Schlüsselwörter
künstliche Intelligenz - Reproduktionsmedizin - Infertilität - Medizinethik - Forschungsethik
Einleitung
Die Entwicklung der künstlichen Intelligenz (KI) verläuft rasant, und KI-Anwendungen finden inzwischen einen Platz in unterschiedlichen Arbeitsfeldern, so auch in der Medizin [11]
[22]. Komplexe KI-Algorithmen können hier eingesetzt werden, um große Datenmengen mit
dem Ziel zu analysieren, Diagnosen und Prognosen sowie Präventionsmaßnahmen zu verbessern [33]. In den vergangenen Jahren hat sich
insbesondere die Analyse von Bilddaten als vielversprechendes Anwendungsfeld gezeigt, wobei zuweilen sogar von der Überlegenheit von KI gegenüber Expert*innen gesprochen wird [44]. Zudem sollen mittels KI die Effizienz der Arbeitsabläufe in der Klinik gesteigert und das Monitoring von Patient*innen verbessert werden
[55].
Auch in der Reproduktionsmedizin finden KI-basierte Methoden neue Einsatzbereiche. Personen oder Paare mit unerfülltem Kinderwunsch befinden sich oft in einer Lebenskrise, die mit einer
verringerten Lebensqualität einhergeht [66]. Folglich kann der unerfüllte Kinderwunsch als ein Hindernis für die Erfüllung des verbreiteten
Bedürfnisses nach Fortpflanzung und Sorge betrachtet werden, womit ihm eine psychoexistenzielle Dimension zukommt: existenzielle Zukunftsvorstellungen drohen nicht einzutreten [77]. Vor mehr als vierzig Jahren markierte die Geburt von Louise Brown eine neue Hoffnung für infertile Personen oder Paare, da die
Möglichkeit einer erfolgreichen Schwangerschaft durch In-vitro-Fertilisation (IVF) Realität wurde [88]. Schätzungen zufolge sind weltweit
bis zu 186 Millionen Menschen von Unfruchtbarkeit betroffen [99]. Weiterentwicklungen der Reproduktionstechnologien wie die
Kryokonservierung von Eizellen und Embryonen, die assistierte Befruchtung, genetische Präimplantationsdiagnostik (PID) und technologische Möglichkeiten der Auswahl von
Präimplantationsembryonen anhand morphokinetischer Kriterien haben die klinische Schwangerschaftsrate in den vergangenen 40 Jahren stark erhöht [1010].
Trotzdem bestehen immer noch einige Herausforderungen: Im Durchschnitt liegt derzeit in Deutschland die Wahrscheinlichkeit, nach einem frischen Embryotransfer im Rahmen einer IVF oder einer
intrazytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI) ein Kind zu gebären, bei etwa 24%; bei Verwendung von zuvor kryokonservierten und aufgetauten Vorkernstadien oder Embryonen bei 20%. Anders
ausgedrückt: Trotz erfolgreicher Befruchtung und Zellteilung führt nur jeder 4. Frischtransfer oder jeder 5. Kryotransfer zur Geburt eines Kindes [1111]. Das Alter der Eizellen der Frau mit Kinderwunsch und die Qualität der Embryonen sind die kritischsten Faktoren für den Erfolg einer IVF-Behandlung, die zu einer
Schwangerschaft führen soll [1111]
[1212]. Es fehlt an zuverlässigen Methoden, die
Qualität der Eizellen, der Spermien und der Embryonen genau zu beurteilen. Zwar gibt es die Möglichkeit einer Präimplantationsdiagnostik, bevor der Embryo in die Gebärmutter übertragen wird,
jedoch ist das Verfahren ethisch umstritten, in Deutschland rechtlich nur bedingt erlaubt, technisch komplex, kostenaufwendig und birgt die Gefahr, dass der Embryo verletzt oder zerstört wird
[1313]
[1414].
Die Antriebsfeder für die Entwicklung KI-basierter Technologien in der Reproduktionsmedizin ist der Wunsch, die Behandlung und Prognose von Unfruchtbarkeitspatient*innen dadurch zu
verbessern, dass große Datenmengen genutzt und sinnvoll verbunden werden [1414]
[1515].
An dieser Stelle knüpft unsere ethische Diskussion an. Den Betrachtungsrahmen bilden hierfür einerseits die Bedürfnisse von Personen mit einem unerfüllten Kinderwunsch, andererseits die
Anwendung spezifischer KI-Technologien als Mittel, medizinische Handlungsziele zu erreichen. Die Prinzipien des Heilens, Helfens und Linderns, die unter dem Prinzip des Wohltuns zu subsumieren
sind, bilden den ethischen Bezugspunkt [1616]. Die extrakorporale Befruchtung sowie die selektive Reproduktion (etwa nach PID) wird bis
dato kontrovers diskutiert [1717]. Die Forschung mit und die mögliche künftige Integration von KI in die klinische Versorgung werfen
komplexe normative Fragen auf, die sowohl inhaltlicher als auch verfahrenstechnischer Natur sind. Dadurch wird eine proaktive ethische Debatte erforderlich, auch wenn sich Forschung mit und
Einsatz von KI in der Reproduktionsmedizin noch in einem sehr frühen experimentellen Stadium befinden.
Vor diesem Hintergrund werden wir zunächst den Forschungs- und Entwicklungsstand überblicksartig skizzieren, um dann eine strukturierte ethische Analyse des potenziellen Einsatzes von
KI-basierten Methoden in der Reproduktionsmedizin zu entwickeln und die Auswirkungen der entsprechenden Technologien auf die Beziehung zwischen den Ärzt*innen und den Patient*innen zu
diskutieren. In einer Schlussbetrachtung zeichnen wir mögliche Entwicklungslinien einer KI-getriebenen Fortpflanzungsmedizin nach und problematisieren in einem Ausblick damit verbundene
gesellschaftliche Tendenzen.
Anwendungsmöglichkeiten der KI in der Reproduktionsmedizin
Anwendungsmöglichkeiten der KI in der Reproduktionsmedizin
In den europäischen Ländern schwanken die Schwangerschafts- und Entbindungsraten, einschließlich aller Behandlungsmöglichkeiten, erheblich von einem Land zum anderen. Die
Schwangerschaftsraten bei frischen Zyklen nach IVF oder ICSI lagen 2015 zwischen 19,6 und 44,0% und die Entbindungsraten zwischen 10,2 und 40,0%. Nach dem Transfer zuvor eingefrorener und
aufgetauter Embryonen schwankte die Entbindungsrate in den verschiedenen Ländern zwischen 12,8 und 37,5% [1818]. Die Erfolgsquoten nehmen
mit zunehmendem Alter der Frau deutlich ab [1919]. Eine von Stoop et al. durchgeführte retrospektive Analyse der Lebendgeburten nach
frischem und kryokonserviertem Embryotransfer ergab, dass der Mittelwert pro gewonnener reifer Eizelle bei 4,47% bei Frauen in einem Alter zwischen 23 und 37 lag [2020]. Somit kann davon ausgegangen werden, dass die assistierte Reproduktionsmedizin auf mehreren Ebenen noch Optimierungspotenzial aufweist.
Mit der Zuhilfenahme von KI-Systemen geht nun die Hoffnung einher, eine automatische Klassifizierung der Spermien, der Embryonen und der Eizellen zu ermöglichen und damit die Erfolgsquote der
IVF zu erhöhen [1414].
Grundlagen der KI
Künstliche Intelligenz ist hier definiert als die Verwendung komplexer Algorithmen, um logisches Denken und kognitive Funktionen nachzuahmen. Unter dem Begriff KI werden heterogene
Techniken zusammengefasst. Eine besonders erfolgreiche Anwendung ist das sogenannte maschinelle Lernen (ML). ML identifiziert Interaktionsmuster zwischen Variablen in großen Datensätzen.
Mittels ML können bisher unbekannte Zusammenhänge entdeckt, neue Hypothesen generiert und Forschungsrichtungen gebahnt werden [2121]. Die
meisten Ansätze des ML lassen sich in überwachte und unüberwachte Zugänge kategorisieren. Beim überwachten ML werden zur Modellentwicklung gelabelte Trainingsdaten verwendet, bei denen das
zu erzielende Ergebnis (z. B. eine Diagnose) bekannt ist. Im Gegensatz dazu gibt es beim unüberwachten Lernen keine gelabelten Trainingsdaten. Stattdessen werden auftretende Muster oder
Gruppierungen innerhalb der Daten erkannt [2222]. Eine Variante des ML ist das Deep Learning (DL). DL versucht, die Funktionsweise des
menschlichen Gehirns mit mehreren Ebenen künstlicher neuronaler Netze nachzuahmen, um automatische Vorhersagen aus Trainingsdatensätzen zu generieren [2121].
Trotz einiger potenzieller Fallstricke besteht ein vielversprechender klinischer Ansatz darin, Entscheidungen für Unfruchtbarkeitspatient*innen auf der Grundlage der Analyse vielfältiger
medizinischer Daten treffen zu können. Reproduktionsexpert*innen könnten eine geeignete Behandlung für die individuelle Unfruchtbarkeit durch die Einbeziehung maschineller Lernmodelle [2222] identifizieren. Im Folgenden stellen wir konkrete Ansätze vor.
Auswahl und Prädiktion der Spermazelle
Ursachen für eine (Teil-)Unfruchtbarkeit beim Mann liegen oft in der Spermienmorphologie. Derzeit werden bereits computergestützte Spermienanalysesysteme eingesetzt. Jedoch bleibt die
Analyse z. B. der Spermienmotilität aufgrund von Spermienverklumpungen und anderen Einflussfaktoren schwierig [2323]. Ferner bestehen
Unterschiede zwischen den Analysen aus unterschiedlichen Laboren. Zuletzt lässt sich bei etwa einem Drittel der Männer keine klare Ätiologie nachweisen [2424], sodass die Ursache der Infertilität mit gängigen Verfahren nicht erfasst werden kann [1414]. Automatische
Methoden auf Basis von Bildanalysen könnten zukünftig helfen, objektivere und präzisere Ergebnisse zu erhalten [1414]. Goodson et al.
etwa haben retrospektiv Daten von 425 menschlichen Spermiogrammen zur Modellentwicklung genutzt, um chromosomale Anomalien zu identifizieren. Größe, Gesamtvolumen der Hoden,
follikelstimulierendes Hormon, luteinisierendes Hormon, Gesamttestosteron und Ejakulatvolumen wurden als Input-Daten verwendet, die Vorhersage von Chromosomenanomalien erreichte auf diese
Weise mehr als 95% Genauigkeit [2525]. Mithilfe von Data-Mining-Methoden entwickelte ein Forschungsteam zudem 2 spezifische künstliche
neuronale Netze zur Vorhersage der menschlichen Spermienkonzentration und -motilität basierend auf Umweltfaktoren und dem Lebensstil der Männer [2626].
Bewertung und Auswahl von Eizellen
Eine erfolgreiche Fortpflanzung, ob spontan oder assistiert, ist in hohem Maße abhängig von der Qualität der Eizellen. Unbekannt sind jedoch die Mechanismen der Fehlentwicklung bei
Embryonen, die aus Eizellen von einer unzureichenden Qualität stammen [2727]. Yanez et al. haben versucht, das Entwicklungspotenzial
menschlicher Eizellen vorherzusagen, indem sie die viskoelastischen Eigenschaften menschlicher Zygoten wenige Stunden nach der Befruchtung gemessen haben, ohne die Zygote zu zerstören. So
konnten sie die Lebensfähigkeit und Blastozystenbildung mit einer Präzision von > 90%, einer Spezifität von 95% und einer Sensitivität von 75% zuverlässig vorhersagen. Darüber hinaus
ließen die Forscher*innen die RNA-seq-Daten mit einem support-vector-machine classifyer untersuchen und stellten fest, dass nicht lebensfähige Embryonen signifikant unterschiedliche
Transkriptome aufwiesen, insbesondere in der Expression von Genen, die für die Eizellreifung wichtig sind [2727]. Cavalera et al.
beobachteten Maus-Oozyten während ihrer In-vitro-Reifung und machten Bilder für die Zeitrafferanalyse, um dann die Daten mit einem künstlichen neuronalen Netz zu analysieren. Sie konnten so
die entwicklungskompetenten bzw. nicht entwicklungskompetenten Eizellen mit einer Genauigkeit von 91,03% ermitteln [2828].
Beurteilung der Embryonenqualität
Saeedi et al. haben die erste automatische Methode zur Segmentierung von 2 Hauptkomponenten menschlicher Blastozysten vorgestellt, und zwar der äußeren Zellschicht der Blastozyste zwischen
dem 4. und 7. Tag nach der Befruchtung, dem Trophektoderm, und der inneren Zellmasse. Diese beiden Regionen sind stark texturiert und sehr ähnlich in der Qualität ihrer Textur. Sie sehen oft
miteinander verbunden aus, wenn sie abgebildet werden. Durch die automatische Identifizierung von beiden Regionen wird eine detailliertere Beurteilung von Blastozysten möglich. Saeedi et al.
berichteten über eine Genauigkeit von 86,6% für die Identifizierung von Trophektoderm und 91,3% für die innere Zellmasse. Ihre Arbeit soll helfen, zu verstehen, warum der Transfer bestimmter
Embryonen zu höheren Schwangerschaftsraten führt als der von anderen [2929]. In einer Studie von 2019 trainierten Wissenschaftler*innen
der Cornell University einen Deep-Learning-Algorithmus von Google, um Embryonen mit hohem, mittelmäßigem oder geringem Entwicklungspotenzial zu erkennen, gemessen an der Wahrscheinlichkeit,
dass diese sich nach intrauterinem Transfer erfolgreich einnisten. Um das künstliche neuronale Netz zu trainieren, haben sie mehr als 10000 Zeitrafferbilder von menschlichen Embryonen
verwendet. Zudem haben sie unter Verwendung klinischer Daten für 2182 Embryonen einen Entscheidungsbaum erstellt, um die Embryonenqualität und das Alter der Patientin zu integrieren und
Szenarien zu definieren, die mit der Schwangerschaftswahrscheinlichkeit assoziiert sind. Die Analyse hat gezeigt, dass die Schwangerschaftswahrscheinlichkeit auf Basis des Transfers
einzelner Embryonen zwischen 13,8% (Alter ≥ 41 und schlechte Qualität) und 66,3% (Alter < 37 und gute Qualität) variiert und mit der automatischen Bewertung der Blastozystenqualität und
dem Alter der Patientin korreliert [3030].
Vorhersagemodelle für IVF
Bereits 1997 entwickelten Kaufmann et al. ein Modell, um die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen IVF vorherzusagen. Dazu nutzten sie ein artifizielles neuronales Netz mit einer
Vorhersagekraft von 59%. Dabei verwendete die Forschungsgruppe 4 Kriterien: Alter der Wunschmutter, Anzahl der gewonnenen Eizellen, Anzahl der transferierten Embryonen und ob die Embryonen
zuvor kryokonserviert worden waren [3131]. Für eine ähnliche Studie aus dem Jahr 2010 wurden 250 Patientinnen- und Patientendatensätze
aus IVF-Forschungszentren, Kinderwunschkliniken und Entbindungskliniken gesammelt. Um den Algorithmus zu trainieren und zu testen, verwendete die Forschungsgruppe deutlich mehr Kriterien
(das Alter der Frau, die Dauer der Unfruchtbarkeit, den Body-Mass-Index [BMI], frühere Schwangerschaften, frühere Operationen, Endometriose, Eileiterursachen, den Ovulationsfaktor, die
Spermienkonzentration, die Spermienvitalität, die Anzahl der entnommenen Eizellen, die Anzahl der transferierten Embryonen, die Vorgeschichte von Fehlgeburten und psychologische Faktoren)
und erreichten eine Genauigkeit von 73% in den Ergebnissen [3232].
In einer neueren retrospektiven Studie hatten Forscher*innen das Ziel festzustellen, ob ein einfacher prognostischer Algorithmus zwischen Paaren unterscheiden kann, die
Fruchtbarkeitsbehandlungen benötigen, und Paaren, bei denen zunächst weniger invasive Strategien angeboten werden sollten, und haben diese auf der Grundlage der medizinischen Notwendigkeit
einer IVF-Behandlung und ihrer Prognose für eine natürliche Empfängnis in Gruppen unterteilt. Für jede Gruppe wurde jeweils eine Kaplan-Meier-Kurve erstellt, um die Wahrscheinlichkeit einer
natürlichen Empfängnis im Zeitverlauf und den Effekt der Fruchtbarkeitsbehandlung zu messen. Das Ergebnis war, dass bei Paaren mit einer leichten oder ungeklärten männlichen Unfruchtbarkeit
die Chance auf eine Lebendgeburt ohne Behandlung und schlechte Prognose signifikant steigt, im Vergleich zu Paaren mit einer guten Prognose. Dieses Prognosemodell bietet die Möglichkeit,
Fruchtbarkeitsbehandlungen individuell anzupassen, um somit unnötige IVF-Behandlungen zu vermeiden, ohne die Fruchtbarkeitschancen zu beeinträchtigen [3333].
Ethische Aspekte
Im Folgenden gehen wir auf die ethischen Aspekte ein, welche die KI in der Reproduktionsmedizin impliziert. Die ethischen Aspekte, die wir erarbeitet haben, können in 4 Themenkomplexe, wie in
der Tabelle gezeigt, unterteilt werden ([Tab. 1Tab. 1]):
Tab. 1
Tab. 1
Ethische Felder der KI in der Reproduktionsmedizin.
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mögliche Chancen
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mögliche Risiken
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forschungsethische Herausforderungen
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-
Entwicklung verbesserter Infertilitätsbehandlungen → Erhöhung der Wahrscheinlichkeit einer Reproduktion
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-
Schwierigkeiten bei Aufklärung der Patient*innen/Proband*innen
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Langzeitmonitoring nicht immer möglich
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überzogene Hoffnungen der Studienteilnehmer*innen
-
moralischer Status der humanen Embryonen
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Einfluss auf Chancen und Autonomie der Patient*innen
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Erhöhung der Baby-take-home-Rate
-
Verminderung der Therapieabbruchrate und der physischen und psychischen Belastung
-
Vermeidung des sozialen Stigmas von Kinderlosigkeit
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Entfaltung der reproduktiven Autonomie
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mangelnde Evidenz über Wirksamkeit
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ungenügende Aufklärung der Patient*innen/Proband*innen
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Nutzen und Herausforderungen für die Beziehung zwischen Ärzten/Ärztinnen und Patient*innen
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personalisierte Aufklärung
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bessere Therapieoptionen für Infertilität
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Erhöhung zeitlicher Ressourcen in der Praxis
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Herausforderung bei Aufklärung aufgrund komplexer Algorithmen
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Behandlungsergebnisse für individuelle Patient*in unklar
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Verantwortlichkeit, Transparenz und Vertrauen noch unklar
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reproduktive Gerechtigkeit und Zugangschancen
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Reduktion finanzieller Belastungen
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Hierarchisierung der zu behandelnden Patient*innen nach Erfolgswahrscheinlichkeit
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keine breite Implementierung
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Folgekosten durch komplexen technischen Betrieb (z. B. Wartung; Haftung)
-
Zugänglichkeit zu spezialisierten „Repro-KI-Zentren“
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Forschungsethische Herausforderungen
Wie die Beispiele aus der reproduktionsmedizinischen Forschung zeigen, verbinden sich mit dem Einsatz von KI in der Medizin neuartige Potenziale für klinische Anwendungen. Bislang wurden
aber selbst vielversprechende Entwicklungen kaum zur Praxisreife gebracht oder sind gar in die Regelversorgung eingegangen. Gerade Methoden des ML können unter Idealbedingungen eine hohe
Wirksamkeit aufweisen, etwa bei der Analyse von Bilddaten. In der Klinik zeigt sich aber eine weit schlechtere Performance, womöglich auch bei den KI-gestützten Bildanalysen von
Spermiogrammen. Dies kann nicht verwundern, finden in der medizinischen Forschung die allermeisten Studien mit KI bzw. ML in retrospektiven Settings statt [3434]. Untersuchungen von KI-Anwendungen deuten zudem auf Beschränkungen im Studiendesign hin, was Aussagen über deren Wirksamkeit im
klinischen Raum erschwert [3535]. Das weitgehende Fehlen von randomisierten kontrollierten Studien (RCT) gab unlängst Anlass für Kritik
an der Aussagekraft bestehender Forschung und Entwicklung im Feld der medizinischen KI/ML [3636].
In den vergangenen Jahrzehnten wurden Entwicklungen der Reproduktionsmedizin wie die PID oder die ICSI häufig ohne umfassende Prüfung ihrer Wirksamkeit und Sicherheit aus den Laboren direkt
in die klinische Anwendung gebracht [3737]. Studien am Menschen im Bereich der Fortpflanzungsmedizin müssen dabei zugleich als
forschungsethisch besonders sensibel gelten und bergen Herausforderungen eigener Art: Während zunächst die Wunschmutter die direkt von der Untersuchung Betroffene ist (und im Gegensatz zum
männlichen Partner die meisten physischen und psychischen Belastungen trägt), kann Forschung mit erhofften Innovationen im Feld der assistierten Reproduktion (z. B. KI-Anwendungen) zudem zur
Geburt von Nachkommen führen. Diese sind dann unweigerlich von den möglichen Risiken der Experimente betroffen und dies, ohne eine Einwilligungsmöglichkeit zur Teilnahme an der Studie gehabt
zu haben. Ebenso sind mögliche unerwünschte Wirkungen auf die Nachkommen durch ein experimentelles Verfahren der assistierten Reproduktion womöglich erst Jahre später abschätzbar. Hinzu
kommen forschungsethische Fragen bei der Erprobung neuer Verfahren, die sich aus der Verwendung bzw. der Nichtverwendung von menschlichen Embryonen ergeben.
Umso entscheidender ist bei der zukünftigen Forschung mit KI-Innovationen in der Fortpflanzungsmedizin die informierte Aufklärung der Wunschmutter bzw. der Wunscheltern. Hierbei ist
zugleich eine ungünstige Aufklärungssituation zu bedenken: Bei der Erprobung moderner und aufmerksamkeitsgenerierender Innovationen können falsche Hoffnungen oder überzogene Erwartungen
aufseiten der Studienteilnehmer*innen bestehen. Auch müssen Frauen bzw. Paare, die eine anhaltende und leidvolle Erfahrung der Kinderlosigkeit machten, als vulnerable Gruppe für
Humanversuche gelten. Gerade wenn den Paaren eine Teilnahme an entsprechenden Studien als „letzte Chance“ zur Erfüllung eines Kinderwunsches erscheint, sind besondere Vorkehrungen angezeigt,
die Freiwilligkeit sicherzustellen.
Wohl und Autonomie der Patient*innen
Es gehört zu dem erklärten Ziel von KI-Systemen, wie etwa den Vorhersagemodellen für IVF, einen zusätzlichen Fortschritt gegenüber üblichen Methoden der Reproduktionsmedizin zu leisten.
Messbar wäre dies in einer Steigerung der sogenannten Baby-take-home-Rate, also der Wahrscheinlichkeit, dass eine künstliche Befruchtung zu einer Geburt eines Kindes führt. Dies könnte
zugleich die psychischen und physischen Leiden der Patient*innen vermindern. Bei der assistierten Reproduktionsmedizin fordert eine Orientierung am Prinzip des Wohls die Wahl einer passenden
und bestmöglichen Behandlung, auf Grundlage von objektiv messbaren medizinische Parametern, die Berücksichtigung der subjektiven Erfahrungen von Patient*innen sowie ihrer Präferenzen im
Behandlungssetting und ihre Behandlungszufriedenheit. In beiden Fällen kann die Anwendung einer KI-Technologie zukünftig womöglich unterstützen. Eine Analyse von insgesamt 122560
Behandlungszyklen in Deutschland ergab, dass 45699 Patientinnen nach der Geburt eines Kindes die Therapie beendeten. Die verbliebenen 76861 (62,7%) Patientinnen brachen die Therapie vor der
Erfüllung des Kinderwunsches ab [3838]. Verschiedene mögliche Gründe für den Therapieabbruch werden angegeben: der ausbleibende
Embryotransfer aufgrund von unreifen Eizellen, ausbleibende Eizellgewinnung, nicht gelungene Fertilisation oder Embryonenarrest. Diese Ereignisse können für die Patient*innen entmutigend
sein. Weitere Gründe können eine fehlende oder zu geringe Stimulationsantwort sein, ein Überstimulationssyndrom oder eine vorzeitige Ovulation sowie falsche Anwendung der Hormoninjektionen,
die zu einem frustranen Therapieverlauf führen. Eine ausbleibende Schwangerschaft nach langer und umfangreicher Anwendung reproduktionsmedizinischer Verfahren wird ebenfalls als ursächlich
für einen Therapieabbruch vermutet [3838]. Andere Studien kommen zu ähnlichen Schlussfolgerungen und benennen neben diesen physischen und
psychischen Belastungen als Gründe für den Abbruch der Behandlung zudem Beziehungs- und andere persönliche Probleme [3939]. Außerdem wird
Infertilität oft mit sozialem Stigma wie Scham und Ausgrenzung behaftet [4040]
[4141]. Eine wirksamere und schnellere Behandlung, die durch zukünftige KI-Anwendung denkbar wäre, könnte für einige Paare daher eine technische Möglichkeit darstellen, diese
Belastungen, zumindest in Teilen, zu umgehen und damit zu ihrem Wohl beizutragen.
Der Einsatz von KI in der reproduktionsmedizinischen Praxis kann auch im Lichte der reproduktiven Autonomie der Patient*innen analysiert werden [4242]
[4343]. Reproduktive Autonomie des Einzelnen ist ein normativer Begriff und kann als die Möglichkeit verstanden
werden, informierte und willentliche Entscheidungen in Belangen der eigenen Familienplanung zu treffen. In dieser Perspektive müssten Maßnahmen, die das Ausüben der reproduktiven Freiheit
unterstützen und ermöglichen, wie der Einsatz von KI in der Reproduktionsmedizin, idealerweise allen Menschen mit unerfülltem Kinderwunsch zugänglich sein [4444]. Umgekehrt wären Einschränkungen der reproduktiven Autonomie nur zulässig, wenn der Einsatz neuer Technologien in der
Reproduktionsmedizin nachweislich zu einem Schaden für Patient*innen und deren potenzielle Nachkommen führte [4545]. Reproduktive
Autonomie kann zudem auch als ein Anspruchsrecht interpretiert werden: Denn über die eigene Fortpflanzung bzw. Nichtfortpflanzung verfügen zu können, kann für die Identität einer Person als
von zentraler Bedeutung gesehen werden. Entsprechend könnte daraus gefolgert werden, dass Versuche unternommen werden müssten, Paare bei der Erfüllung ihres Kinderwunsches zu unterstützen
[4444]. Dies schließt beispielsweise ein, dass der Zugang zu und die Nutzung von zukünftigen Fortpflanzungstechnologien wie den
KI-Anwendungen Kinderwunschpaaren zugestanden wird. Zugleich müssen die im vorherigen Kapitel erörterten Gefahren aufgrund der ungünstigen Aufklärungssituation vermieden werden, damit die
Patient*innen ihre reproduktive Autonomie in diesem noch experimentellen Feld auch vollends entfalten können.
Nutzen und Herausforderungen für die Beziehung zwischen ärztlichem Fachpersonal und den Patient*innen
Eine mögliche klinische Implementierung von KI in der Reproduktionsmedizin beeinflusst unweigerlich den Dreh- und Angelpunkt der medizinischen Praxis: die Beziehung zwischen den Ärzten
sowie Ärztinnen und den Patient*innen. Für die Reproduktionsmediziner*innen bedeutet der Einsatz von KI, dass sie ggf. ihre professionelle Rolle überdenken müssen, denn sie bilden die Brücke
zwischen den algorithmischen Leistungen und den behandlungsrelevanten Entscheidungen [4646]. Zum einen muss sich die Ärzteschaft nicht
nur mit den biologischen Faktoren der Infertilität der Betroffenen auseinandersetzen, sondern auch mit deren besonderen psychosozialen und emotionalen Belastungen während einer Behandlung,
die aus Studien sehr gut bekannt und belegt sind [4747]. Vorteilhaft könnte sich in diesem Zusammenhang die Anwendung von KI erweisen,
insofern eine Erfolgsquote bezüglich einer möglichen Schwangerschaft bei den einzelnen Patientinnen zukünftig besser vorhergesagt werden kann. Zwar bestehen bisher auch Daten, mit denen
Wahrscheinlichkeitsaussagen gemacht werden können, wie beispielsweise in Abhängigkeit vom Alter der Frau [4848]. Jedoch könnte die
optimierte und präzisere Prognose die Möglichkeit für die Ärzte und Ärztinnen schaffen, Patient*innen besser aufzuklären und eine entsprechende Therapieempfehlung abzugeben. Auch die
Möglichkeit, die Auswahl der Spermien, Eizellen und Embryonen zukünftig zu optimieren, ermöglicht es den Behandelnden, eine verbesserte und effizientere Behandlung anbieten zu können.
Obgleich derartige Verbesserungen durch potenzielle KI-Anwendungen nur graduelle sein mögen, können diese vor dem Hintergrund der Belastungen einer Kinderwunschbehandlung einen tatsächlichen
Nutzen bringen. Zudem verbindet sich mit dem Einsatz von automatisierten Unterstützungssystemen in der Medizin die Hoffnung, dass diese zugleich mehr zeitliche Ressourcen für die Beziehung
zwischen ärztlichem Fachpersonal und deren Patient*innen freigeben [4949].
Durch die mögliche Implementierung von KI in der Reproduktionsmedizin entstehen aber auch verschiedene Anforderungen für das ärztliche Personal. Zum einen ist es auch dafür verantwortlich,
personenbezogene Daten wie das Alter, Gewicht, Lebensweisen usw. zu erheben und zu sammeln, damit es möglich ist, Algorithmen zu trainieren, die künftig dabei helfen sollen,
Schwangerschaften zu erreichen. Darüber hinaus müssen Reproduktionsmediziner*innen die Patient*innen über die Verwendung von algorithmischen Entscheidungssystemen angemessen informieren und
aufklären: Inwiefern kann die Anwendung einer KI-Technologie einen positiveren Einfluss auf die jeweilige Diagnose und/oder Behandlung nehmen? Warum ist der Arzt bzw. die Ärztin von der
KI-Unterstützung überzeugt oder nicht? [5050] Zum anderen müssen Behandelnde sicherstellen, dass die gestellte Prognose, Diagnose oder
eine Behandlungsempfehlung, die durch eine KI generiert wurde, nicht im Widerspruch zum medizinischen State of the Art und ihrem professionellen Urteilsvermögen steht [5050].
Wenn zukünftig KI-Systeme zum Einsatz kommen, die verstärkt auf die Qualität der Keimzellen abheben und diese feststellen sollen, könnte dies den Fokus von den jeweiligen Patient*innen
wegführen. Prädiktive Analysemodelle und die sich daraus ergebenden Behandlungsempfehlungen, die auf großen Datenmengen basieren, können zwar die Behandlungsergebnisse eines bestimmten
Patientenkollektivs verbessern, müssen aber nicht zwingend der individuellen Patientin bzw. dem individuellen Patienten von Nutzen sein. Dieser Umstand kann mit der ärztlichen Verpflichtung
kollidieren, im besten Interesse des einzelnen Patienten bzw. der einzelnen Patientin zu handeln [5151]. Patient*innen laufen außerdem
Gefahr, im Laufe der Untersuchungen und Datenerhebung und -analyse zu bloßen „Datensubjekt[en]“ [33] zu werden und weniger als Personen
wahrgenommen zu werden [33]. Behandelnde müssen sich der potenziellen Dynamik der Datafizierung von Personen bewusst sein und die
Zuwendung zur einzelnen Patientin bzw. zum einzelnen Patienten weiterhin praktizieren.
Haftungsfragen sind ein weiteres Problemfeld beim Einsatz der KI. Mit der Digitalisierung der Medizin und dem Einsatz von ML-Algorithmen treten zunehmend neue Akteur*innen im System der
Gesundheitsversorgung auf [5252]. Hierzu gehören IT-Unternehmen oder Programmierende, die einen wesentlichen Anteil bei der Entwicklung,
dem Training und der Erprobung von ML-Systemen haben. Im Falle von Behandlungs- und Diagnosefehlern durch KI-Anwendungen ergeben sich damit neue Fragen der Verantwortlichkeit [5353]. Erschwerend kommt hinzu, dass ML-Anwendungen eine Form von Blackbox darstellen können [5454]. Algorithmen mit einer hohen Validität sind zuweilen nicht mehr oder nur mit verhältnismäßig hohem Aufwand erklärbar. Die Opazität von KI-Anwendungen erschwert somit
den Fachkräften eine medizinische Entscheidungsfindung, da womöglich unklar ist, wann sie sich auf automatisierte Systeme verlassen können. Zugleich kann fehlende Transparenz aber auch das
Vertrauen der Patient*innen in entsprechende KI-Anwendungen stören [5555]. Hinzu kommen Herausforderungen betreffend der
Mensch-Maschinen-Interaktion. So scheinen etwa Ärzt*innen mit umfassender Erfahrung in ihrem Fach KI-Systemen eher zu misstrauen, wohingegen unerfahrenere Ärzt*innen zuweilen ein übermäßiges
Vertrauen an den Tag legen [5656].
Reproduktive Gerechtigkeit und Zugangschancen
Die Kostenrückerstattung für die assistierte Reproduktion ist in Europa sehr heterogen geregelt. Dabei spielen zum einen verschiedene Kriterien eine Rolle, wie z. B. das Alter sowohl der
Frauen als auch der Männer mit Kinderwunsch, oder ob Personen bereits Kinder haben, oder wie viele Behandlungszyklen ein Paar oder eine Frau schon durchlaufen hat. In manchen Ländern ist
sogar der weibliche BMI ein Maßstab für die öffentliche Finanzierung [5757]. Zum anderen zeigen sich auch unterschiedliche Handhabungen
für die 3 Hauptkostenbereiche: Medikamente, Personal und Labor. Dabei ist in manchen Ländern auch entscheidend, ob es sich um öffentliche oder private IVF-Zentren handelt [5757]. Dies kann zu unterschiedlichen Möglichkeiten für Kinderwunschpaare führen, Zugang zur technisch assistierten Reproduktion zu erlangen
und damit auch soziale Ungleichheiten bewirken [5858]. In Deutschland beispielsweise werden bei gesetzlich Krankenversicherten, die etwa
90% der Gesamtbevölkerung ausmachen, 50% der Kosten für maximal 3 Behandlungszyklen mit IVF oder ICSI gedeckt. Zudem gelten Altersgrenzen, die den Anspruch auf Kostenerstattung einschränken:
die Frau muss zwischen 25 und 39 Jahren alt sein und der Mann zwischen 25 und 49. Vor diesem Hintergrund scheint sich der Zugang zu assistierter Reproduktion von anderen gesundheitlichen
Leistungen grundlegend zu unterscheiden und hängt eng mit kulturellen sowie moralischen Vorstellungen und Gerechtigkeitsverständnissen zusammen [5959].
Mit der Aussicht auf praxisreife KI-Verfahren verbindet sich die Hoffnung, von Unfruchtbarkeit Betroffenen eine effizientere Therapie anbieten zu können, was eine erfolgreiche
Schwangerschaft und die Reduktion finanzieller Belastungen bedeuten könnte. Neben diesen möglichen positiven Effekten sollten allerdings auch weitere Implikationen Beachtung finden. Eine
Kostenreduktion für die individuellen Patient*innen sowie für die kollektiven Kostenträger wird sich nur dann einstellen, wenn der Technikeinsatz effizient vonstattengeht und die
KI-basierten Technologien für die klinische Praxis keine (unverhältnismäßig) höheren Kosten durch Anschaffung, Betrieb, Datenverarbeitung und -aufbewahrung, Modellwartung und -updating,
Visualisierung, qualifizierte Bedienung, Behebung von Fehlern, mögliche Haftungskosten etc. verursachen [6060]. Des Weiteren lassen sich
im Zuge von Gerechtigkeitserwägungen Fragen nach Zugangschancen bzw. -barrieren stellen: Obwohl fraglich ist, ob KI-basierte Systeme alsbald in die klinische Praxis Eingang finden, ist
anzunehmen, dass sie nicht sofort in der Breite implementiert werden. Vorstellbar ist, dass nur wenige reproduktionsmedizinische Zentren diese Systeme zunächst in ihr Angebot aufnehmen.
Patient*innen, die keinen Zugang zu diesen Zentren haben, müssten dann eventuell mit geringeren Erfolgsquoten rechnen, und reproduktionsmedizinische Einrichtungen ohne dieses Angebot und
ohne den möglichen neuen „Goldstandard“ könnten einen komparativen Nachfragenachteil erleiden. Ballung der Angebote der KI-basierten Reproduktionsmedizin in Hochtechnologiezentren könnte
dazu führen, dass die Kosten der als erforderlich oder wünschenswert erachteten Verfahren und Maßnahmen zunächst steigen. So mögen diese Dynamiken des KI-Einsatzes entsprechend einen Vorteil
für die reproduktive Autonomie von Einzelnen bedeuten; aus der Perspektive der reproduktiven Gerechtigkeit und der Reproduktionsmedizin als Marktökonomie sowie möglicherweise kollektiv
getragenen Gesundheitsleistungen allerdings für bestimmte Gruppen von Betroffenen mit unzureichenden finanziellen Mitteln von Nachteil sein [6161]. Daher sollte möglichen Barrieren sowie Fragen der Verfügbarkeit und Refinanzierung der Angebote Beachtung in ethischen und technikfolgenabschätzenden Abwägungen
geschenkt werden.
Ein weiterer Aspekt der Gerechtigkeit berührt nicht nur die Kostenfrage, sondern auch die praktische Umsetzung in der Klinik. Ausgehend von kritischen Reflexionen auf die zunehmende
„Quantifizierung des Sozialen“ und damit verbundenen Auswirkungen [6262] könnte geprüft werden, inwiefern eine scheinbar genauere
Bemessung der Erfolgsquoten für eine Schwangerschaft eine hierarchisierende Kategorisierung der zu Behandelnden zur Folge haben könnte und somit zusätzliche Ungleichheiten bedingt. In der
Literatur über die (potenzielle) Anwendung von Algorithmen werden zudem Bedenken artikuliert, dass Algorithmen durch die Menschen, die sie erstellen, oder durch die Daten, die für ihr
Training verwendet werden, gesellschaftliche Ungleichheiten reproduzieren oder verstärken [6363]
[6464]. Auch bei der (potenziellen) Anwendung von KI bei der Behandlung von Infertilität muss die Frage aufgeworfen werden, welche Daten verwendet werden, um die Algorithmen
zu trainieren, um eine Diskriminierung von bestimmten Patient*innengruppen möglichst zu vermeiden.
Diskussion
Wie in vielen Bereichen der Medizin gibt es auch in der Reproduktionsmedizin mehrere Hürden und Risiken beim potenziellen Einsatz unterstützender KI-Systeme. Dabei ist festzuhalten, dass sich
die KI-basierten Methoden in der Reproduktionsmedizin noch in einer sehr frühen Entwicklungsphase befinden und eine Abwägung der tatsächlichen Risiken und Chancen damit sehr schwierig ist.
Hinzu kommt, dass die ML-Modelle häufig nicht vollständig erklärbar sein können und als „Black Box“ [6565] wahrgenommen werden. Dadurch
entsteht möglicherweise Skepsis bei den klinisch Tätigen sowie bei Patient*innen bezüglich Diagnosen und Therapieempfehlungen. Dieses neue Szenario kann dazu führen, dass sich Patient*innen
hilflos gegenüber dem Einsatz von nicht transparenten Werkzeugen und automatisierten Entscheidungsprozessen fühlen, die wesentliche Aspekte ihres Lebens betreffen [5050], und somit der ohnehin besonders psychisch und physisch vulnerablen Gruppe der Patient*innen mit unerfülltem Kinderwunsch eine
zusätzliche Unsicherheit aufgebürdet wird. Aufseiten der Ärzteschaft kann die Opazität von KI-Anwendungen dagegen zu übermäßigem Vertrauen oder auch Misstrauen führen. In beiden Fällen wäre
dies ggf. von Nachteil für Patient*innen. Überzogene Erwartungen an die Leistungsfähigkeit neuer Technologie könnten ungerechtfertigte Hoffnungen auf die Erfüllung eines Kinderwunsches wecken.
Zugleich kann eine Skepsis gegenüber tatsächlich wirksamen KI-Systemen auch die Potenziale entsprechender Innovationen ungenutzt lassen.
Aus den aktuellen Studien ergeben sich hinsichtlich der Quantität und Qualität der Daten, welche die Leistung, Anwendbarkeit und Verallgemeinerbarkeit des trainierten Modells erheblich
beeinflussen, Limitationen. Die meisten Studien im Bereich der Reproduktionsmedizin haben eine geringe Stichprobe und diese sind meist retrospektiv. Es mangelt immer noch an groß angelegten
randomisierten kontrollierten Studien, um die Validität der Algorithmen zu testen und die Nutzung zu optimieren. Mehr Forschung zur personalisierten Diagnose und Behandlung, zu medizinischen
Expertensystemen und zur KI-gestützten Reproduktion ist erforderlich [1414].
Überwachtes und unüberwachtes Lernen ist mit der Frage verbunden, was die Ärzte und Ärztinnen über die Anwendung der KI zum Outcome bei der Behandlung von Infertilität überhaupt sagen/wissen
können. Ärzte und Ärztinnen müssen mit KI-generierten Empfehlungen umgehen, obwohl sie die Systeme zuweilen nicht vollständig verstehen und/oder deren Empfehlungen in Bezug auf Diagnose und
Therapie eventuell nicht teilen [5050]. Dies kann eine transparente und patientengerechte Informationsvermittlung beim Einsatz der
KI-gestützten Datenverarbeitungen erschweren [6666].
Insgesamt erscheint es notwendig, die hier aufgezeigten moralischen Risikofelder mit Mitteln der empirischen Ethik [6767] weiter zu
untersuchen; nicht etwa die „objektive“ Risikobewertung und -gewichtung unterschiedlicher KI-Anwendungen in der Reproduktionsmedizin stünden dann im Fokus, sondern der Blick auf (sich
subjektiv vermittelnde) Bedingungen von Wünschbarkeit, Akzeptanz oder Ablehnung von KI in der Reproduktionsmedizin. Würden beispielsweise im Zuge qualitativer Befragungen von Ärzten und
Ärztinnen, Menschen mit Kinderwunsch, KI-Forschenden, Anbietenden und anderen Gruppen diese Problemfelder thematisiert, ließen sich entlang von Betroffenenperspektiven zusätzliche Erkenntnisse
zum erwarteten Nutzen und zu wahrgenommenen Gefahren von KI in der Reproduktionsmedizin gewinnen, bevor mögliche Anwendungen in die Regelversorgung gelangen.
Schlussbetrachtung: zukünftige Richtungen der KI-Anwendung in der Reproduktionsmedizin und eine ethische Abwägung
Schlussbetrachtung: zukünftige Richtungen der KI-Anwendung in der Reproduktionsmedizin und eine ethische Abwägung
Wenn sich die Leistungsfähigkeit der KI-Techniken und ihre Integration in den Behandlungsprozess im Laufe der Zeit verbessern, könnte dies Patient*innen sowie der Ärzteschaft zugutekommen,
indem sie eine qualitativ hochwertige Reproduktionsmedizin effektiver und genauer möglich machen und den Behandelnden Hilfe bei der Entscheidungsfindung geben. Insbesondere mag die zukünftige
Anwendung von KI in der Reproduktionsmedizin vor Beginn einer IVF-Behandlung vielversprechend sein, um adäquatere Prognosen über den Behandlungserfolg zu unterstützen. Dies würde Personen mit
unerfülltem Kinderwunsch die Möglichkeit geben, sich gemeinsam mit Reproduktionsmediziner*innen über die individuellen Chancen, ein Kind zu bekommen, frühzeitig auseinanderzusetzen.
Entwicklungen im Bereich der Reproduktionsmedizin sollten aber auch dahingehend geprüft werden, inwieweit diese mittel- und langfristig unerwünschte Effekte und Sozialdynamiken begünstigen
können. Weltweit zeigt sich die Fortpflanzungsmedizin nicht nur als ein wachsender Forschungsbereich, sondern auch als eine lukrative Industrie, in der vielfältige Akteur*innen um die
Aufmerksamkeit von Wunscheltern und Kliniken werben. Dabei versprechen Innovationen gerade im Zusammenhang mit populären Anwendungen der KI neue Machbarkeiten, sei es bei der Vorhersage von
Behandlungserfolgen oder auch bei der vorgeburtlichen Diagnostik. Bereits heute offerieren Unternehmen die Algorithmen unterstützte Auswahl von Embryonen sogar anhand von polygenen Merkmalen,
etwa um Risiken einer Schizophrenie oder von Krebserkrankungen bei den Nachkommen auszuschließen [6868]. Obgleich diese Angebote eine
unzureichende wissenschaftliche Grundlage haben, werden sie eine Nachfrage generieren und weitere Optimierungsfantasien wecken.
Gleichfalls bleibt zu prüfen, inwiefern bestehende Prozesse und Logiken der Quantifizierung von Lebensphänomenen durch die Nutzung von KI-gestützten Entscheidungssystemen in der
Reproduktionsmedizin etabliert oder verstärkt werden könnten, indem beispielsweise komplexe Entscheidungen durch Nutzung von KI-Systemen auf metrische Werte reduziert werden, anhand derer dann
binär zwischen „guten“ und „schlechten“ Embryonen unterschieden wird. In Zahlenwerten abgebildete Beschreibungen drücken, so u. a. Mau, immer auch „Wertzuschreibungen“, Vergleiche und
„Wertigkeitsordnungen“ aus [6262] und sind damit keineswegs wertneutral. In ihnen spiegeln sich Haltungen und soziale Effekte wie Akzeptanz
oder Nichtakzeptanz, wodurch sie ihrerseits verhaltensanleitend sein können [6969]. Bereits seit einigen Jahren zeigt sich zum Beispiel,
dass in Ländern, die ein systematisches vorgeburtliches Screening auf Trisomie 21 anbieten, eine hohe Abbruchrate entsprechender Schwangerschaften zu verzeichnen ist [7070].
Werden Entscheidungen in Fortpflanzungskliniken zukünftig vermehrt maschinengestützt getroffen, gilt es kritisch zu beobachten und zu prüfen, ob und inwiefern die einprogrammierten
Wertemaßstäbe Standards definieren, die sowohl die Urteile von in der Medizin Tätigen als auch die der Wunscheltern prägen könnten (zum Vergleich siehe etwa [6363]). Eine auf die Optimierung des Outcomes verpflichtete Maschine mag schließlich sogar Taktgeber einer neuen Ausformung der Eugenik
werden, wenn auch ohne identifizierbare „Eugeniker*innen“ [7171]. Umso entscheidender ist es, die den Algorithmen zugrunde liegenden
Wertmaßstäbe transparent zu machen und in den Raum des offenen Diskurses zu überführen. Dann kann die KI-gestützte Medizin auch eine menschengerechte Medizin werden.