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DOI: 10.1055/a-1832-4771
Der Gender Orgasm Gap. Ein kritischer Forschungsüberblick zu Geschlechterdifferenzen in der Orgasmus-Häufigkeit beim Heterosex
The Gender Orgasm Gap: A Critical Research Review on Gender Differences in Orgasm Frequency during HeterosexZusammenfassung
Einleitung Seit den 1960er-Jahren wird in Wissenschaft, Frauenbewegung und breiter Öffentlichkeit darüber diskutiert, dass und warum Frauen beim Heterosex seltener Orgasmen erleben als Männer und ob und wie man diesen Gender Orgasm Gap schließen kann. Im Rahmen eines bio-psycho-sozialen Verständnisses von Sexualität werden Gender Orgasm Gaps theoretisch sehr unterschiedlich erklärt.
Forschungsziele Ziel des vorliegenden Forschungsüberblicks ist es, die bisherigen empirischen Befunde zur Größe des Gender Orgasm Gap zu berichten sowie die vorgeschlagenen Praxismaßnahmen zu seiner Überwindung zu präsentieren und kritisch zu diskutieren.
Methoden Im Zuge einer systematischen Literaturrecherche wurden n = 20 empirische Publikationen zum Gender Orgasm Gap und zusätzlich n = 16 wissenschaftliche Originalarbeiten zu seinem Abbau identifiziert und kodiert (1982–2021).
Ergebnisse Die eingeschlossenen Umfragen basieren auf Angaben von N = 49 940 Frauen und N = 48 329 Männern und zeigen, dass typischerweise 30 % bis 60 % der befragten Frauen berichten, beim Heterosex zum Orgasmus zu kommen, im Unterschied zu 70 % bis 100 % der Männer. Je nach Rahmenbedingungen des Heterosex schwankt die Größe des Gender Orgasm Gap zwischen –20 % und –72 % zuungunsten der Frauen. Die vorliegenden zehn bevölkerungsrepräsentativen Umfragen ergeben einen gewichteten mittleren Gender Orgasm Gap von –30 % [95 %iges Konfidenzintervall: –31 %; –30 %]. Die in der bisherigen Fachliteratur vorgeschlagenen Maßnahmen zum Schließen dieser Orgasmus-Lücke beziehen sich auf personale Faktoren, Beziehungsfaktoren, sexuelle Interaktionsfaktoren und gesellschaftliche Faktoren: Frauen wird empfohlen, den eigenen Orgasmus bewusster anzustreben und in der Beziehung offener über sexuelle Wünsche zu sprechen. Zudem wird Frauen und Männern geraten, mehr direkte klitorale Stimulation in den Heterosex zu integrieren und Orgasmen von Frauen gesellschaftlich zu demarginalisieren.
Schlussfolgerung Aus dem bisherigen Forschungsstand leitet sich die Notwendigkeit ab, Fragen rund um den Gender Orgasm Gap weiterhin in Wissenschaft und Praxis zu bearbeiten. Angesichts der begrenzten Erfolge der letzten Dekaden scheint es jedoch auch geboten, die bisher verfolgten Ansätze im „Kampf um Orgasmus-Gerechtigkeit“ kritisch zu hinterfragen.
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Abstract
Introduction Since the 1960 s, there has been debate in academia, the women’s movement, and the general public about the fact that women experience orgasms less frequently than men during heterosex as well as why, and additionally about if and how to close this gender orgasm gap. Within a bio-psycho-social model of sexuality, gender orgasm gaps are explained theoretically in very different ways.
Objectives The aim of this research review is to report the empirical findings to date on the size of the gender orgasm gap as well as to present and critically discuss the proposed practice measures intended to close it.
Methods In the course of a systematic literature search n = 20 empirical publications on the orgasm gap and an additional n = 16 original research papers promoting its closure were identified and coded (1982–2021).
Results The surveys included are based on the self-reports of N = 49 940 women and N = 48 329 men, and show that typically 30 % to 60 % of women report reaching orgasm during heterosex in contrast to 70 % to 100 % of men. Depending on the context of heterosex, the size of the orgasm gap varies from –20 % to –72 % to the disadvantage of women. The ten population-representative surveys presented yield a weighted mean orgasm gap of –30 % [95 % confidence interval: –31; –30]. The measures proposed in previous literature for closing the orgasm gap relate to personal factors, relationship factors, sexual interaction factors, and societal factors: Women are advised to strive more consciously for their own orgasm and to talk more openly about their sexual wishes in the relationship. In addition, women and men are advised to integrate more direct clitoral stimulation into heterosex and to demarginalize women’s orgasms socially.
Conclusion Based on the current state of research, there is a need to continue addressing issues around the gender orgasm gap in both research and practice. However, given the limited successes of recent decades, it also seems imperative to critically examine the approaches taken so far in the “battle for orgasm equality”.
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Schlüsselwörter
Feminismus - Heterosexualität - Sexuelle Bildung - sexuelle Skripte - weiblicher OrgasmusSexuelles Vergnügen (sexual pleasure) meint als Sammelbegriff die verschiedenen positiven Körperempfindungen, Gedanken und Gefühle, die mit solosexuellen und partnersexuellen Aktivitäten verbunden sind ([Goldey et al. 2016]; [Rye und Meaney 2007]). Dabei ist der Orgasmus (orgasm) eine besonders intensive Form des sexuellen Vergnügens – er gilt als Höhepunkt der sexuellen Erregung ([Frith 2015]; [Levin 2007]). Der Orgasmusreflex geht mit einem starken subjektiven Lusterleben und mit objektiv messbaren körperlichen Veränderungen einher, etwa in der Hirnaktivität, Hormonausschüttung, Genitaldurchblutung und Kontraktion des Beckenbodens sowie der Genitalmuskeln ([Hartmann 2018]). Sowohl Befragungsmethoden als auch psychophysiologische Messungen werden daher bei der Erforschung des Orgasmus eingesetzt. Die große Bedeutung des Orgasmus für Sexualforschung, Sexualpädagogik und Sexualtherapie ergibt sich dadurch, dass zum einen das Lustpotenzial des Orgasmus eine wertvolle sexuelle Ressource darstellt und zum anderen Probleme und Störungen im Orgasmus-Erleben negative Folgen haben können, etwa hinsichtlich Selbstbild, Beziehungsqualität oder Zufriedenheit mit dem Sexualleben ([Hartmann 2018]).
Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf den Orgasmus als einen Aspekt des sexuellen Vergnügens, dem die Forschung viel Aufmerksamkeit schenkt und der Menschen oft wichtig ist. Das bedeutet natürlich nicht, dass der Orgasmus mit sexuellem Vergnügen gleichgesetzt wird, denn lustvoller Sex ist auch ohne Orgasmen möglich. Weiterhin konzentriert sich der Beitrag auf Orgasmen beim Heterosex – also beim Sex zwischen Frau und Mann – als der statistisch häufigsten Form von Partnersex. Orgasmen in anderen sozialen Kontexten (z. B. beim Sex zwischen Frauen, zwischen Männern oder in gemischtgeschlechtlichen Gruppen) sind ebenfalls interessante Themen, die in ergänzenden Studien zu behandeln sind. Zugespitzt wird die vorliegende Analyse auf die Betrachtung von Geschlechterdifferenzen in der Orgasmus-Häufigkeit beim Heterosex, die in der Fachliteratur und breiten Öffentlichkeit mit dem Begriff des Gender Orgasm Gap (Orgasmus-Lücke zwischen den Geschlechtern) bezeichnet werden. Beim Gender Orgasm Gap wird – genau wie beispielsweise beim Gender Pay Gap (Einkommenslücke zwischen den Geschlechtern) – auf ein komplexes, mehrdimensionales Geschehen Bezug genommen. Denn natürlich gibt es viele unterschiedliche Ursachen dafür, warum Frauen weniger verdienen als Männer oder eben beim Heterosex weniger Orgasmen erleben. Je nachdem, für wie groß man entsprechende Gender Gaps hält und auf welche Ursachen man sie zurückführt, wird man im Sinne von Geschlechtergleichberechtigung mehr oder minder viele Veränderungsmöglichkeiten und mehr oder minder großen Veränderungsbedarf ableiten.
Hier setzt die vorliegende Arbeit an: Zunächst soll anhand einer systematischen Zusammenfassung aller verfügbaren empirischen Studien geklärt werden, wie groß der Gender Orgasm Gap beim Heterosex im Durchschnitt ist. Die vorliegende Arbeit ist die erste umfassende Forschungsübersicht zu dieser Frage. Anschließend soll die wissenschaftliche Fachliteratur daraufhin analysiert werden, welche konkreten Vorschläge zum Schließen des Gender Orgasm Gap sie unterbreitet. Abschließend werden die der Fachliteratur entnommenen Vorschläge kritisch diskutiert vor dem Hintergrund der Frage, welche Forschungsansätze und Praxismaßnahmen zukünftig hilfreich sein könnten, um einen lustvollen Heterosex zu fördern, der Frauen ebenso wie Männern die Chance gibt, erwünschte Orgasmen zu erleben.
Forschungsstand
In einem modernen bio-psycho-sozialen Verständnis von Sexualität ([Dekker 2013]; [Leavitt et al. 2021b]) wird der Orgasmus aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven untersucht, dazu gehören biologische Theorien zur Funktion des Orgasmus sowie psycho-soziale Theorien, die gesellschaftliche, soziale und psychologische Faktoren im Orgasmus-Geschehen betrachten. Biologische und psycho-soziale Theorien stehen dabei heute nur noch selten in einem Konkurrenz-, sondern vielfach in einem Ergänzungsverhältnis, wobei eine direkte interdisziplinäre Zusammenarbeit weiterhin rar ist ([Dekker 2013]).
Psycho-soziale Faktoren spielen insbesondere dann eine große Rolle, wenn es um Orgasmen beim Partnersex geht, da hier die zugrundeliegende Beziehung, Geschlechterrollen, mediale Vorbilder, Praktiken der sexuellen Interaktion sowie Inhalte der Intimkommunikation mitentscheidend sind. Fokussiert man auf Heterosex, so stellt sich die Frage, wie es speziell in diesem Kontext um die Orgasmus-Häufigkeit von Frauen und Männern bestellt ist. In aktuellen akademischen und öffentlichen Debatten zu dieser Frage sind die im Folgenden erläuterten Konzepte des Gender Orgasm Gap sowie der Orgasm Equality zentral.
Der Gender Orgasm Gap
Mit dem Gender Orgasm Gap (Orgasmus-Lücke zwischen den Geschlechtern) ist die Differenz in der Orgasmus-Häufigkeit zwischen Frauen und Männern gemeint. Diese kann für unterschiedliche Kontexte betrachtet werden, etwa für solosexuelle, gleichgeschlechtliche und gemischtgeschlechtliche sexuelle Interaktionen ([Frederick et al. 2018]). Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf die Orgasmus-Lücke beim Heterosex, für die es verschiedene – teils komplementäre, teils konkurrierende – biologische und psycho-soziale Erklärungsansätze gibt.
Biologische Erklärungen des Gender Orgasm Gap: In Wissenschaft ([Levin 2007]) und Alltagsverständnis ([Kenning 2004]) ist die Vorstellung verbreitet, dass hinsichtlich Orgasmus-Fähigkeit deutliche biologische Geschlechtsunterschiede existieren:
„One of the marked differences between men and women is the relative ease by which most men can achieve an orgasm compared to the greater difficulty for a considerable percentage of women“ ([Levin 2007]: 101).
Aus biologischer Sicht wird die Orgasmus-Fähigkeit von Männern und Frauen vor allem mit evolutionstheoretischen Ansätzen erklärt: Da der männliche Orgasmus mit der Ejakulation verknüpft und somit zur Fortpflanzung notwendig ist, habe sich stammesgeschichtlich eine robuste Orgasmus-Fähigkeit beim Mann entwickelt ([Levin 2007]). Frauen dagegen hätten eine weniger robuste Orgasmus-Fähigkeit herausgebildet, da der weibliche Orgasmus für die Fortpflanzung nicht zwingend erforderlich, wenn auch möglicherweise förderlich sei. Daraus folgt, dass aufgrund biologischer Unterschiede in der Orgasmus-Fähigkeit in diversen Kontexten Orgasmus-Lücken in der Richtung zu erwarten sind, dass die Orgasmus-Häufigkeit von Frauen tendenziell geringer als die von Männern ist, wobei jedoch große Variabilität und Veränderbarkeit angenommen werden ([Hartmann 2018]).
Zur Funktion des weiblichen Orgasmus gibt es im Wesentlichen zwei konkurrierende evolutionstheoretische Erklärungsansätze:
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Die Nebenprodukt-Theorie des weiblichen Orgasmus (byproduct theory of female orgasm) besagt, vereinfacht erklärt, dass sich die Klitoris der Frau ebenso wie die Brustwarzen des Mannes als Nebenprodukte des jeweils funktionalen Pendants beim anderen Geschlecht im Zuge einer zunächst undifferenzierten Embryonalentwicklung ergeben ([Lloyd 2001], [2005]): Auch wenn für die Fortpflanzung letztlich nur der Mann den Orgasmusreflex für die Ejakulation und nur die Frau die Brustwarzen zum Stillen braucht, werden analoge Strukturen dem anderen Geschlecht als Nebenprodukte des funktionalen Pendants mitgegeben. Diese analogen Strukturen können dann – je nach Training – bis zu einem gewissen Grad aktiviert werden, sodass Männer beispielsweise ihre Brustwarzen lustvoll spüren und Frauen einen Orgasmusreflex erleben. Da die Nebenprodukt-Theorie dem weiblichen Orgasmus keine Fortpflanzungsfunktion zuschreibt, sieht sie ihn auch nicht im Kontext des Koitus, sondern betont, dass aus dieser evolutionstheoretischen Perspektive die direkte Stimulation der äußeren Klitoris die naheliegendste – wenn man so will, die „natürlichste“ – Form der Auslösung des weiblichen Orgasmus ist ([Lloyd 2001]: 25). Das Orgasmus-Potenzial von Frauen könne mit Übung und optimaler klitoraler Stimulation immer besser ausgeschöpft werden, sodass sich Orgasmus-Lücken schließen.
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Die Anpassungs-Theorie des weiblichen Orgasmus (adaptation theory of female orgasm) dagegen geht davon aus, dass der weibliche Orgasmus einen zwar nicht notwendigen, aber immerhin förderlichen Beitrag zur Fortpflanzung leistet, wobei ganz unterschiedliche Mechanismen diskutiert werden ([Gallup et al. 2018]; [Wheatley und Puts 2015]): So wird unter anderem vermutet, dass der weibliche Orgasmus beim Koitus die Wahrscheinlichkeit der Befruchtung steigern kann, weil durch ihn Spermien in den Uterus angesaugt werden, dass Orgasmen beim Koitus es belohnen, wenn sich die Frau einen genetisch gut ausgestatteten Partner gesucht hat und/oder dass Orgasmen eine stabile Paarbindung und damit das gemeinsame Großziehen des Nachwuchses begünstigen. Da die Anpassungs-These den weiblichen Orgasmus funktional für Fortpflanzung sieht, prognostiziert sie eine größere Orgasmus-Häufigkeit, wenn sich das Sexualverhalten der Frau am biologischen Fortpflanzungsprogramm orientiert.
Psycho-soziale Erklärungen des Gender Orgasm Gap: Psycho-soziale Erklärungsansätze des Gender Orgasm Gap beim Heterosex konzentrieren sich auf das psycho-soziale Interaktionsgeschehen, das – auf der Basis der biologischen Orgasmus-Fähigkeit – in unterschiedlichem Maße zu realisierten Orgasmen beiträgt.
Demzufolge sind es in erster Linie geschlechterhierarchische Einstellungen und Verhaltensweisen, die Orgasmen von Frauen beim Heterosex im Wege stehen: Geschlechterstereotype Vorstellungen in der Bevölkerung, denen gemäß Frauen angeblich ohnehin nur sehr schwer kommen „können“ und der Orgasmus für sie auch „gar nicht so wichtig ist“, während der Mann seinen Orgasmus „braucht“ und dementsprechend geradezu „ein Anrecht“ auf ihn hat ([Klein und Conley 2021]; [Wade 2016]; [Wade et al. 2005]), erzeugen und begründen in der alltäglichen sexuellen Praxis ein patriarchales heterosexuelles Skript. Mit dem Skript ist gemäß der sexuellen Skripttheorie der Soziologen William Simon und John Gagnon (1986) ein kulturell geteiltes Drehbuch für den typischen Ablauf der sexuellen Interaktion gemeint, das auf individueller, interpersonaler und gesellschaftlicher Ebene geformt und reproduziert wird.
Das typische heterosexuelle Skript dreht sich traditionell primär um den Koitus und darum, wie die Frau am besten den Mann sexuell befriedigt ([Wade et al. 2005]). So zeigen empirische Studien unter anderem, dass Frauen beim Heterosex signifikant häufiger Oralsex geben als empfangen und dass im Allgemeinen der Sex als beendet gilt, nachdem der Mann beim Oral- oder Vaginalsex seinen Höhepunkt hatte ([Jozkowski und Satinsky 2013]). Von tradierten patriarchalen (d. h. die Interessen des Mannes bevorzugenden) kulturellen Mustern und sexuellen Skripten auszugehen, heißt gemäß sexueller Skripttheorie ([Simon und Gagnon 1986]) nicht, dass hier immer intentionale Unterdrückung oder Benachteiligung von Frauen unterstellt wird. Vielmehr geht es häufig um eingeschliffene und unhinterfragte Erwartungen und Abläufe, an denen Frauen und Männer gemeinsam partizipieren.
Gemäß dem patriarchal geprägten Skript von Heterosex wird der weibliche Orgasmus von einem Teil der Männer und Frauen letztlich wie ein anstrengendes und kompliziertes „Extra“ und kein selbstverständlicher Bestandteil der Interaktion betrachtet und empfunden ([Wade et al. 2005]). Indem man also sexuelles Vergnügen und Orgasmen von Frauen gesellschaftlich und individuell für nebensächlich oder schwer erreichbar erklärt, werden sie es gemäß der soziologischen und skripttheoretischen Auslegung des Gender Orgasm Gap faktisch dann auch:
„It’s high time we stop pretending that women are bad at orgasms. The gap between men’s and women’s frequency of orgasm is not an inevitable fact of life. It is, instead, strongly impacted by social forces that privilege men’s pleasure over women’s: an ignorance about the clitoris, a prioritization of men’s pleasure, the gendered sexy/sexual binary, and a coital imperative. Both men and women tend to internalize this logic, naturalizing and justifying the orgasm gap“ ([Wade 2016]: 234).
Die skripttheoretische Annahme, dass der Gender Orgasm Gap beim Heterosex wesentlich durch asymmetrische Geschlechterverhältnisse bedingt wird, steht im Einklang mit empirischen Studien, die zeigen, dass Frauen vor allem dann oft keinen Orgasmus erleben, wenn sie Sex mit Männern haben, während ihre Orgasmus-Häufigkeit beim Solosex und beim Sex mit anderen Frauen deutlich höher ist ([England et al. 2007]; [Laan et al. 2021]; [Mahar et al. 2020]; [Wade et al. 2005]).
Die zeitgenössischen akademischen und öffentlichen Debatten um den Gender Orgasm Gap und seine Ursachen sind dabei keineswegs neu, sondern greifen Argumente auf, die schon zu Zeiten der sogenannten sexuellen Revolution und zweiten Frauenbewegung in feministischen Kreisen vorgebracht wurden, etwa die Kritik an einem zu einseitig an männlichen Interessen orientierten und auf vaginale Penetration fixierten Skript von Heterosex. So prangerte Alice [Schwarzer (1975)] in ihrem viel beachteten Interview-Buch „Der kleine Unterschied und seine großen Folgen“ das „Sexmonopol“ der Männer an, die Frauen einen phallozentrischen Penetrationssex egoistisch aufdrängten, den diese dann überwiegend lust- und orgasmuslos über sich ergehen ließen.
In der Feststellung, dass eine heterosexuelle Interaktion, in deren Mittelpunkt traditionell die vaginale Penetration steht, den Orgasmus des Mannes begünstigt und gleichzeitig den Orgasmus der Frau verhindert oder erschwert (somit also einen Gender Orgasm Gap erzeugt), sind sich die oben zitierte prominente feministische Position der zweiten Frauenbewegung, aktuelle soziologisch-skripttheoretisch fundierte empirische Studien sowie auch die biologisch-evolutionstheoretische Nebenprodukt-Theorie des weiblichen Orgasmus somit einig.
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Die Orgasm Equality
Im Kontext eines bio-psycho-sozialen Verständnisses menschlicher Sexualität werden also interdisziplinär verschiedene Ursachen für mehr oder minder große Orgasmus-Lücken beim Heterosex angenommen. Gleichzeitig sind diese Ursachenfaktoren auch Ansatzpunkte für Veränderungen in Richtung ihrer Schließung (d. h. einer Steigerung der Orgasmus-Häufigkeit von Frauen). Insofern die Bedingungen beim Heterosex von den Beteiligten so gestaltet werden, dass Frauen systematisch weniger sexuelles Vergnügen und systematisch weniger Orgasmen erleben als Männer, kann hier eine Situation der Ungerechtigkeit festgestellt werden (orgasm injustice; [Mintz 2017]). Umgekehrt ist im Sinne der Geschlechtergleichberechtigung eine ausgeglichene und wechselseitige Gestaltung von heterosexuellen Intimbeziehungen (intimate justice; [McClelland 2010]) und sexuellen Interaktionen einschließlich erwünschten Orgasmen anzustreben, was als Orgasm Equality (Orgasmus-Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern) bezeichnet wird ([Mahar et al. 2020]).
Psycho-soziale Perspektive auf Orgasm Equality: Eine möglichst ausgeglichene Orgasmus-Bilanz beim Heterosex als Orgasm Equality (Orgasmus-Gerechtigkeit) zu etikettieren und damit den moralisch und politisch aufgeladenen Gerechtigkeits-Begriff zu nutzen, erfolgt in der Fachliteratur durchaus mit Absicht. Denn insofern vielen Frauen ihr sexuelles Vergnügen und ihre Orgasmen durchaus wichtig sind und sich Differenzen zuungunsten von Frauen durch eine entsprechende Gestaltung des Heterosex prinzipiell verringern lassen, sollen bestehende Ungerechtigkeiten eben auch als solche benannt und Veränderungsmöglichkeiten in Richtung größerer Ausgeglichenheit erforscht und umgesetzt werden ([Laan et al. 2021]; [Mahar et al. 2020]).
Einen wichtigen Anstoß für rezente wissenschaftliche und öffentliche Debatten zur Orgasm Equality leistete die US-amerikanische Sexualforscherin und -therapeutin Laurie Mintz mit ihrer Monografie „Becoming Cliterate: Why Orgasm Equality Matters – and How to Get It“ ([Mintz 2017]). Sie plädiert für gleichberechtigte heterosexuelle Verhältnisse, in denen Orgasmus-Gerechtigkeit in dem Sinne herrscht, dass Frauen genauso selbstverständlich wie Männer beim Heterosex zum Höhepunkt kommen können, weil direkte klitorale Stimulation als gleichermaßen wichtiger und zentraler Bestandteil von Heterosex betrachtet wird wie traditionell die vaginale Penetration. Damit soll die bislang vorherrschende Orgasmus-Ungerechtigkeit überwunden werden:
„Quality sex means orgasm equality. Orgasm equality means regarding clitoral stimulation and penile penetration as equal. […] We’ve never had this type of equality. We’ve never—at any point in Western history—had a time when the majority of the population valued women’s ways of reaching an orgasm as equal to a man’s. […]
It’s time to stop being so well adjusted to the injustice. Being well adjusted to orgasm injustice means not knowing enough about your clitoris. Adjusting to the injustice means going down on him and consistently getting nothing in return. Adjusting to the injustice means prioritizing his penetration-based orgasm and maybe even faking yours alongside it. Revolution comes after a long history of mistreatment. It comes from not wanting to be adjusted to the injustice any longer. It’s time for a cultural and personal orgasm revolution. It’s time to become cliterate!“ ([Mintz 2017]: 49)
Der Ruf nach Orgasmus-Gerechtigkeit wurde von Laurie Mintz – begleitend zu ihren begutachteten akademischen Fachpublikationen (z. B. [Mahar et al. 2020]; [Savoury et al. 2022]; [Warshowsky et al. 2020a], [2020b]) – selbst in die breite Öffentlichkeit getragen, etwa über ihre Kolumne im Magazin „Psychology Today“ ([Mintz 2018]) und über ihren TEDx Talk „A New Sexual Revolution for Orgasm Equality”, der auf YouTube mehr als 750 000 Views verzeichnet. Auch in der deutschsprachigen Medienlandschaft stößt das Thema aktuell auf positive Resonanz. Nicht nur feministische Initiativen wie Pink Stinks (2021) beklagen die Orgasmus-Lücke, auch die Boulevard- und Qualitätspresse in Deutschland, Österreich und der Schweiz greift das Thema auf (z. B. [Ambos 2020]; [Graber und Schaad 2021]; [Stockrahm und Büttner 2021]). Eine systematische kommunikationswissenschaftliche Analyse der öffentlichen Debatten zur Orgasmus-Lücke und Orgasmus-Gerechtigkeit steht aus.
Ebenso wenig wie die Orgasmus-Lücke beim Heterosex erst jüngst entdeckt wurde, ist die politische Forderung nach Orgasmus-Gerechtigkeit neu. Vielmehr wurde schon in den 1960er- und 1970er-Jahren entsprechende Kritik am Heterosex geübt und vor dem Hintergrund soziologischer Theorien und Befunde der sogenannte „Kampf um Orgasmus-Gerechtigkeit“ (battle for orgasm equity; [Ehrenreich et al. 1987]) begonnen.
Biologische Perspektive auf Orgasm Equality: Ein moralisch und politisch aufgeladener Begriff wie „Orgasmus-Gerechtigkeit“ mag auf den ersten Blick nicht zu einer biologischen Perspektive auf Orgasmus-Lücken passen. Hier ist im Rahmen eines bio-psycho-sozialen Modells von Sexualität ([Dekker 2013]) aber daran zu erinnern, dass auch evolutionsbiologische Theorien des weiblichen Orgasmus von Variabilität ausgehen und z. B. Verhaltensfaktoren wie die direkte klitorale Stimulation ([Lloyd 2001]) oder die passende Partnerwahl ([Gallup et al. 2018]) mit der Orgasmus-Häufigkeit verknüpfen. Insofern die psycho-sozialen Kontextfaktoren, in denen Frauen ihr biologisches Orgasmus-Potenzial umsetzen, ungerecht sind (weil z. B. der Heterosex in einer Weise gestaltet wird, die den männlichen Orgasmus viel stärker als den weiblichen Orgasmus begünstigt), ist es somit auch aus biologischer Perspektive schlüssig, das Konzept der Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit mit Blick auf faire Orgasmus-Chancen anzuwenden.
Nicht anwendbar ist das Konzept der Orgasmus-Gerechtigkeit hingegen, wenn sich das weibliche Orgasmus-Potenzial aus biologischen oder medizinischen Gründen beim Heterosex nicht entfalten kann (z. B. im Kontext von Medikamentennebenwirkungen oder klinischen Störungsbildern; [Briken et al. 2020]) oder wenn Orgasmen von der Frau nicht gewünscht und angestrebt werden.
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Aktuelle wissenschaftliche Übersichtsarbeiten
Ein aktueller Forschungsüberblick zeigt auf der Basis von n = 76 eingeschlossenen Studien der letzten Dekade (2010–2020) verschiedene psychosoziale und Verhaltensfaktoren auf, die mit dem sexuellen Vergnügen von Frauen in Verbindung stehen ([Reis et al. 2021]). Dabei wird eine weiterhin deutliche Lust-Lücke (sexual pleasure gap) zuungunsten der Frauen beklagt, allerdings ohne das Ausmaß der damit verbundenen Orgasmus-Lücke zu quantifizieren. Ein aktueller Forschungsüberblick speziell zur Orgasmus-Lücke beim Heterosex bezieht n = 6 empirische Studien aus drei Jahren (2017–2019) ein und beziffert den Gender Orgasm Gap auf –20 % ([Jones et al. 2018]) bis –50 % ([Piemonte et al. 2019]) zuungunsten der Frauen, ohne die einzelnen Orgasmus-Lücken zusammenzufassen ([Mahar et al. 2020]).
Ein programmatischer theoretischer Überblicksbeitrag im „International Journal of Sexual Health“ ([Laan et al. 2021]) betont auf der Basis eines bio-psycho-sozialen Verständnisses von Sexualität, dass Frauen im Prinzip eine mit Männern vergleichbare (in puncto multiple Orgasmen sogar überlegene) Kapazität zu Lusterleben und Orgasmen haben. Somit sollen reale Orgasmus-Lücken nicht als biologisch festgeschrieben angesehen, sondern Männer und Frauen ermutigt werden, sie mit vereinten Kräften durch eine gerechtere Gestaltung heterosexueller Interaktionen zu überwinden:
„Together, women and men can practice a new definition of ‘sex’“ ([Laan et al. 2021]: 15).
Ungerechte und unnötige Orgasmus-Lücken beim Heterosex zugunsten der sexuellen Lust von Frauen zu schließen, würde nicht nur dem Wohlbefinden und der Beziehungsqualität zugutekommen, sondern könnte – wie neuerdings diskutiert wird – möglicherweise auch einen positiven Einfluss auf das sexuelle Verlangen von Frauen haben ([Klein and Conley 2021]; [Peragine et al. 2022]).
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Forschungsziel
Vor dem Hintergrund des bisherigen Forschungsstandes ist es Ziel des vorliegenden systematischen Forschungsüberblicks, zwei Forschungsfragen zu beantworten:
F1: Wie groß ist im Durchschnitt der Gender Orgasm Gap beim Heterosex gemäß bisherigem Forschungsstand?
F2: Wie lässt sich Orgasm Equality beim Heterosex gemäß bisherigem Forschungsstand fördern?
Der präsentierte Forschungsstand wird abschließend kritisch diskutiert mit Blick auf eine wirkungsvolle Förderung von lustvollem Heterosex mit fairen Orgasmus-Chancen für Frauen und Männer.
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Methode
Bei der vorliegenden Forschungssynthese handelt es sich um ein systematisches Review entsprechend dem PRISMA-Framework (PRISMA = Preferred Reporting Items for Systematic Reviews and Meta-Analyses; [Page et al. 2021a], [2021b]).
Literatursuche und Auswahl der Quellen
Zur Literatursuche wurde die umfangreichste qualitätsgeprüfte wissenschaftliche Literaturdatenbank, nämlich Scopus, verwendet, die neben vielen sozialwissenschaftlichen Quellen auch die komplette Medline/Pubmed-Datenbank beinhaltet. Um den internationalen Forschungsstand abzubilden, wurde nach englischsprachigen Quellen gesucht, ohne dabei das Zeitfenster einzuschränken. In den Titeln, Abstracts und Keywords der Publikationen wurde nach sieben einschlägigen Stichworten gesucht: „orgasm gap“, „gender gap in orgasm“, „orgasm disparity“, „pleasure gap“, „orgasm consistency“, „orgasm equity“ und „orgasm equality“. Diese Scopus-Suche erbrachte 53 Treffer im Januar 2021 (siehe [ Abb. 1 ]).
Im ersten Schritt wurden die Treffer auf Dubletten kontrolliert. Im zweiten Schritt wurden die Datenbankeinträge anhand von Titel und Abstract auf inhaltliche Relevanz geprüft, das heißt, sie mussten als Einschlusskriterien a) empirische Daten zur Orgasmus-Lücke und/oder b) Hinweise zur Herstellung von Orgasmus-Gerechtigkeit liefern. Ausgeschlossen wurden Studien, die sich nicht auf die Allgemeinbevölkerung, sondern auf klinische Gruppen beziehen (z. B. Krebspatient*innen). Das führte zu einer Auswahl von 23 inhaltlich relevanten Quellen, deren Volltexte besorgt und gesichtet wurden. Nach der Volltext-Prüfung verblieben 18 wissenschaftliche Originalarbeiten im Publikationssample. Diese Ergebnisse der Scopus-Suche wurden ergänzt durch eine manuelle Suche in den Literaturverzeichnissen der eingeschlossenen Studien sowie eine Suche in der umfassenden, aber sehr unstrukturierten wissenschaftlichen Literatur-Datenbank Google Scholar. Über diese zwei ergänzenden Suchstrategien konnten 18 weitere Studien identifiziert werden. Somit ergibt sich eine Gesamtzahl von n = 36 eingeschlossenen Studien, wobei 20 Publikationen die Orgasmus-Lücke beim Heterosex quantifizieren und 16 Studien Maßnahmen zur Förderung von Orgasmus-Gerechtigkeit behandeln, ohne aber selbst Daten speziell zur Orgasmus-Lücke zu liefern, da sie andere Aspekte des Orgasmus erfassen (siehe [ Abb. 1 ]). Alle 36 in das Review eingeschlossenen Studien sind im Literaturverzeichnis mit einem Sternchen (*) markiert.
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Literaturauswertung
Die n = 20 eingeschlossenen empirischen Publikationen zur Orgasmus-Lücke wurden gemäß ihrer Methodik (Stichprobe, Orgasmus-Messung) sowie ihren Angaben zur Häufigkeit des männlichen und weiblichen Orgasmus und zur Orgasmus-Lücke kodiert, um Forschungsfrage 1 zu beantworten (siehe [ Tab. 1 ]). Zur Beantwortung von Forschungsfrage 2 wurden alle n = 20 Publikationen zur Orgasmus-Lücke sowie zusätzlich alle n = 16 Originalarbeiten zur Orgasmus-Gerechtigkeit daraufhin kodiert, welche Vorschläge zum Schließen des Gender Orgasm Gap sie unterbreiten. Die Vorschläge wurden dabei vier Gruppen von Faktoren zugeordnet: 1. personale Faktoren, 2. Beziehungsfaktoren, 3. sexuelle Interaktionsfaktoren und 4. gesellschaftliche Faktoren. Alle Codierungen wurden von der Erstautorin vorgenommen und vom Zweitautor überprüft. Abweichungen wurden durch Diskussion ausgeräumt. Im elektronischen Anhang der vorliegenden Studie (https://osf.io/nh36e/) befinden sich zwei zusätzliche Tabellen: Eine Tabelle (▶ Anhang-Tab. 2) zur Berechnung der ungewichteten und gewichteten durchschnittlichen Orgasmus-Lücke samt Konfidenzintervallen ([Agresti und Coull 1998]; [Cooper 2010]) und eine Tabelle zur Codierung der Maßnahmen zur Herstellung von Orgasmus-Gerechtigkeit (▶ Anhang-Tab. 3).
Nr. |
Autor*innen |
N
|
N
|
Stichproben-Beschreibung (Alter, Land, Stichprobentyp) |
Orgasmus-Messung (jeweils Fragebogen-Items) |
Orgasmus-Häufigkeit in % Frauen (OHF) |
Orgasmus-Häufigkeit in % Männer (OHM) |
Orgasmus-Lücke in % (OHF–OHM) |
Anm.: |
||||||||
1 |
[Andrejek und Fetner (2019)] (1) (4) |
116 |
71 |
18–90 Jahre (M = 47) |
Orgasmus beim letzten Sex in heterosexueller (92 %) Paarbeziehung |
63 |
87 |
–24 |
2 |
[Andrejek et al. (2022)] (4) |
950 |
848 |
18–65 Jahre |
Orgasmus beim letzten heterosexuellen Geschlechtsverkehr |
62 |
86 |
–24 |
3 |
[Archer (2017)] (2) |
ca. 500 |
ca. 500 |
17–24 Jahre (Studierende) |
Sehr häufiger Orgasmus beim unverbindlichen heterosexuellen Sex unter Studierenden |
12 |
48 |
–36 |
4 |
[Armstrong et al. (2010)] (2) |
ca. 6 500 |
ca. 6 500 |
Studierende |
Orgasmus beim Sex in der festen heterosexuellen Paarbeziehung |
68 |
85 |
–17 |
5 |
[Armstrong et al. (2010)] (2) |
ca. 6 500 |
ca. 6 500 |
Studierende |
Orgasmus beim wiederholten heterosexuellen Hookup |
31 |
64 |
–33 |
6 |
[Beckmeyer et al. (2021)] (4) |
1 999 |
1 935 |
M = 20 Jahre (Studierende) |
Orgasmus beim letzten heterosexuellen (> 80 %) Partnersex |
45 |
75 |
–30 |
7 |
[Blair et al. (2018)] (3) |
288 |
106 |
18–79 Jahre |
Orgasmus beim heterosexuellen Vaginalverkehr ohne äußere klitorale Stimulation |
20–40 |
80–100 |
–60 |
8 |
2 779 |
1 550 |
Ca. 20 Jahre (Studierende) |
Orgasmus beim letzten unverbindlichen heterosexuellen Geschlechtsverkehr |
34 |
70 |
–36 |
|
9 |
[Frederick et al. (2018)] (1) (4) |
24 102 |
26 032 |
18–65 Jahre (M = 40) |
Regelmäßiger Orgasmus in heterosexueller Paarbeziehung |
65 |
95 |
–30 |
10 |
[Haavio-Mannila und Rotkirch (1997)] (3) (4) |
594 |
513 |
18–74 Jahre |
Orgasmus beim heterosexuellen Geschlechtsverkehr |
40–60 |
60–80 |
–20 |
11 |
[Haavio-Mannila und Rotkirch (1997)] (3) (4) |
1 209 |
869 |
18–74 Jahre |
Orgasmus beim heterosexuellen Geschlechtsverkehr |
40–60 |
60–80 |
–20 |
12 |
[Jones et al. (2018)] (1) (3) |
142 |
142 |
20–83 Jahre (M = 32) Paare |
Häufigkeit des Orgasmus bei Sex in heterosexueller Paarbeziehung |
60–80 |
80–100 |
–20 |
13 |
[Laumann et al. (1994)] (4) |
1 493 |
1 257 |
18–59 Jahre |
Regelmäßiger Orgasmus beim Heterosex in fester Beziehung |
29 |
75 |
–46 |
14 |
[Leavitt et al. (2021a)] (3) (4) |
1 473 |
1 473 |
17–63 Jahre (M = 30) Paare |
Häufigkeit des Orgasmus bei frisch verheirateten heterosexuellen Paaren |
60–80 |
80–100 |
–20 |
15 |
[Leonhardt et al. (2018)] (1) (4) |
1 683 |
1 683 |
18–56 Jahre (M = 28) Paare |
Regelmäßiger Orgasmus bei frisch verheirateten heterosexuellen Paaren |
49 |
87 |
–38 |
16 |
[Piemonte et al. (2019)] (1) |
1 225 |
354 |
M = 20 Jahre (Studierende) |
Orgasmus beim letzten unverbindlichen heterosexuellen Sex |
32 |
82 |
–50 |
17 |
[Richters et al. (2006)] (4) |
2 260 |
2 858 |
16–59 Jahre |
Orgasmus beim letzten heterosexuellen Partnersex |
69 |
95 |
–26 |
18 |
1 021 |
638 |
17–22 Jahre (Studierende) |
Orgasmus beim biografisch ersten Heterosex |
7 |
77 |
–70 |
|
19 |
302 |
118 |
M = 20 Jahre (Studierende) |
Orgasmus beim letzten heterosexuellen (> 95 %) Sex mit einem festen Beziehungspartner (> 75 %) im geparkten Auto |
48 |
86 |
–38 |
|
20 |
[Townes et al. (2021)] (4) (5) |
605 |
ca. 605 |
18–92 Jahre (M = 47) |
Orgasmus beim letzten heterosexuellen (92 %) Partnersex |
67 |
86 |
–19 |
21 |
657 |
226 |
M = 19 Jahre (Studierende) |
Regelmäßiger Orgasmus beim heterosexuellen Partnersex |
39 |
91 |
–52 |
|
22 |
42 |
42 |
M = 20 Jahre (Studierende) Paare |
Regelmäßiger Orgasmus in der heterosexuellen Paarbeziehung |
50 |
90 |
–40 |
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Ergebnisse
Wie groß ist der Gender Orgasm Gap beim Heterosex?
Die berichtete Orgasmus-Häufigkeit beim Heterosex lag in den eingeschlossenen Studien unter den insgesamt N = 49 940 befragten Frauen typischerweise zwischen 30 % und 60 % und unter den insgesamt N = 48 329 befragten Männern zwischen 70 % und 100 % (siehe ▶ Anhang-Tab. 2). Dabei wurde meist entweder nach dem Erleben eines Orgasmus konkret beim letzten Heterosex gefragt oder summarisch erfasst, wie oft im Allgemeinen ein Orgasmus beim Heterosex vorkommt (sog. Orgasmus-Zuverlässigkeit; orgasm consistency). Ausnahmslos alle eingeschlossenen Studien zeigen ebenso wie das frühere Review ([Mahar et al. 2020]) eine deutliche Orgasmus-Lücke zuungunsten der Frauen. Je nach Rahmenbedingungen des Heterosex schwankt die Größe des Gender Orgasm Gap zwischen –20 % bis –72 % (siehe [ Tab. 1 ]).
Über die 22 verschiedenen Umfragen in [ Tab. 1 ] hinweg ergibt sich eine ungewichtete durchschnittliche Orgasmus-Lücke von –34 %. Gewichtet man die Orgasmus-Lücken am jeweiligen Stichprobenumfang der eingeschlossenen Studien (siehe ▶ Anhang-Tab. 2), so liegt die durchschnittliche gewichtete Orgasmus-Lücke bei –31 % [95 % KI: –32 %; –31 %]. Bezieht man nur die zehn bevölkerungsrepräsentativen Studien ein, bei denen Männer und Frauen ihre Orgasmus-Häufigkeiten berichten, so ergibt sich eine ungewichtete durchschnittliche Orgasmus-Lücke von –28 % sowie eine gewichtete durchschnittliche Orgasmus-Lücke von –30 % [95 % KI: –31 %; –30 %] (für Details der Berechnungen siehe ▶ Anhang-Tab. 2).
Die vorliegenden Daten zur Orgasmus-Häufigkeit von Frauen und Männern beim Heterosex zeigen nicht nur einen relativ großen durchschnittlichen Gender Orgasm Gap von –30 % zuungunsten der Frauen, sondern auch eine deutlich größere Variabilität in der Orgasmus-Häufigkeit innerhalb der Gruppe der Frauen (von 7 % bis 80 %) im Vergleich zur Gruppe der Männer (von 48 % bis 100 %; siehe [ Tab. 1 ]). Dabei verweisen die Umfragen zur Orgasmus-Lücke vor allem auf vier Faktorenbündel, die mit der Orgasmus-Häufigkeit von Frauen beim Heterosex in Verbindung stehen, wobei jedoch kein Kausalitätsnachweis vorliegt, sondern nur Korrelationen.
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Zusammenhänge mit personalen Faktoren: Die Daten zeigen, dass mit zunehmender sexueller Erfahrung die Orgasmus-Lücke sich tendenziell schließt. Die größte Orgasmus-Lücke (–72 %) wurde dementsprechend beim biografisch ersten Heterosex festgestellt, der nur bei 7 % der befragten Frauen gegenüber 79 % der Männer einen Orgasmus beinhaltete ([Sprecher et al. 1995]).
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Zusammenhänge mit Beziehungsfaktoren: Die vorliegenden Studien deuten darauf hin, dass Frauen eher mit festen als mit unverbindlichen Partnern Orgasmen erleben. Das wird vor allem darauf zurückgeführt, dass sich Männer in einer festen Beziehung tendenziell proaktiver und kundiger um den Orgasmus ihrer Partnerinnen bemühen, während sie sich bei unverbindlichen Sexkontakten egoistischer verhalten. So zeigt die Studie von [England et al. (2007)], dass bei unverbindlichen Sextreffen unter Studierenden in den USA (hookups) Frauen ganz selbstverständlich ihre männlichen Partner durch Oralsex zum Höhepunkt bringen, aber umgekehrt kaum Oralsex erhalten, durch den sie Orgasmen erleben könnten. Zudem kann in einer festen Beziehung offener über sexuelle Wünsche gesprochen werden und eine gemeinsame Lernkurve ist eher möglich als bei flüchtigen Kontakten ([Armstrong et al. 2010]).
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Zusammenhänge mit sexuellen Interaktionsfaktoren: Relativ übereinstimmend weisen Studien zur Orgasmus-Lücke darauf hin, dass der Vaginalverkehr, der im Zentrum des traditionellen heterosexuellen Skripts steht, bei Frauen mit der geringsten Orgasmus-Häufigkeit verbunden ist. Demgegenüber erhöhen manuelle und orale Stimulation von Vulva und Klitoris, aber auch Küsse und enger Körperkontakt die Orgasmus-Häufigkeit bei Frauen. Somit sind die Praktiken der heterosexuellen Interaktion wichtige Faktoren für die Orgasmus-Häufigkeit von Frauen ([Armstrong et al. 2010]; [England et al. 2007]; [Frederick et al. 2018]).
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Zusammenhänge mit gesellschaftlichen Faktoren: Vermutet wird nicht zuletzt, dass sich im Zuge fortschreitender sexueller Liberalisierung und Sexueller Bildung die Orgasmus-Lücke schließt. Allerdings gibt es nur wenige Studien, die entsprechende historische, generationale oder nationale Vergleiche anstellen. Eine Ausnahme ist die Publikation von Elina Haavio-Mannila und Anna Rotkirch (1997), die mithilfe von zwei separaten Umfragen Finnland und Russland kontrastieren und generationenspezifisch eine etwas kleinere Orgasmus-Lücke im liberaleren Finnland feststellen.
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Wie lässt sich Orgasm Equality beim Heterosex fördern?
Die Auswertung der 36 eingeschlossenen Studien ergab, dass die von den Forschenden vorgeschlagenen Maßnahmen zum Verringern des Gender Orgasm Gap bzw. zur Förderung von Orgasm Equality sich wiederum den vier Ebenen Person, Beziehung, sexuelle Interaktion und Gesellschaft zuordnen lassen (siehe ▶ Anhang-Tab. 3):
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Maßnahmen hinsichtlich personaler Faktoren: Sie werden von 16 der 36 eingeschlossenen Publikationen vorgeschlagen. Konkret wird Frauen auf personaler Ebene empfohlen, in ihrer Sexualität eine agentische (d. h. aktiv-selbstbestimmte, zielorientierte und durchsetzungsstarke) Haltung einzunehmen und den eigenen Körper sowie die individuellen sexuellen Vorlieben so gut wie möglich kennenzulernen (z. B. durch Maßnahmen der Sexuellen Bildung und regelmäßige Masturbation; [Laan und Rellini 2011]; [Warshowsky et al. 2020a]). Diese Selbst-Exploration soll dann helfen, auch den Partnersex lustbringender zu gestalten ([Hensel et al. 2022]; [Mahar et al. 2020]; [Matsick et al. 2016]). Gerade angesichts der Tatsache, dass der weibliche Orgasmus gemäß tradiertem Skript von Heterosex oft als weniger wichtig bzw. als kompliziertes „Extra“ gilt, wird Frauen nahegelegt, den Orgasmus für sich bewusst zu priorisieren und aktiv anzustreben (orgasm goal pursuit; [Gusakova et al. 2020]), statt nur passiv darauf zu warten, ob er sich vielleicht ergibt ([Wade 2016]; [Wade et al. 2005]). Im Kontext verbesserter weiblicher Selbstbehauptung (sexual assertiveness) beim Heterosex wird auch geraten, geschlechtsrollenkonforme Zurückhaltung und Passivität sowie hemmende Scham- und Schuldgefühle durch sexuellen Stolz (sexual pride; [Lentz und Zaikman 2021]) zu ersetzen. Derartige individuelle Entwicklungen können zwar gemäß der hier zitierten Studien durch therapeutische und pädagogische Begleitung gefördert werden, erfordern aber – darauf weist die Fachliteratur immer wieder hin – gleichzeitig auch Bemühungen um einen entsprechenden gesellschaftlichen Wandel (siehe unten Punkt 4). Seltener finden sich in der Literatur Hinweise darauf, ob und wie Männer sich in ihren Einstellungen und Verhaltensweisen beim Heterosex ändern sollen. Hier geht es unter anderem um den Erwerb von Wissen über die Klitoris und ein individuelles Hinterfragen des phallozentrischen und patriarchalen Skripts von Heterosex mit seinem einseitigen Fokus auf vaginale Penetration ([Mahar et al. 2020]; [Matsick et al. 2016]; [Warshowsky et al. 2020b]).
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Maßnahmen hinsichtlich Beziehungsfaktoren: Sie werden von 11 der 36 eingeschlossenen Publikationen vorgeschlagen und spielen im Vergleich der vier Maßnahmentypen in der Literatur die geringste Rolle. Konkret werden eine vertrauensvolle Beziehung mit offener Kommunikation über sexuelle Wünsche und Bedürfnisse von Frauen und damit verbundenes gemeinsames Lernen als wichtige Faktoren zum Schließen der Orgasmus-Lücke empfohlen ([Beckmeyer et al. 2021]; [Mahar et al. 2020]; [Matsick et al. 2016]). Teilweise werden hierfür auch neue Begrifflichkeiten vorgeschlagen, um bevorzugte Stimulationstechniken in der Intimkommunikation präzise benennen zu können ([Hensel et al. 2021], [2022]). Die Fachliteratur sieht die offene Kommunikation über sexuelle Bedürfnisse in der festen Paarbeziehung als besonders erfolgversprechend an, empfiehlt Frauen aber ebenso, bei flüchtigen sexuellen Kontakten klar zu formulieren und umzusetzen, was sie für ihren Höhepunkt benötigen ([Armstrong et al. 2010]). Eine Publikation verweist darauf, dass sich gerade Frauen in Langzeitbeziehungen eher sexuell langweilen als Männer und zur Steigerung ihrer Lust und Orgasmen daher offene Beziehungsmodelle (consensual non-monogamy) auszuhandeln wären ([Matsick et al. 2016]).
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Maßnahmen hinsichtlich sexueller Interaktionsfaktoren: Sie werden von 19 der 36 eingeschlossenen Publikationen vorgeschlagen und sind somit unter den vier Typen von Maßnahmen in der Literatur dominierend. Bei den umzusetzenden Maßnahmen geht es insbesondere um mehr direkte klitorale Stimulation anstelle von, vor, während und/oder nach der vaginalen Penetration. Hierbei werden sehr vielfältige praktische Vorschläge unterbreitet. Eine Reihe von Studien werben dafür, ergänzend zur Penetration deutlich mehr und längere manuelle und/oder orale Stimulation von Vulva und äußerer Klitoris in den Heterosex zu integrieren, da diese Stimulationsformen bislang oft zu kurz kommen, für viele Frauen aber eher zum Orgasmus führen als Penetration ([Andrejek und Fetner 2019]; [Andrejek et al. 2022]; [Archer 2017]; [Blair et al. 2018]; [Frederick et al. 2018]; [Hensel et al. 2022]; [Jozkowski und Satinsky 2013]; [Matsick et al. 2016]; [Richters et al. 2006]; [Warshowsky et al. 2020a], [2020b]). Weiterhin wird empfohlen, die Penetration zu variieren, um diese lustvoller und orgasmusträchtiger für Frauen zu gestalten. Ein Ansatz dafür ist die direkte Stimulation der äußeren Klitoris während der Penetration mit Hand oder Sexspielzeug durch die Frau und/oder den Mann ([Armstrong et al. 2010]; [Blair et al. 2018]; [Hensel et al. 2021]; [Kohut und Fisher 2013]). Ein weiterer Ansatz sind bewusste Körperbewegungen der Frau während der Penetration, um dadurch die klitorale und vaginale Stimulation gezielter zu steuern ([Hensel et al. 2021]). Zudem sollen vor allem zwei Koitus-Varianten eine Stimulation der äußeren Klitoris durch Peniswurzel und Schambein des Mannes begünstigen: die Coital Alignment Technique (CAT; Abwandlung der Missionarsstellung mit gezielten Beckenbewegungen für verstärkte Stimulation von Vulva und Klitoris; [Hurlbert und Apt 1995]; [Pierce 2000]) sowie die Reiterposition (Frau sitzend auf dem Mann; [Krejčová et al. 2020]). Zwei Beiträge raten Frauen indessen vor dem Hintergrund der evolutionstheoretischen Anpassungs-Theorie des weiblichen Orgasmus, sich nicht auf klitorale, sondern auf vaginale Empfindungen zu konzentrieren, da der vaginale Orgasmus dem klitoralen überlegen sei ([Brody und Weiss 2010]; [Krejčová et al. 2020]). Eine Studie empfiehlt Achtsamkeitspraktiken (mindfulness) während des Sex, um ablenkende Gedanken zu reduzieren ([Leavitt et al. 2021a]).
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Maßnahmen hinsichtlich gesellschaftlicher Faktoren: Sie werden von 15 der 36 eingeschlossenen Publikationen vorgeschlagen. Insofern die Ursachen für die Orgasmus-Lücke in geschlechterungerechten sexuellen Rollenvorgaben und kulturell verankerten männlichen Privilegien verortet werden, muss eine ursächliche Lösung auch dort ansetzen. Dementsprechend werden eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit und auch regelrechte Kampagnen gefordert, etwa zur Bedeutung der Klitoris, zur Abschaffung sexueller Doppelmoral, zur Entstigmatisierung weiblicher Lust, zur Demarginalisierung weiblicher Orgasmen und somit zur geschlechtergerechteren Gestaltung des heterosexuellen Skripts ([Andrejek und Fetner 2019]; [Andrejek et al. 2022]; [Archer 2017]; [Beckmeyer et al. 2021]; [Frederick et al. 2018]; [Gusakova et al. 2020]; [Hensel et al. 2022]; [Jozkowski und Satinsky 2013]; [Laan und Rellini 2011]; [Lentz und Zaikman 2021]; [Mahar et al. 2020]; [Matsick et al. 2016]; [Towne 2019]; [Wade et al. 2005]).
Für die konkrete Umsetzung der empfohlenen Maßnahmen verweist die Fachliteratur auf therapeutische und pädagogische Interventionen, aber auch auf Öffentlichkeitsarbeit und Medienkampagnen.
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Diskussion
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die bisherige Forschung seit Dekaden einen deutlichen Gender Orgasm Gap beim Heterosex zuungunsten von Frauen nachweist. Anhand repräsentativer Bevölkerungsumfragen ist gemäß vorliegendem Forschungsreview im Durchschnitt von einem Gender Orgasm Gap von –30 % beim Heterosex in der westlichen Welt auszugehen. Das heißt, auf einen Orgasmus der Frau beim Heterosex kommen statistisch mehr als anderthalb Orgasmen des Mannes. Will man die Orgasmus-Lücke beim Heterosex mit anderen Gender Gaps vergleichen, die zwar auf andere Mechanismen zurückgehen, aber ebenfalls mit tradierten Geschlechterrollen in Verbindung gebracht werden, sei beispielsweise auf den Gender Pay Gap verwiesen, der in Deutschland bei –19 % liegt ([Schmieder und Wrohlich 2021]). Gender Gaps statistisch auf durchschnittliche Prozentwerte zu komprimieren hat den Vorteil, dass man griffige Ausgangswerte sowohl für wissenschaftliche Veränderungsmessungen als auch für politische Diskussionen hat. Gleichzeitig können derartige Durchschnittswerte irreführend sein, wenn sie dazu verleiten, die Komplexität der zugrundeliegenden Mechanismen zu vernachlässigen.
Die Orgasmus-Lücke beim Heterosex wird heute seltener rein biologisch erklärt, das heißt einer vermeintlich unveränderlichen weiblichen und männlichen Natur zugeschrieben, sondern stattdessen primär auf psycho-soziale Faktoren und vor allem asymmetrische private und gesellschaftliche Geschlechterverhältnisse zurückgeführt, die darüber entscheiden, wie gut sich das biologisch angelegte Orgasmus-Potenzial von Frauen entfalten kann. Dementsprechend werden recht nachdrücklich Maßnahmen zum Schließen oder zumindest Verkleinern der Orgasmus-Lücke gefordert, um Orgasmus-Gerechtigkeit zu fördern.
Die vorgeschlagenen Lösungsansätze beziehen sich auf personale Faktoren, Beziehungsfaktoren, sexuelle Interaktionsfaktoren und gesellschaftliche Faktoren. In erster Linie wird Frauen geraten, ihre eigenen Orgasmen beim Heterosex bewusst zu priorisieren und in der Paarbeziehung offen über ihre sexuellen Wünsche zu sprechen. Weiterhin werden viele Anregungen gegeben, wie bei der heterosexuellen Interaktion eine zielführendere direkte Stimulation der Klitoris integriert werden kann, etwa durch Oralsex vor oder anstelle von Penetration, Einsatz von Vibrator oder Fingern während der Penetration, Koitus-Varianten, die mit verstärkter äußerer Reibung der Klitoris einhergehen usw. Entsprechende Veränderungen des heterosexuellen Standardskripts erfordern auf gesellschaftlicher Ebene ein Hinterfragen traditioneller sexueller Geschlechterrollen, womit letztlich die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Wandels angesprochen ist. Ohne Abschaffung sexueller Doppelmoral, Entstigmatisierung weiblicher Lust und Demarginalisierung weiblicher Orgasmen, etwa durch entsprechende Rollenmodelle, mediale Vorbilder und Bildungsinhalte, sind wiederum nachhaltige individuelle Veränderungen erschwert.
Für die Arbeit in sexualmedizinischen, sexualtherapeutischen und sexualpädagogischen Kontexten können die genannten Ansätze zur Förderung von sexuellem Vergnügen und Orgasmen bei Frauen im Kontext von Heterosex Impulse geben. Fachliche Unterstützung erhalten Bestrebungen zur Orgasmus-Förderung von der Weltgesundheitsorganisation ([WHO 2022]) und dem Weltverband für sexuelle Gesundheit ([WAS 2019]), die fordern, sexuelle Lust ausdrücklich als Bestandteil Sexueller Gesundheit, Sexueller Bildung und Sexueller Rechte zu verankern. Zwar darf sexuelle Lust nicht auf Orgasmen verkürzt werden, aber Orgasmen von Frauen sollten in den Debatten um sexuelles Vergnügen auch nicht vernachlässigt werden.
Methodische und inhaltliche Limitationen
Die vorliegende Übersichtsarbeit ist mit mehreren Limitationen verbunden. Der Fokus auf englischsprachige Fachliteratur bringt es mit sich, dass Studien aus der westlichen Welt im Literatursample dominieren. Offen bleiben somit Fragen zur Orgasmus-Lücke in anderen Weltregionen und Kulturen. Die statistische Aggregierung der Orgasmus-Lücken über Mittelwerte und Konfidenzintervalle folgt einem gebräuchlichen Vorgehen in Forschungsreviews zu Häufigkeiten (z. B. [Pizzol et al. 2021]; [Santos Gonçalves et al. 2022]), könnte aber durch differenziertere statistische Analysen ergänzt werden. Weiterhin ist zu konstatieren, dass die bisherige Literatur zur Orgasmus-Lücke sich auf cis-geschlechtliche Frauen beschränkt und Aussagen über trans Frauen somit (noch) nicht möglich sind ([Hamm und Nieder 2021]). Was den bisherigen Kenntnisstand über den Gender Orgasm Gap beim Heterosex einschränkt, ist weiterhin die Erfassung der Orgasmus-Häufigkeit mittels nicht-validierter Einzelfragen. Darüber hinaus berichten viele der eingeschlossenen 20 Studien Orgasmus-Häufigkeiten in sehr unterschiedlichen Kontexten und trennen dabei hetero- und homosexuelle bzw. gemischt- und gleichgeschlechtliche Interaktionen nicht immer klar. Weiterhin haben die meisten Studien zur Orgasmus-Lücke und Orgasmus-Gerechtigkeit rein korrelativen Charakter. Insofern bleiben die genauen Kausalmechanismen, die zum Aufbau oder Abbau von Orgasmus-Lücken in unterschiedlichen Kontexten von Heterosex führen, vielfach noch offen.
Zu beachten ist weiterhin, dass die wissenschaftliche Fachliteratur und auch die feministische Literatur sich bis heute nicht einig sind über das Konzept des weiblichen Orgasmus. Das betrifft sowohl die Frage nach der Bedeutung biologischer sowie genetischer Ursachen für Unterschiede in der Orgasmus-Häufigkeit ([Hartmann 2018]) als auch die Frage, ob und inwiefern es sinnvoll ist, den weiblichen Orgasmus als einheitliches Phänomen zu betrachten oder aber verschiedene Orgasmus-Arten bei Frauen zu differenzieren ([King et al. 2011]). Prägend ist vielfach immer noch Sigmund Freuds (1905) wertende Unterteilung in einen „reifen“ vaginalen Orgasmus (der allein durch interne vaginale Stimulation mit dem Penis ausgelöst werden soll) und einen „unreifen“ klitoralen Orgasmus (der die direkte Stimulation der äußeren Klitoris einbezieht oder sich auf diese beschränkt). So wird der weibliche Orgasmus allein durch vaginale Penetration bis heute von Männern und Frauen nicht selten als der erstrebenswerte Normalfall betrachtet ([Bell und McClelland 2018]; [Lehmann et al. 2003]).
Evolutionstheoretische Ansätze, die der Anpassungs-Theorie des weiblichen Orgasmus folgen, gehen von einer Überlegenheit des vaginalen Orgasmus beim Lusterleben und Wohlbefinden aus (z. B. [Brody und Weiss 2010]). Andererseits wird der Unterscheidung zwischen vaginalem und klitoralem Orgasmus in feministischen und sexualwissenschaftlichen Kreisen seit Dekaden mehrheitlich widersprochen. Dabei wird – in Übereinstimmung mit der evolutionstheoretischen Nebenprodukt-Theorie des weiblichen Orgasmus – meist argumentiert, dass bei jedem Orgasmus letztlich die Klitoris beteiligt ist und es somit keine Rolle spielt, welcher Stimulationsanteil auf die inneren oder äußeren Teile der Klitoris entfällt und ob die Stimulation nun mit Zunge, Finger, Vibrator, Umschnalldildo (strap-on) oder Penis erfolgt. Entsprechende Unterteilungen und Wertungen würden ja auch beim männlichen Orgasmus nicht vorgenommen und entsprängen letztlich einer phallozentrischen Perspektive auf die weibliche Lust ([Brotto 2017]).
Ebenso gibt es nach wie vor beispielsweise Kontroversen darüber, ob der so genannte G-Punkt (G-spot) existiert und welche Rolle im Orgasmus-Geschehen er hat, ob es also beispielsweise einen spezifischen G-Punkt-Orgasmus gibt ([Vieira-Baptista et al. 2021]). Weiterhin ist offen, wie beispielsweise Berichte über Orgasmen einzuordnen sind, die rein durch mentale oder verbale Stimulation oder durch Stimulation der Brust(-warzen) ausgelöst werden ([Levin 2006]). Nicht zuletzt ist anzuerkennen, dass sich Frauen untereinander stark darin unterscheiden, wie sie ihre Orgasmen erleben und bewerten: So beschreiben beispielsweise manche Frauen ihre durch direkte klitorale Stimulation erzeugten Orgasmen beim Solosex als am intensivsten, während andere Frauen ihre Orgasmen beim Penetrationssex als am befriedigendsten empfinden und es für wieder andere Frauen beim Orgasmus-Genuss keinen nennenswerten Unterschied macht, auf welche Stimulationsform er zurückgeht ([Hoy et al. 2021]; [Salisbury und Fisher 2014]). Derartige bio-psycho-soziale Grundsatzfragen zum weiblichen Orgasmus können im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht geklärt werden. Die Hinweise auf entsprechende Limitationen zeigen auf, dass und wo es nach wie vor Forschungsbedarf gibt.
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Ausblick
Damit zukünftige Bemühungen zur Förderung von weiblicher Lust und Orgasmen beim Heterosex wirklich hilfreich sind, sollten sie zielgruppenspezifisch gestaltet, theoretisch fundiert und empirisch evaluiert werden. Weiterhin ist es empfehlenswert, die vorliegenden Ansätze im sogenannten „Kampf um Orgasmus-Gerechtigkeit“ kritisch zu hinterfragen und somit weiterzuentwickeln: Die aktuellen Debatten bringen – wie eingangs erläutert – keine grundsätzlich neuen Argumente, sondern greifen Ideen auf, die seit den 1960er-Jahren diskutiert werden. Warum hat es in den letzten Dekaden offenbar so wenige Fortschritte gegeben? Welche zukünftigen Forschungsprojekte und Praxismaßnahmen könnten fruchtbar sein? Mit sechs Denkanstößen soll der Beitrag abschließen.
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Um den angestrebten Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung voranzutreiben, könnte man damit beginnen, mediale Repräsentationen des weiblichen Orgasmus systematisch kommunikations- und sexualwissenschaftlich zu analysieren und Positivbeispiele zu sammeln ([Döring 2017]; [Fritz und Paul 2017]; [Lavie-Ajayi und Joffe 2009]; [Lemke und Tornow 2018a], [2018b]). Wo gibt es in der Medienlandschaft – vom Liebesfilm bis zum Pornoclip, vom YouTube-Video bis zur Netflix-Dokumentation – bereits positive und respektierte Rollenmodelle agentischer Sexualitäten von Frauen, die Sex mit Männern haben? Welche Medienformate repräsentieren ein vielfältiges Bild von Heterosex, das über „Penis in Vagina“ hinausgeht und weibliche Orgasmen selbstverständlich und realistisch einbezieht? Wie und wo können solche Medienformate gefördert werden?
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Wie lassen sich Biologiebücher ([Leitz und Signerski-Krieger 2018]) und Materialien der Sexuellen Bildung ([Beck und Henningsen 2018]) so gestalten, dass sie Mädchen und Frauen dazu ermutigen, ihre orgastischen Potenziale über die gesamte Lebensspanne selbstbestimmt auszuschöpfen, was auch gezieltes Lernen über die Klitoris und Üben der passenden Stimulationsformen beinhalten kann? Gleichzeitig sollten keine neuen Leistungsnormen etabliert werden. Wie kann man dem lustvollen orgasmusfreien Sex seinen berechtigten Platz einräumen, ohne das Klischee zu bestätigen, dass der Orgasmus für Frauen doch „gar nicht so wichtig“ ist? Es ist auch zu ergründen, welche Vor- und Nachteile es hat, in der Sexuellen Bildung oder im sexualpolitischen Aktivismus das Konzept der Orgasmus-Gerechtigkeit zu verwenden. Das Konzept hat eine gewisse moralische Schlagkraft, kann aber auch schnell als mechanistisches „Aufrechnen“ oder ungerechter Angriff missverstanden werden. Entscheidender als eine identische Orgasmus-Zahl ist vermutlich ohnehin eher die wahrgenommene Ausgewogenheit und Fairness hinsichtlich der Lust- und Orgasmus-Potenziale der beim Heterosex umgesetzten sexuellen Praktiken sowie des generellen Umgangs miteinander. Könnten diese Ziele vielleicht teilweise wirkungsvoller in Begriffen der Wechselseitigkeit, Fürsorge oder Großzügigkeit behandelt werden?
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Den Heterosex weniger penetrationsfixiert, vielfältiger und orgasmusträchtiger für Frauen zu gestalten, sollte – so argumentiert die Fachliteratur – nicht nur im Interesse der Frauen, sondern auch der Männer liegen. Denn sie werden dadurch schließlich von Erektions- und Leistungsdruck entlastet und haben selbst mehr Spaß ([Laan et al. 2021]). Das mag auf manche Männer und Situationen zutreffen, auf andere aber nicht. Denn wenn es stimmt, dass der Status quo des Heterosex, der zur Orgasmus-Lücke führt, maßgeblich auf ein patriarchales Skript zurückgeht, demgemäß der Mann sich beim Heterosex viel eher als die Frau „einfach bedienen lassen“ oder „sein Ding durchziehen“ kann, ist nicht damit zu rechnen, dass Veränderungsvorschläge überall auf Begeisterung stoßen. Denn hier müssten Privilegien aufgegeben, Gewohnheiten hinterfragt und auch Anstrengungen in Kauf genommen werden. Es könnte sich lohnen, das Konflikt-, Kränkungs- und möglicherweise sogar Gewaltpotenzial der Forderung nach Orgasmus-Gerechtigkeit realistischer einzuschätzen und ausdrücklich in den Maßnahmen zu berücksichtigen.
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Zu beachten ist auch, dass manche Männer nicht nur dadurch lustvollen Orgasmen ihrer Partnerinnen im Wege stehen, dass sie sich gar nicht erst um diese bemühen, sondern auch dadurch, dass sie den weiblichen Orgasmus (insbesondere den sogenannten vaginalen Orgasmus) als Trophäe ihrer Männlichkeit betrachten, mechanistisch auf ihn hinarbeiten und ihn zur Selbstbestätigung regelrecht einfordern ([Savoury et al. 2022]). Dementsprechend muss betont werden, dass das Schließen der Orgasmus-Lücke sich auf selbstbestimmte und erwünschte Orgasmen bezieht, nicht auf vorgespielte Orgasmen (fake orgasms; [Fahs 2014]) und nicht auf erzwungene Orgasmen (bad orgasms; [Chadwick et al. 2019]). Das wirft die Frage auf, wann beim Mann das wünschenswerte Interesse am Wohlergehen und Orgasmus der Partnerin in unerwünschten Druck und bloßes Mittel zur Selbstbestätigung übergeht (orgasm pressure; [Chadwick et al. 2019]). Damit verbunden stellt sich die Frage, wann bei Frauen der eigene Orgasmus nicht mehr Ausdruck von Lust, sondern eher zweckbestimmte Performance ist, etwa um das männliche Ego zu bestätigen ([Salisbury und Fisher 2014])?
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Untererforscht ist weiterhin, in welchem Maße Frauen und Männer Egalitätsnormen des beidseitigen sexuellen und orgastischen Genusses heutzutage für sich persönlich a) annehmen und b) aktiv umsetzen. Beispiele aus der sexualpädagogischen und sexualberaterischen Praxis wie männliche Jugendliche, die „Blowjobs“ mit „Schlucken“ von ihren Partnerinnen ganz selbstverständlich einfordern, aber „Lecken“ als eklig von sich weisen, oder männliche Online-Dater, die reihenweise ungewollte Genitalbilder an Frauen versenden, illustrieren, dass die Prämisse beidseitigen Genusses nicht überall handlungsleitend ist. Egalitätsnormen werden dafür typischerweise von Langzeitpaaren hochgehalten. Hier muss wiederum hinterfragt werden, inwiefern es sich teilweise auch um Egalitäts-Illusionen handelt. Die Egalitäts-Illusion ist in der soziologischen Hausarbeitsforschung gut belegt, wo eine seit Dekaden anhaltend asymmetrische Aufgabenverteilung zuungunsten der Frau von Paaren dennoch als egalitäre Aufgabenteilung beschönigt wird ([Daminger 2020]; [Trappe et al. 2009]). Auch wenn Hausarbeit und Heterosex natürlich sehr unterschiedliche Tätigkeitsfelder sind, ähneln sie sich dahingehend, dass jeweils tradierte Geschlechterrollen und männliche Vorrechte des Bedientwerdens auf moderne Egalitätsnormen treffen, wobei dann scheinbar Egalität eher behauptet als eingelöst wird. Detaillierte Daten hierzu wären dementsprechend erhellend: Der Mann, der erklärtermaßen so viel im Haushalt „hilft“, macht empirisch oft wenig. Wie viel und was genau macht der Mann, der erklärtermaßen beim Sex doch schon „alles“ für den Orgasmus seiner Partnerin tut? Zur Aufrechterhaltung von geschlechterbezogenen Egalitäts-Illusionen gehört auf individueller und gesellschaftlicher Ebene auch der Reflex, schon die Frage nach Egalität wahlweise für „verfehlt“ oder „längst überholt“ zu erklären.
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Auffällig an den zeitgenössischen Debatten zur Orgasmus-Gerechtigkeit ist die einseitige Fokussierung auf klitorale Stimulationstechniken, wobei die symbolischen Bedeutungsebenen des Sexuellen ausgeblendet bleiben und einfache Machbarkeit suggeriert wird. Aspekte der sexuellen Anziehungskraft und körperlichen Passung der Partner, aber auch emotionale Verbundenheit oder mentale Stimulation werden kaum erwähnt. Lust und Orgasmen zu priorisieren könnte mit Blick auf jene Aspekte größere Änderungen in der Lebensweise erfordern als die vorgeschlagene Integration von mehr genitaler Reibung. Müsste somit der Diskurs um Lust und Orgasmen nicht etwas grundlegender geführt werden und Partnerwahlen, Beziehungs- und Lebensmodelle mit adressieren?
Abschließend bleibt festzuhalten, dass Lust und Orgasmen beim Heterosex vor dem Hintergrund eines bio-psycho-sozialen Verständnisses von Sexualität durchaus komplizierte und teilweise sehr kontroverse Fragen für Forschung und Praxis aufwerfen. Die Daten zu Orgasmus-Häufigkeiten und Orgasmus-Lücken beim Heterosex zeigen gleichzeitig eine deutliche verhaltensbezogene Variabilität, sodass hier Veränderungsspielräume bestehen.
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Interessenkonflikt
Die Autor*innen geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Fußnote
1 Alle 36 in das Review eingeschlossenen Publikationen sind mit einem Sternchen (*) markiert.
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Literatur [ 1 ]
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Korrespondenzadresse
Publication History
Article published online:
07 June 2022
© 2022. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany
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