PiD - Psychotherapie im Dialog 2023; 24(02): 94-95
DOI: 10.1055/a-1879-0974
Resümee

Psychotherapie in Krisenzeiten

Können wir Krise?

Ein zentrales Ziel von Psychotherapie ist die Bewältigung persönlicher Krisen. Wenn gesellschaftliche und persönliche Krisen zusammenfallen, wird die Komplexität im einzelnen Fall nicht einfacher. In den vorgelegten Arbeiten stellen wir folgende übergreifende Themenfelder fest:

Mediale Krisenbewirtschaftung

Krisen lassen keinen kalt. Sie erhalten besonders starke mediale Aufmerksamkeit. Krisen vermitteln eine so große Handlungsrelevanz, dass grundsätzlich unmittelbar im Hier und Jetzt gehandelt werden muss. Je lauter Krisen werden, umso mehr werden sie aufgegriffen und wecken zusätzliches Interesse. Mit Krisen lässt sich, so unangenehm es klingt, Geld verdienen. Die Aufgabe von Psychotherapie ist es, auch dort Hilfe anzubieten, wo die Krisen still bleiben, wo sie verstummen oder wo der Lichtkegel der allgemeinen Aufmerksamkeit schon längst wieder weitergewandert ist.


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Krise in individualistischen Gesellschaften

Krisen werden dann als Krisen bezeichnet, wenn sie ein so großes Maß an Unkontrollierbarkeit und Unsicherheit auslösen, dass die Vorhersage des Alltags unmittelbar beeinträchtigt wird. Krisen sind eine Herausforderung für individualistische Gesellschaften. Sie sind so groß, dass sie nicht mehr von jedem einzelnen gelöst werden können. Die Lösungen der Krisen greifen in den individuellen Handlungsspielraum ein und schränken ihn ein. Nicht nur die Krisen selbst, sondern auch deren gesellschaftlichen Lösungsversuche können grundsätzlich als unangenehm und einschränkend wahrgenommen werden.


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Krisenbewältigung als kulturelle Errungenschaft

Vielleicht nimmt die Mehrzahl der Leser*innen die Ukrainekrise als ersten persönlich erlebten mitteleuropäischen Krieg seit dem zweiten Weltkrieg war. Wir sind wohl alle in der Schule und Ausbildungen überzeugt worden, dass die demokratischen, aufgeklärten Institutionen so gesichert sind, dass sie unsere Gesellschaften grundsätzlich als Ganzes schützen und stabilisieren können. Zentrale Werte wie Demokratie und Menschlichkeit sind herausgefordert. Jeder einzelne Beitrag dieses Themenheftes ist Beweis und Ausdruck dafür, dass wir uns erstaunlich schnell auf Krisen einstellen können und uns darin erstaunlich resilient und menschlich verhalten.


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Krise als psychotherapeutischer Auftrag

Jeder einzelne Beitrag ist auch Ausdruck dafür, wie sorgfältig und ernsthaft sich die Psychotherapie als Profession mit den aktuellen Krisen auseinandersetzt und darin Verständnis und therapeutische Ansätze schafft.

  • Gemeinsame Faktoren: Die Beiträge von Horn, Wöller und Senf weisen auf allgemeine psychologische Mechanismen im Umgang mit Krisenzeiten hin. Faktoren wie Universalität des Leidens, Hoffnung und Selbstwirksamkeitserleben sowie das Erleben von Sicherheit und sozialem Kontakt scheinen zentrale übergeordnete Konstanten darzustellen, die in den verschiedensten Kontexten relevant sind. Manchmal werden Selbstwirksamkeit und soziale Kontakte aber auch auf dysfunktionale Weise hergestellt – z. B. durch die Flucht in Verschwörungserzählungen.

  • Pragmatische Angebote: Die Beiträge von Marsh & Benecke sowie Stapel & Brakemeier stellen eindrücklich dar, dass niedrigschwellige, pragmatische Ansätze in kurzer Zeit Linderung schaffen können.

  • Krisen und psychopathologische Symptome: Die Beiträge von Bachem, Kupferschmitt, Lieberei sowie Eberle & Maercker verdeutlichen die Relevanz einer präzisen Individualdiagnostik über das gesamte Spektrum möglicher psychopathologischer Symptome.

  • Jugendliche: Die Beiträge von Seiffge-Krenke, Kircher & In-Albon, sowie Probst & Flückiger weisen darauf hin, dass Jugendliche besonders stark von den negativen Folgen gesellschaftlicher Krisen betroffen sind.


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Globale Krisen als Rückbesinnung aufs Wesentliche

Die Entwicklung gesellschaftlicher Meilensteine wie die Aufklärung oder der Aufbau liberaler, demokratischer Gesellschaften ist kein linearer Prozess. Zentrale, nach dem zweiten Weltkrieg gefestigte globale Gesundheitsinstitutionen der UNO wie WHO, UNICEF und Sicherheitsrat sind aktuell herausgefordert.

Aus den globalen Krisen kristallisiert sich in uns nichtsdestotrotz eine globale Erkenntnis: Wir leben gemeinsam auf dieser einen Welt und sie ist wunderschön!

Christoph Flückiger
Volker Köllner


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Publication History

Article published online:
31 May 2023

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