Z Orthop Unfall 2022; 160(06): 607-612
DOI: 10.1055/a-1924-6581
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell

Etablierung von interdisziplinären Extremitätenboards: ein wichtiger Beitrag zur Verbesserung der Versorgung von Patienten mit komplexem Extremitätentrauma

Arne Hendrik Böcker
1   Klinik Für Hand, Plastische und Rekonstruktive Chirurgie, Plastische Chirurgie, Schwerbrandverletztenzentrum, BG Klinik Ludwigshafen, Ludwigshafen, Deutschland
,
Yves Gramlich
2   Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie, BG Klinik Frankfurt, Frankfurt am Main, Deutschland
,
Reinhard Hoffmann
3   Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie, BG Klinik Frankfurt, Frankfurt am Main, Deutschland
,
Christoph Hirche
4   Klinik für Plastische-, Hand- und Rekonstruktive Mikrochirurgie, Handtrauma- und Replantationszentrum, BG Klinik Frankfurt, Frankfurt am Main, Deutschland
,
Andreas Gather
5   Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie, BG Klinik Ludwigshafen, Ludwigshafen, Deutschland
,
Paul Alfred Grützner
6   Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie, BG Klinik Ludwigshafen, Ludwigshafen, Deutschland
,
Ulrich Kneser
7   Klinik Für Hand, Plastische und Rekonstruktive Chirurgie, Plastische Chirurgie, Schwerbrandverletztenzentrum, BG Klinik Ludwigshafen, Ludwigshafen, Deutschland
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Einleitung

In dem Streben nach einer kontinuierlichen Verbesserung der Versorgungsqualität für Unfallverletzte spielt die interdisziplinäre Zusammenarbeit eine entscheidende Rolle. Die Festlegung von Therapieentscheidungen, aber auch die Entwicklung neuer Therapiestrategien benötigt ein Fachgremium mit großer klinischer Erfahrung und breiter Kompetenz operativer Techniken. Für die Behandlung von Patienten mit malignen Tumorerkrankungen ist die Festlegung der Therapieentscheidung im Rahmen eines multidisziplinären Tumorboards gelebte Praxis. Eine Behandlung von Tumorpatienten ohne „Boardentscheid“ ist in einem onkologischen Zentrum inzwischen undenkbar. Hinsichtlich der Behandlung von Patienten mit schweren Extremitätenverletzungen ist die Etablierung eines interdisziplinären Extremitätenboards mit dem Fokus auf die funktionelle Rekonstruktion im Kontext der individuellen Situation des Patienten unbedingt sinnvoll. Angesichts der Entwicklung auf anderen Fachgebieten kann davon ausgegangen werden, dass dies auch mittelfristig von Kostenträgern und Fachgesellschaften gefordert werden wird. Ebenfalls stellt die Objektivierbarkeit und Reproduzierbarkeit differenzierter klinischer Entscheidungen für komplexe medizinische Zusammenhänge ein wichtiges Qualitätskriterium dar. In der Klinik angewandte Scores, wie der Mangled Extremity Severity Score (MESS), ermöglichen mit deutlichen Einschränkungen die Einschätzung der Prognose und können u. U. eine Entscheidungsgrundlage für oder gegen einen Extremitätenerhalt bieten. In der prospektiven Studie von Bosse et al. mit 556 Fällen konnte gezeigt werden, dass ein niedriger MESS gut mit Gliedmaßenerhalt korreliert, aber hohe Werte nicht als Prädiktoren für eine Amputation geeignet sind [1]. Somit bleibt die Entscheidung für oder gegen einen Extremitätenerhalt eine hoch individuelle Entscheidung, bei der neben operationstechnischen Aspekten auch Patienten- und Umfeldfaktoren berücksichtigt werden sollten.

In Anbetracht der zunehmenden Komplexität der Behandlung im Spannungsfeld zwischen Weichteilrekonstruktion, osteosynthetischer Versorgung und Management eines häufig vorhandenen muskuloskelettalen Infektverlaufs ist die Festlegung einer Therapieentscheidung durch einen einzigen Arzt nicht mehr zeitgemäß. Die Entscheidungsfindung in einem interdisziplinären Fachgremium erlaubt nicht nur die Einbindung der Kompetenz verschiedener Fachbereiche, sondern schafft auch eine größere Sicherheit angesichts der erheblichen medikolegalen Ansprüche. Der Einfluss von multidisziplinären Kompetenzteams auf die Qualität der Patientenversorgung konnte bereits in der Literatur nachgewiesen werden:

Im Vergleich zu Individualentscheidungen eines einzelnen Therapeuten wurden bspw. bei Patienten mit Prostatakarzinom bei Durchführung eines interdisziplinären Boards häufig noch grundsätzliche Änderungen in der Diagnose und der Einschätzung des Schweregrades der Erkrankung vorgenommen [2]. Im Weiteren haben interdisziplinäre Boards auch einen sehr hohen Einfluss auf das gewählte therapeutische Verfahren. So konnte ebenfalls im onkologischen Kontext gezeigt werden, dass nach Einführung höhere Behandlungsraten [3] kürzere Behandlungszeiten [4] und ein besseres Überleben sowie eine stärkere Berücksichtigung der Leitlinien [5] die Folge waren. Folgerichtig sind derzeit für die Beurteilung und Therapiefestlegung bei Patienten mit malignen Grunderkrankungen multidisziplinäre Behandlerteams und Fallbesprechungen im Rahmen multidisziplinärer Boards etabliert. Obwohl der Nutzen in nahezu allen Bereichen des medizinischen Handelns nachgewiesen wurde, ist die konsequente Anwendung dieses strukturierten Vorgehens bei der Analyse und der Entscheidungsfindung für traumatologische Krankheitsbilder häufig noch nicht etabliert.

In einem überregionalen Traumazentrum mit hoher unfallchirurgischer und plastisch-chirurgischer Expertise stellt die Extremitätenrekonstruktion einen zentralen Anteil der unfallmedizinischen Versorgung dar. Die Abwägung zwischen einem funktionellen, technisch möglichen, aber auch sinnvollen Extremitätenerhalt und einer ggf. notwendigen Amputation mit nachfolgender moderner prothetischer Versorgung ist eine komplexe Fragestellung, die neben der Unfallchirurgie im Regelfall die Einbindung mehrerer Disziplinen, wie bspw. der plastischen Chirurgie, Gefäßchirurgie, Mikrobiologie, Anästhesie, technischen Orthopädie und anderer erfordert. Die Einbindung der o. g. Disziplinen erfolgt mit dem Ziel, die höchste Versorgungsqualität für diese traumatologischen Komplexpatienten zu gewährleisten. Dies erfordert neuartige Formate des Informationsaustauschs und der Entscheidungsfindung und mündet nahezu zwangsläufig in den Aufbau interdisziplinärer Extremitätenboards.

Der Aufbau eines klinikübergreifenden interdisziplinären Extremitätenboards wird im Folgenden beschrieben.



Publication History

Article published online:
30 November 2022

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  • Literatur

  • 1 Bosse MJ, MacKenzie EJ, Kellam JF. et al. A prospective evaluation of the clinical utility of the lower-extremity injury-severity scores. J Bone Joint Surg Am 2001; 83: 3-14
  • 2 Sundi D, Cohen JE, Cole AP. et al. Establishment of a new prostate cancer multidisciplinary clinic: Format and initial experience. Prostate 2015; 75: 191-199
  • 3 Forrest LM, McMillan DC, McArdle CS. et al. An evaluation of the impact of a multidisciplinary team, in a single centre, on treatment and survival in patients with inoperable non-small-cell lung cancer. Br J Cancer 2005; 93: 977-978
  • 4 Yopp AC, Mansour JC, Beg MS. et al. Establishment of a multidisciplinary hepatocellular carcinoma clinic is associated with improved clinical outcome. Ann Surg Oncol 2014; 21: 1287-1295
  • 5 Vinod SK, Sidhom MA, Gabriel GS. et al. Why do some lung cancer patients receive no anticancer treatment?. J Thorac Oncol 2010; 5: 1025-1032
  • 6 Pillay B, Wootten AC, Crowe H. et al. The impact of multidisciplinary team meetings on patient assessment, management and outcomes in oncology settings: A systematic review of the literature. Cancer Treat Rev 2016; 42: 56-72
  • 7 Weller J, Boyd M, Cumin D. Teams, tribes and patient safety: overcoming barriers to effective teamwork in healthcare. Postgrad Med J 2014; 90: 149-154
  • 8 Kotsougiani-Fischer D, Fischer S, Warszawski J. et al. Multidisciplinary team meetings for patients with complex extremity defects: a retrospective analysis of treatment recommendations and prognostic factors for non-implementation. BMC Surg 2021; 21: 168
  • 9 De Ieso PB, Coward JI, Letsa I. et al. A study of the decision outcomes and financial costs of multidisciplinary team meetings (MDMs) in oncology. Br J Cancer 2013; 109: 2295-2300