Maß an Organisation im Hintergrund und Konzeptionsarbeit, um eine digitale Veranstaltung in größerem Rahmen sinnvoll zu gestalten, hatten wir vom FWA allerdings unterschätzt.
Dankbar sind wir an dieser Stelle unserem Administrator Lukas Kleikamp, der uns schon bei unseren digitalen Abenden mit viel technischer Versiertheit und ruhiger (beruhigender) Hand zur Seite stand und der mit seinem Kollegen Gabriel Ghirardini während der gesamten Veranstaltung für alle Fragen rund um den Rechner ansprechbar war. Und wir danken allen Teilnehmenden und Referierenden, die bereit waren, sich den digitalen Herausforderungen zu stellen, und die mit ihren engagierten und persönlichen Beiträgen eine so offene und freundliche Atmosphäre bei gleichzeitig hohem fachlichem Niveau ermöglichten.
Bei aller Kosten- und Zeitersparnis, bei allen digitalen Möglichkeiten, die eine Online-Tagung bietet: Die Sehnsucht nach einem „echten, realen, körperlichen“ Wiedertreffen bleibt … Vielleicht sehen wir uns ja auf der 27. Wissenschaftlichen Tagung im September 2022 in Berlin?
Publication History
Article published online:
08 March 2022
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© Georg Thieme Verlag KG
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