Z Sex Forsch 2022; 35(04): 243-244
DOI: 10.1055/a-1958-9370
Buchbesprechungen

Leidenschaftlich analytisch. Texte zu Sexualität, Geschlecht und Psychoanalyse

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Sophinette Becker. Leidenschaftlich analytisch. Texte zu Sexualität, Geschlecht und Psychoanalyse. Gießen: Psychosozial 2021 (Reihe: Beiträge zur Sexualforschung, Bd. 111). 332 Seiten, EUR 39,90

Warum wir Sophinette Becker lesen sollten.

Der plötzliche Tod der Sexualwissenschaftlerin und psychoanalytischen Psychotherapeutin Sophinette Becker (sie war keine Psychoanalytikerin, ihr Denken war sehr psychoanalytisch geprägt) im Oktober 2019 war für die Herausgeberinnen Anna Koellreuter und Margret Hauch der Anlass, diese Anthologie zusammenzustellen. Sie ist der 111. Band der „Beiträge zur Sexualforschung“, bei denen Becker bis zu ihrem Tode Mitherausgeberin war. Zwanzig Texte aus den Jahren 1984 bis 2019 haben Koellreuter und Hauch aus dem Werk Beckers ausgewählt und zwei Jahre nach ihrem Tod mit dem Titel „Leidenschaftlich analytisch. Texte zu Sexualität, Geschlecht und Psychoanalyse“ veröffentlicht. Eingerahmt werden diese durch ein Vor- und ein Geleitwort der Historikerin Dagmar Herzog und des Sexualwissenschaftlers Martin Dannecker und ein kurzes Editorial der Herausgeberinnen. Sie alle haben Sophinette Becker persönlich lange und gut gekannt. Aus allen spricht der Schmerz über den frühen Verlust einer „heiß verehrt(en) und geliebt(en)“ Person (Herzog, S. 12) mit „fordernder Präsenz“ (Dannecker, S. 14) und einer „sehr differenzierten, widerspenstigen und nonkonformen Denkweise“ (Koellreuter und Hauch, S. 16)

Es lohnt, die Texte Sophinette Beckers zu lesen, das Resümee der Rezension ist klar. Im Folgenden möchte ich das anhand einiger Beispiele erläutern.

1. Becker ist eine große Denkerin. Wenn Becker sich mit psychoanalytischen Theorien auseinandersetzt, wie z. B. zusammen mit Cordelia Stillke im Text „Von der Bosheit der Frau“ von 1987, führt sie durch unterschiedliche psychoanalytische Theorien (hier v. a. Margarete Mitscherlichs „friedfertige Frau“), setzt diese immer wieder in Bezug zu Freud und ordnet sie in einen gesellschaftspolitischen Kontext ein. Ihre Ideen sind oft radikal, unerwartet, originell. Sie stellen eigene gefühlte Gewissheiten in Frage und auf den Kopf, wobei der eigene Erkenntnisprozess am Ende des Textes erst so richtig beginnt. Im o. g. Fall z. B. kommt sie zum auch heute noch erfrischenden Ergebnis: „Der Mythos von der friedfertigen Frau erscheint insgesamt als verharmlosende Idealisierung des von der psychoanalytischen Tradition immer wieder präsentierten Mängelwesens Frau, entwertet diese letztlich und wirkt dadurch quietistisch“ (S. 63).

2. Becker ist eine genaue und unbestechliche Beobachterin. Becker analysiert nicht nur ihre Patient*innen und setzt sich mit psychoanalytischen Theorien auseinander. Sie beobachtet gesellschaftliche Prozesse, denkt immer auch politisch und soziologisch.

Wenn sie z. B. im Text „Die Wiedervereinigung der Schuld“ von 1991 (zusammen mit Hans Becker) die „Deutsch-deutsche ‚Wieder‘-Vereinigung“ (S. 101) unter die Lupe nimmt und in Bezug zu Melanie Kleins paranoid-schizoider Position setzt, ist das auch nach 30 Jahren lohnend zu lesen.

Wenn sie in ihrem Artikel „Eine ganz normale Veranstaltung?“ von 1988 die Debattenkultur auf einem Kongress der Internationalen psychoanalytischen Vereinigung (IPV) untersucht und damit Rückschlüsse auf die Vergangenheitsbewältigung der Deutschen mit dem Nationalsozialismus zieht (zu „reibungslos“ angesichts der eigentlich notwendigen Konfrontation der Deutschen nicht nur mit ihrer direkten Täterschaft, sondern auch in ihrem Dulden und Wegschauen), dann ist das auch wertvoll für unsere heutige Debattenkultur. „Die Angst vor einem Konflikt dominierte den Ablauf des Kongresses […]. Was wäre eigentlich so schlimm daran gewesen, wenn nicht alles glatt verlaufen wäre?“ (S. 52).

Auch der Artikel „AIDS – Die Krankheit zur Wende?“ von 1985, in dem Becker die Vermischung moralischer und medizinischer Aspekte bei der Bekämpfung von HIV kritisiert, hat eine eigentümliche Aktualität. „Jede schwere Erkrankung mit möglicherweise tödlichem Ausgang stellt die (bewusste oder unbewusste) Allmachtsfantasie des Arztes in Frage, konfrontiert ihn mit Gefühlen der Hilflosigkeit. Die Abwehr dieser Gefühle […] kann sich in Form von Aggression, Entwertung, Schuldzuweisung gegenüber dem Patienten ausdrücken“ (S. 39), führt Becker aus. Gerade auf der letzten Klinischen Tagung im September 2021 stellte Martin Dannecker in einem Vortrag die aktuelle Corona-Pandemie der schon so lange andauernden HIV-Pandemie gegenüber und verglich die Auswirkungen z. B. von Isolation und Einsamkeit auf diverse sexuelle Subkulturen.

3. Becker ist unerbittlich. Becker scheut den Konflikt, den Widerspruch nicht. Sie ist immer bereit, den Gegenpart einzunehmen, nichts scheint ihr unangenehmer als unbewegliches, lähmendes Wohlbefinden. Sie setzt sich für die Aufarbeitung der Vergangenheit „ihrer“ Fachgesellschaft, der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS) („Bemerkungen zur Debatte über Bürger-Prinz. ‚Ein klassischer Profiteur des Nationalsozialismus‘“ von 1991), auch gegen Widerstände ein und wehrt sich gegen jegliches Ausweichen.

Bei den Themen Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung ist sie bereit, auch eigene Positionen in Frage zu stellen. „Früher habe ich sogenannte ‚Bisexualität‘ bei Männern grundsätzlich für abgewehrte, konflikthafte Homosexualität gehalten […]. Seit einigen Jahren kann ich das nicht mehr so eindeutig behaupten“ („Bisexuelle Omnipotenz als ‚Leitkultur‘?“ von 2013, S. 264). Sie kritisiert das „unhinterfragte(s), recht hermetische(s) Konzept von ‚konfliktfreier Kerngeschlechtsidentität‘“ („Transsexualität zwischen sozialer Konstruktion, bisexueller Omnipotenz und narzisstischer Plombe“ von 2013, S. 237) und wagt gleichzeitig die These, „dass die radikale Dekonstruktion der Geschlechterdifferenz Teil der Ideologie des Neoliberalismus ist“, im Sinne eines „in jeder Hinsicht flexiblen Konsumenten“ („Poststrukturalismus und Geschlecht: Ein Blick zurück“ von 2007, S. 214). Auch wenn sich letztere These m. E. 15 Jahre später mit Blick in Spielwarenabteilungen, Bekleidungsgeschäfte und Kosmetikabteilungen von Drogerien nicht bestätigen lässt, wo immer noch geschlechtsspezifische Säuglingskleidung, Kindershampoos und Spielzeug ab frühestem Alter ein binäres Geschlechterdenken etablieren: Die Freude am dialektischen Spiel bleibt.

Auch vor der Auseinandersetzung mit dem „letzten Tabu“ (S. 268), der Pädophilie, schreckt Becker nicht zurück („Pädophilie zwischen Dämonisierung und Verharmlosung“ von 1997 und „Bisexuelle Omnipotenz als ‚Leitkultur‘?“ von 2013). So deutlich sie sich gegen sexuelle Handlungen zwischen Kindern und Erwachsenen ausspricht, so deutlich macht sie auch, dass nicht das sexuelle Begehren der pädophilen Person verurteilenswert ist, sondern die sexuelle Handlung am Kind. „Eine einseitig gegen die Pädophilen gerichtete Verteufelung und Verfolgung greift […] meines Erachtens zu kurz“ (S. 127).

4. Becker ist warmherzig. Beckers theoretische Ausführungen sind kritisch und teilweise radikal, gleichzeitig ist spürbar, dass ihr das Wohl ihrer Patient*innen am Herzen liegt. Besonders bewegt hat mich hier ein früher Text von 1984 (gemeinsam mit Hans Becker: „Höhensonne haben Sie wohl keine?“), in dem sie sich für eine psychoanalytische Haltung einsetzt, die das konkrete Leiden der hilfesuchenden Person nicht ausklammert. „Bleibt man bei der These, Psychoanalyse habe lediglich den Auftrag des Verstehens, berücksichtigt man also nicht die individuelle intrapsychische und soziale Realität des Analysanden, so kann kleineres Leid in größeres verwandelt werden“ (S. 29). Sie beanstandet eine elitäre Haltung von Psychoanalytiker*innen, die einen „schichtspezifischen Sprachunterschied zwischen Therapeut und Patient“ als „Defekt in den sprachlichen Interaktionsmöglichkeiten“ einordnen (S. 32). Ihr Plädoyer: sich den Möglichkeiten der Patient*innen anzupassen und insbesondere körperliche Ausdrucksformen wie psychosomatische Beschwerden in den Verstehensprozess mit einzubinden. Es ist eindrücklich, wie pointiert sie bereits im Jahr 1982 eine Situation beschreibt, die sich vierzig Jahre später deutlich zugespitzt hat: „Künstlich geschaffene Barrieren wie Geld, Zeit und lange Wartezeiten dürfen vom Therapeuten nicht als Pathologie des Patienten interpretiert werden, wenn der Analytiker nicht nur den aufgeklärten Analysanden aus dem Oberschicht-Getto will“ (S. 33).

Was auch dazu gehört. Sophinette Becker konnte, das soll hier nicht verschwiegen werden, Menschen sehr vor den Kopf stoßen. Insbesondere ein Artikel (Z Sexualforsch 2005; 18: 273–279) mit dem sehr unglücklich gewählten Titel „Der Unbursch – Option Frau-Sein als Ausweg aus gescheiterter Männlichkeit?“ und der diesem zugrunde liegende Vortrag auf der Klinischen Tagung der DGfS aus dem Jahr 2003 hat (nicht nur) bei Betroffenen Befremden und auch Empörung ausgelöst. Hier werden Mann-zu-Frau-Transsexuelle ohne erkennbare empirische Grundlage kategorisiert. Näher auf die Inhalte einzugehen, würde den Rahmen sprengen, eine Anmerkung sei jedoch erlaubt: Der ursprünglich von einer Supervisandin Beckers benutzte und möglicherweise ganz anders konnotierte Begriff des „Unburschs“ (der sofort negative Assoziationen wie Unhold, Ungeheuer, Unwesen hervorruft) wurde in den Titel übernommen und zumindest im niedergeschriebenen Text auch nicht näher reflektiert. Der Artikel wurde zu Recht nicht in den Sammelband aufgenommen.

Becker war eine Person voller Charisma, Engagement und Radikalität und es gilt auszuhalten und nicht auszublenden, dass es auch Scherben gab und dass einige der – auch innerhalb der DGfS – geführten Konflikte auch im Zusammenhang mit dem Thema Trans und dem Umgang mit Transpersonen unversöhnlich blieben. Das musste ich selbst im Zuge meiner Beschäftigung mit diesem Buch und ihrer Person erkennen und anerkennen: Idealisierung ist nicht am Platz und wäre ganz sicher nicht von ihr gewollt. Es bleibt die Einladung, sich mit den Werken einer außergewöhnlichen und streitbaren Denkerin zu konfrontieren und auseinanderzusetzen.

Zur Edition. Die Texte sind chronologisch geordnet, was die Herausgeberinnen damit begründen, „die Entwicklung ihrer Argumente und ihrer Themenschwerpunkte im Verlauf ihrer Berufsbiografie nachvollziehbar zu machen“ (S. 16). Die Nennung des Veröffentlichungsjahres im Titel und nicht nur im Drucknachweis im Anhang des Buches hätte das noch erleichtert. Diese Herangehensweise hat sicherlich ihre Vorteile, möglicherweise besonders für Personen, die mit Beckers Texten bereits vertraut sind und das Buch als Gelegenheit nehmen, ihr Schaffen über die Lebensspanne hinweg nachzuvollziehen. Erstlesende würden wahrscheinlich mehr von einer thematischen Bündelung und teilweise etwas mehr kontextueller Einbettung (insbesondere zu den Tagungs- und Kongressberichten) profitieren. Vielleicht widerstrebte den Herausgeber*innen eine Kategorisierung der dichten und vielschichtigen Texte?

Im Vordergrund steht das große Verdienst von Koellreuter und Hauch, diese wunderbaren Texte ausgewählt und so schnell nach Sophinette Beckers Tod einer großen Leser*innenschaft zur Verfügung gestellt zu haben. Ich empfehle die Lektüre nicht nur Personen aus Forschung und Wissenschaft, Psychoanalyse und Psychotherapie und/oder Personen, die sich beruflich oder privat mit dem Thema Sexualität auseinandersetzen, sondern allen Menschen, die Freude am Denken haben.

Annika Flöter (Hamburg)



Publication History

Article published online:
06 December 2022

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