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DOI: 10.1055/a-1893-3794
Mitteilungen des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin (DKPM)
Nachruf
Karl Köhle 1938 bis 2022
Karl Köhle hat die Entwicklung der Psychosomatischen Medizin in Deutschland maßgeblich beeinflusst. Als engster Mitarbeiter Thure von Uexkülls hat er dessen psychosomatische Konzepte in Ulm auf verschiedenen Ebenen ärztlichen Handelns im Sinne der integrierten Medizin modellhaft umgesetzt. Nach seiner Tätigkeit als Assistenz- und Oberarzt 1967 bis 1985 an der Universitätsklinik Ulm erhielt er den Ruf an die Universität zu Köln, verbunden mit der Leitung der Klinik für Psychosomatische Medizin. Von 1984 bis 1990 war er Mitglied im Vorstand des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin. Er führte die Carus Lecture ein und erhielt den Roemer-Preis sowie weitere Auszeichnungen.
Karl Köhle ist am 15.03.1938 in München geboren und aufgewachsen. Sein Vater betrieb ein Sanitärfachgeschäft, die Mutter war promovierte Anglistin Er ist der älteste von vier Brüdern. Nach anfänglichen Überlegungen, Physik zu studieren, entschied er sich für das Medizinstudium in Hamburg (einschließlich Psychologie),Wien und München. Seine Interessen waren breit gestreut, sowohl geistes- und kulturwissenschaftlich als auch in den Naturwissenschaften. Nach dem Staatsexamen 1966 begann er die Assistenzarztzeit an der Universität Ulm mit internistischer (Thure v. Uexküll) und psychoanalytischer (H. Thomä) Weiterbildung.
Ulm war neben Heidelberg und Gießen damals ein Zentrum für die universitäre Entwicklung der psychosomatischen Medizin in Deutschland. Thure von Uexküll war als Leiter der Medizinischen Poliklinik der Universität Gießen an die neu gegründete Universität Ulm gewechselt, die als Reformuniversität konzipiert war. Er leitete 1966 bis 1976 der Abteilung für Innere Medizin und Psychosomatik im Zentrum für Innere Medizin und Kinderheilkunde, deren Ziel es war, die psychosomatische Betrachtungsweise im Rahmen der Grundlagenfächer in Forschung, Lehre und Krankenversorgung in die ärztliche Tätigkeit einzubeziehen, d. h. systematisch die bio-psycho-sozialen Wechselwirkung bei allen Krankheiten zu berücksichtigen. Thure von Uexkülls Aktivitäten bezogen sich auch auf die Reform des Medizinstudiums: Einführung der psychosozialen Fächer, Mitgestaltung der ärztlichen Approbationsordnung, Reorganisation der Fakultätsstruktur der medizinischen Hochschulen in Richtung auf ein auf Kooperation angelegtes Departmentsystem, Medizindidaktik, Kleingruppenunterricht. So war der Beginn der Facharztausbildung von Karl Köhle eingebettet in eine Aufbruchstimmung der Weiterentwicklung des Medizinstudiums mit der Einführung der Medizinischen Psychologie und -Soziologie und der Psychosomatischen Medizin.
Während dieser Zeit der Reformen und Visionen in der Medizin hatten wir als Famulanten in der Uniklinik Ulm die Möglichkeit, von Karl Köhle in die Praxis der Gesprächsführung mit dem Patienten eingeführt zu werden.
Die Umsetzung biopsychosozialer Modelle verkörperte Karl Köhle in ganz besonderer Weise: Er sensibilisierte uns für die emotionale Atmosphäre zu Beginn des Gesprächs, die nonverbalen Reaktionen des Patienten, und wir tasteten uns an das aktive Zuhören vor. Wegweisend war Karl Köhles besondere Sensibilität für die Sprache, seine Fähigkeit, bedeutungsintensive Momente im Gespräch wahrzunehmen, sein reflektierender Ansatz, seine teilnehmend-zugewandte Haltung mit Empathie und Nähe zu Schwer- oder unheilbar Kranken. Für uns als Studenten war nachhaltig eindrucksvoll, wie er uns die Beziehungsregulation als teilnehmender Beobachter vermitteln konnte. Wir führten das Patientengespräch, Karl Köhle neben uns mit der anschließenden Reflexion des Gesprächs und nie belehrend, sondern mit hoher Sensibilität teilnehmend. Hieraus sollte sich ein ärztlich-praktischer wie wissenschaftlicher roter Faden entwickeln, das Gespräch mit dem körperlich Kranken.
Ein weiterer wegweisender Prozess war seine Suche nach der Institutionalisierung dieser Handlungsmodelle. Die Möglichkeit, eine psychosomatisch-internistische Station in Ulm aufzubauen, machte seine Fähigkeiten für einen Teamansatz fruchtbar: Die Station wurde von einem Internisten und einem Psychosomatiker geführt, und jeder Patient wurde in der Mittagsrunde in Anwesenheit der Krankenschwestern, der Psychologin, der Assistenzärzte als reflektierte Kasuistik besprochen und therapeutische Wege oft auch unter Einbeziehung der Angehörigen konzipiert. Hieraus entwickelten sich systematisch in der Diagnostik das ärztliche wie auch das pflegerische Erstgespräch, die Reform der Visite, sowohl der Stationsarzt- wie auch der Oberarzt- und Chefarztvisite, die Patientengruppe, die Stationskonferenz und die Entlassungsbesprechung. Die Konzeption dieser Modellstation war wegweisend für viele Weiterentwicklungen in psychosomatischen Akut- und Rehakliniken. Innovativ bis heute ist die enge Zusammenarbeit der Pflege in Ausbildung und Praxis, wie sie in Ulm in Zusammenarbeit mit der Pflegedienstleitung möglich war. Hier wünscht man sich, dass diese wichtige Professionalisierung zur psychosomatischen Beziehungspflege wieder aufgenommen würde. Die Station war zur Hälfte mit Patienten mit hämatologisch/onkologischen Erkrankungen belegt, so dass die Kooperation mit der hämatologisch/onkologischen Abteilung wechselseitig zu einer fruchtbaren Entwicklung führte. Die Einbeziehung der Angehörigen erreichte einen wichtigen Stellenwert. Die Gründung dieses „Basislagers“ war dann später für uns als Assistenten emotional und haltgebend wichtig, um auch die Beziehungsverstrickungen im Konsiliardienst durch die Einbindung in die Intervision des Teams meistern zu können. Kooperationsmodelle im Sinne des Konsiliar-Liaison-Dienstes entwickelten sich dann insbesondere zur Hämatologie, Medizinischen Intensivstation, Dialyse, Kardiologie. Neben der eindrucksvollen Kooperationsfähigkeit gab es auch eine besondere Offenheit für neue Medien: Es entstand der bekannte Film „Wer will krank sein in dieser Welt“, wo die Gesprächssituation bei der Visite filmisch dargestellt wird. Hier war in Kooperation mit der Hochschule für Gestaltung auch eine Grundlage gelegt für Köhles fortlaufende Erstellung einer Videodatenbank von Gesprächssituationen für den psychosomatischen Unterricht (NET Mediaviewer).
Die qualitative und quantitative Analyse von Visitengesprächen im Rahmen des SFB 129 in Ulm mittels Interaktionsanalysen, insbesondere auch die linguistischen und sprachanalytischen Forschungen, konnten Daten liefern, die die Bedeutung seiner praxiserprobten Interaktionsprozesse untermauerten.
Vor diesem Hintergrund der vielfältigen Schwerpunktsetzung, wodurch auch die Mitarbeiter von Karl Köhle gefordert wurden, war es dann möglich, 1979 die Erstauflage des Lehrbuchs für Psychosomatische Medizin zu veröffentlichen, aus dem sich der „Uexküll“ entwickeln sollte.
Auch nach dem Wechsel nach Köln setzte Karl Köhle den Schwerpunkt seines wissenschaftlichen Interesses, die ärztliche Gesprächsführung, fort. Es entstand das Manual für ärztliche Gesprächsführung, welches in der psychosomatischen Grundversorgung als Leitfaden fest etabliert ist. Der Reflexionsprozess über den Arzt-Patient-Dialog beschäftigte ihn auch wissenschaftlich bis über seine Pensionierung hinaus. Sein Engagement für die Lehre begleitete ihn lebenslang.
Als Leiter der Carus-Stiftung förderte er Ausbildungsmodelle auch in Reformstudiengängen (Berlin, Basel). Die besondere Sensibilität für Sprache und Phänomenologie im klinischen Handeln und in der Kommunikation teilte er mit W. Langewitz. Den Schwerpunkt der ärztlichen Gesprächsführung differenzierte er weiter auch durch Einbeziehung neuer Aspekte zur entwicklungsorientierten und selbstpsychologisch orientierten Psychotherapie. In dem Lehrbuch für Primärmedizin, herausgegeben von Helmich, stellt er dar, wie bedeutsam die Emotionsverarbeitung insbesondere beim alexithymen Patienten ist.
Seine fördernde Art, Mitarbeiter wissenschaftlich zu qualifizieren und auf Schwerpunktthemen zu setzen, machte Köln zu einer sehr produktiven wissenschaftlichen Klinik, wobei hier die Mitarbeiter im Sinne von Karl Köhle immer mit genannt werden sollen: Neben der Gesprächsführung und Unterrichtsforschung (Obliers, Körfer), setzte er Schwerpunkte vor allem in der Palliativmedizin, der Psychokardiologie (Albus), Organtransplantation (Langenbach), Alexithymie (Subic-Wrana), der Posttraumatischen Stressforschung (Siol). Neben der unterstützenden Seite konnte Karl Köhle auch sehr kämpferisch und mit langem Atem wichtige Projekte bei Förderern durchsetzen: Er erreichte bei der Krebshilfe, der Robert-Bosch-Stiftung wie auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft beeindruckende Drittmitteleinwerbungen. Hier imponierten seine Hartnäckigkeit und Überzeugungskraft.
Beim Betrachten der Lebensleistung von Karl Köhle fällt uns auf, wie es ihm gelang, die verschiedenen roten Fäden, die er an seine Mitarbeiter vermittelte, zusammenzuführen: die Umsetzung im ärztlichen Handeln, seine unbedingte Offenheit, Herzlichkeit und Akzeptanz gegenüber Patienten, die sich in seinen klinischen Fallberichten immer wieder eindrucksvoll darstellen. Wir finden hier die Fähigkeit von Karl Köhle zur Kohärenz, die sich auch in seinem Salutogenese-Denken widerspiegelt. Er verstand es, auf menschliche Weise Kooperationen immer persönlich, engagiert und warmherzig lebendig zu halten. Dies betraf auch die nationalen und internationalen Kontakte, die er mit Thure von Uexküll pflegte, die Kontakte auch zu Marina von Uexküll, Kontakte, die über das Berufliche hinausgingen und die persönliche Nähe ermöglichten.
Bis zu seinem 80. Lebensjahr suchte er den Kontakt zum Patienten in seiner Privatpraxis und beschäftigte sich kontinuierlich mit psychosomatischen Themen. Karl Köhle ist für uns einer, der den Boden bereitet hat für die Entwicklung einer ärztlichen Identität, die auf den Patienten in seiner Krankheit emotional bezogen ist. Mit seinen feinen Antennen für dialogische Prozesse öffneter den Raum für Entwicklungsprozesse, Neugier und Selbstreflexion beim Patienten.
Wir danken Karl Köhle für diesen Nährboden und für das Entwicklungsziel „Arzt“, wo wir das Glück hatten, mit ihm als Mensch und in der Profession zusammenzuarbeiten. Er übergibt uns ein fruchtbares Vermächtnis, die Einstellung zum ärztlichen Handeln und die Haltung zum Patienten weiter zu vermitteln.
Ekkehard Gaus, Peter Joraschky
Publication History
Article published online:
22 August 2022
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