Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2022; 57(09): 518
DOI: 10.1055/a-1885-8285
Medizin im Fokus

Mangelernährung auf Intensivstation erkennen – aktuelles Positionspapier

Corinna Spirgat

Viele Patienten haben bereits bei der Aufnahme auf eine Intensivstation eine Mangelernährung, weitere entwickeln diese während ihres Aufenthalts im Krankenhaus. Wie Studien zeigen, hat der Ernährungsstatus dabei sowohl prognostische als auch therapeutische Relevanz. Doch wer gilt als mangelernährt bzw. wer ist ausreichend mit Nährstoffen versorgt? In einem aktuellen Positionspapier zeigen Intensiv- sowie Ernährungsmediziner der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) apparative Untersuchungsmöglichkeiten auf, mit denen sich Risikopatienten auf der Intensiv- oder sog. Intermediate Care Station identifizieren lassen. Das Positionspapier bildet eine wichtige Ergänzung der Leitlinie „Klinische Ernährung in der Intensivmedizin“ der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin e. V. (DGEM). Die meisten der Autoren sind auch Mitglieder der DGEM. Laut der Fachgesellschaft unterstreicht das Positionspapier erneut die Notwendigkeit einer systematischen Erfassung und Verlaufsbeurteilung des Ernährungsstatus.

Die westlichen Gesellschaften sind insgesamt eher überernährt, das Risiko einer Mangelernährung wird daher oft unterschätzt. In Studien zeigt sich jedoch deutlich, wie wichtig ein guter Ernährungszustand für die Genesung sein kann. So haben kritisch kranke Patienten ein rund doppelt so hohes Sterberisiko, wenn sie bei der Aufnahme auf die Intensivstation mangelernährt sind. „Eine Mangelernährung kann sich dabei nicht nur als Untergewicht bemerkbar machen, sondern auch als ungewollte, krankheitsbedingte Gewichtsabnahme, als Verlust von Muskelmasse oder als verminderte Energie- oder Proteinaufnahme“, sagt Prof. Dr. med. Arved Weimann von der Abteilung für Allgemein-, Viszeral- und Onkologische Chirurgie am Leipziger Klinikum St. Georg, der das DIVI-Positionspapier als DGEM-Experte federführend mitverfasst hat. Auch ein erhöhter Energie- und Proteinverbrauch sowie der Verbrauch von Vitaminen und Spurenelementen – etwa bei akuten schweren Entzündungen, Verbrennungen oder Verletzungen – kann zu einem Zustand der Mangelernährung führen.

Gerade bei Intensivpatienten ist der Ernährungsstatus jedoch oftmals nicht leicht zu erfassen. Nicht jeder Patient ist mobil genug, um ihn auf eine Waage zu stellen oder zu setzen, Bettwaagen stehen oft nicht zur Verfügung. Weil viele Betroffene zudem nicht ansprechbar sind, lassen sich auch die Ernährungsgewohnheiten oder die Gewichtsentwicklung der vergangenen Wochen nicht immer abfragen. „Oft stehen zunächst – und zurecht – auch akut lebenserhaltende Maßnahmen im Vordergrund der Behandlung“, so Prof. Dr. med. Gunnar Elke von der Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel, der gemeinsam mit Weimann als korrespondierender Autor des Positionspapiers firmiert. Dennoch sollte ein erstes Ernährungsscreening so bald wie möglich erfolgen, indem z. B. auch Begleitpersonen zur Ernährungs- und Gewichtsentwicklung der Erkrankten befragt werden. Die Verfügbarkeit einer Stuhl- oder Bettwaage bezeichnen die Autoren des Positionspapiers als obligat – schließlich sei die Bestimmung des aktuellen Körpergewichts auch für andere therapeutische Maßnahmen wie etwa die Medikamentendosierung wichtig.

Allein der Body-Mass-Index (BMI) führe jedoch leicht zu Fehlschlüssen in Bezug auf den Ernährungsstatus, da Flüssigkeitseinlagerungen im Gewebe gerade bei Intensivpatienten häufig sind und einen Mangel maskieren können. Die Autoren empfehlen daher flankierende Untersuchungen, etwa die Messung von Unterhautfettgewebe, Ödemen, Muskelmasse und Muskelkraft. „Die Muskelmasse lässt sich auch an immobilen Patienten leicht und kostengünstig per Ultraschall am Oberschenkel messen“, sagt Weimann. Für den Fall, dass ohnehin eine CT angefertigt werde, sollte dabei auch die Muskulatur im Bauchbereich miterfasst und vermessen werden. Darüber hinaus werde auch eine Messung der Handkraft mithilfe eines Dynamometers empfohlen.

Wenn sich bei diesen Untersuchungen ein erhöhtes Ernährungsrisiko abzeichnet, sollten die Patienten gezielt ernährungsmedizinisch betreut werden. „Eine aggressive Kalorienzufuhr wird dabei nicht mehr empfohlen, vielmehr wird die Nährstoffzufuhr an die individuelle Toleranz von Verdauungsapparat und Stoffwechsel angepasst, genau überwacht und nur langsam gesteigert“, betont Prof. Dr. oec. troph. Dr. med. Anja Bosy-Westphal, Leiterin der Abteilung Humanernährung an der Agrar- und Ernährungswissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität Kiel und Präsidentin der DGEM. Um die weitere Entwicklung zu bewerten, solle mindestens 2-mal pro Woche das Körpergewicht und mindestens 1-mal pro Woche die Körperzusammensetzung – mithilfe von Ultraschall oder Bioimpedanzanalyse – sowie die Handkraft gemessen werden.

Dieselben Maßnahmen sollten präventiv auch bei Patienten ohne auffälligen Ernährungsstatus ergriffen werden, falls zu erwarten sei, dass sie länger als 7 Tage auf der Intensivstation bleiben. „Denn allein dadurch ist das Ernährungsrisiko bereits deutlich erhöht“, so Bosy-Westphal.

Zum Positionspapier: https://link.springer.com/article/10.1007/s00063–022–00918–4



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
01. September 2022

© 2022. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany