Schlüsselwörter
Tinnitus - Komorbidität - bildgebende Verfahren - funktionelles Kernspintomographie - Elektroenzephalographie - Magnetenzephalographie
1. Einführung
Subjektiver Tinnitus beschreibt die Wahrnehmung eines tonalen oder komplexeren
Geräusches ohne das Vorliegen einer externen Quelle. Deshalb wird auch
häufig von einem Phantomgeräusch gesprochen, ähnlich zum
Phantomschmerz. Eine Beschreibung als eng umschriebenes Phänomen der
Hörbahn bzw. des Hörsystems scheint deshalb naheliegend. Tinnitus
kann als Folge jeglicher Verletzung auf der Hörbahn entstehen, wie
z. B. einem Hörsturz oder Presbyakusis. Ebenso können
Verletzungen des Hörnervs, z. B. durch ein ein
Vestibularis-Schwannom, einen Tinnitus bedingen. Diese Beeinträchtigungen
führen zu Veränderungen der kortikalen Aktivität und
letztendlich zu einer Wahrnehmung des Tinnitus. Die Verbindung von Läsion
bzw. Schwerhörigkeit und Tinnitus ist jedoch komplex.
Schwerhörigkeit führt nicht zwingend zu Tinnitus und nicht jeder
Patient mit chronischem Tinnitus weist eine abnorme Hörschwelle auf. Es
wurde deshalb vermutet, dass jegliche Kombination einer Veränderung des
auditiven bzw. somatosensorischen Inputs zusammen mit veränderter
zentralnervöse Aktivität bzw. Strukturen Tinnitus hervorbringen kann
[1]. Basierend auf neurophysiologischen
Studien wurde vermutet, dass in der Folge der veränderten Aktivität
Tinnitus mit einer Reorganisation tonotopischer Karten (tonotopic maps) einhergeht
[2]. Tonotope Organisation ist ein
Kennzeichen des Hörsystems bei Säugetieren, entspringt in der
Cochlea und setzt sich beim Menschen bis in den Neokortex fort [3]
[4].
Allein aus diesem kurzen Überblick lässt sich schon erkennen, dass es
sich bei Tinnitus um ein sehr heterogenes Störungsbild handelt. Neben den
oben genannten Beeinträchtigungen der Hörbahn (siehe dazu
z. B. auch die aktuelle S3 Leitlinie [5]) wird chronischer Tinnitus (bei einer Persistenz von mehr als 3
Monaten) in den meisten Fällen von erhebliche kognitiven und affektiven
Störungen begleitet. In der kognitiven Domäne sind
Auffälligkeiten vor allem im Bereich der Aufmerksamkeit [6]
[7]
[8], der exekutiven Funktionen
und Gedächtnisfunktionen zu nennen. Diese Beeinträchtigungen von
zentralen Prozessen können auch Ursache für Störungen des
Sprachverständnisses sein. So konnte eine neuere Studie zeigen, dass
tatsächlich die Wahrnehmung von sprachlichen Signalen gestört ist,
nicht aber die Wahrnehmung der Sprecher bzw. der Stimmen [9]. Die Beeinsträchtigung der
Wahrnehmung kann also nicht durch eine zu schwache oder undeutliche
Repräsentation des auditiven Signals per se erklärt werden.
Neben diesen Auffälligkeiten der Kognition sind bei Tinnitus insbesondere
affektive Störungen zu beobachten (siehe Mazurek et al., weiteres Referat
für die DGHNO-Tagung 2023). Eine jüngere Untersuchung verglich vier
Gruppen im Hinblick auf psychopathologische Beeinträchtigungen:
dekompensierte Tinnituspatienten, kompensierte Tinnituspatienten, Patienten mit
einer majoren Depression ohne Tinnitus und unbeeinträchtige
Kontrollprobanden [10]. Bei allen Gruppen
wurden evaluierte Fragebögen zu Angst, depressiver und psychosomatischer
Symptomatik erhoben. Die vier Gruppen ließen sich mit einer kanonische
Diskriminanzanalyse anhand von zwei Faktoren unterscheiden. Faktor 1 wurde als
„allgemeine Psychopathologie“ bezeichnet, da die meisten
Fragebögen stark auf diesen Faktor ansprachen. In Bezug auf diesen Faktor
waren Patienten mit dekompensiertem Tinnitus und Patienten mit majorer Depression
gleich stark und stärker als Patienten mit kompensiertem Tinnitus
beeinträchtigt während diese ebenfalls deutlich stärker
beeinträchtigt waren als gesunde Kontrollpersonen. Beide Tinnitusgruppen
(kompensiert und dekompensiert) erreichten höhere Werte als die beiden
anderen Gruppen in Bezug auf Faktor 2, der „Somatisierung“.
Übereinstimmend mit früheren Studien konnte diese Untersuchung die
starke psychopathologische Belastung bei kompensiertem, aber insbesondere
dekompensiertem Tinnitus zeigen. Durch das quantiative Vorgehen ließ sich
die erhöhte Belastung auch bei kompensierten Tinnituspatienten nachweisen,
auch wenn sie nicht klinisch auffällig im eigentlichen Sinne waren.
Zusammenfassend lässt sich anhand dieser Beispiele bereits erkennen, dass es
sich bei Tinnitus um ein äußerst heterogenes Störungsbild
handelt, das unterschiedliche physische, emotionale und kognitive Domänen
betrifft. Um das Kommende kurz vorwegzunehmen, weisen aktuelle neurophysiolgische
Ergebnisse in dieselbe Richtung. Diese Erkenntnisse wurden mit diversen Verfahren
gewonnen, deren Stärken und Schwächen in Folge kurz dargestellt
werden.
2. Neurologische, neurophysiologische und neurokognitive
Untersuchungsmethoden
2. Neurologische, neurophysiologische und neurokognitive
Untersuchungsmethoden
Neurophysiologische Methoden der Bildgebung lassen sich grundsätzlich auf
zwei Dimensionen beschreiben, einer zeitlichen und einer räumlichen.
Aktuelle Untersuchungsverfahren zeigen auf diesen Dimensionen ihre Stärken
und Schwächen. Kernspintomographie (MRT), als eine Methode zur Erfassung von
strukturellen und funktionellen Eigenschaften des Gehirns, hat eine sehr hohe
räumliche Genauigkeit und erlaubt die Lokalisierung von Strukturen und
entsprechender Aktivierung im Kubikmillimeterbereich bei typische
Magnetfeldstärken von 1,5 bis 3 Tesla. MRT ist eine der am
häufigsten verwendeten nicht-invasiven Methoden, die jedoch kostenintensiv
ist und speziell geschultes Personal erfordert. Mit Hilfe von voxel-basierter
Morphometrie (VBM) kann das gesamte Gehirn in volumetrischen Bildpunkten (voxel)
repräsentiert werden, so dass sich morphometrische Unterschiede individuell
oder über Gruppen hinweg abbilden und für statistische Auswertungen
quantifizieren lassen. Die dafür notwendigen strukturellen Aufnahmen im
Kernspintomographen dauern üblicherweise nur wenige Minuten. Basierend auf
solchen strukturellen Aufnahmen lassen sich auch Methoden zur
Diffusionstensorbildgebung (DTI) durchführen. Dadurch lassen sich
Diffusionsbewegungen von Wassermolekülen im Gehirn abbilden und
quantifizieren. Häufig wird DTI verwendet, um den Verlauf, die
Stärke und Effektivität von großen
Nervenfaserbündeln zu bestimmen. Häufig verwendete Maße sind
fraktionelle Anisotropie (FA, die Gerichtetheit der weißen Fasersubstanz)
sowie axiale Diffusivität (AD, die Stärke der Diffusion in
Faserrichtung) und radiale Diffusivität (RD, die Stärke der
Diffusivität senkrecht zur Hauptrichtung). Mit diesen Maßen
lässt sich die Unversehrtheit bzw. Betroffenheit von Axonen und ihrer
Myelinisierung erfassen.
Neben struktuellen Messungen erlaubt MRT auch die Bestimmung von funktioneller
neuronaler Aktivität. Diese beruht auf dem “blood oxygeneation level
dependent” (BOLD) Effekt, mit dem die regionale Verteilung von stark
sauerstoffhaltigem Blut im Gehirn, und somit die Aktivität, gemessen werden
kann. Während die räumlich Genauigkeit dabei ebenfalls sehr hoch
ist, liegt die zeitliche Auflösungsfähigkeit allerdings im Bereich
von mehreren Sekunden. Bei Messungen im Kernspintomographen ist eine erhebliche
Lärmbelastung zu berücksichtigen, was durchaus sehr belastend
für Tinnituspatienten sein kann.
Elektro- und Magnetenzephalographie (EEG und MEG) sind Methoden, die die
synchronisierte Aktivität größerer Zellverbünde
direkt und vollkommen nicht-invasiv erfassen. Die räumliche Genauigkeit zur
Bestimmung des Ursprungs des Signals lässt sich weniger genau als bei MRT
bestimmen, steigt jedoch mit der Anzahl der verwendeten Sensoren. Die Lokalisierung
der Aktivität beruht auf mathematischen Modellierungsverfahren, bei denen
z. B. die Kopfform, die elektrischen Leitfähigkeitseigenschaften im
Kopf und die zu Grunde liegende Anzahl neuronaler Quellen, in die Modellierung
eingehen. Im Gegensatz zur eher beschränkten räumlichen
Auflösungsfähigkeit liegt die zeitliche Auflösung im Bereich
von Millisekunden. Insbesondere EEG ist ein sehr weit verbreitetes Verfahren, das
kostengünstig ist und wenig Personal erfordert.
Die genannten Methoden zur Aktivitätsmessung des Gehirns erlauben die
Erfassung der spontanen Aktivität, d. h. ohne externe Reize und ohne
dass die Versuchspersonen in eine durchzuführende Aufgabe eingebunden sind
(sog. “resting state” Aktivität), als auch die Erfassung von
evozierter Aktivität. Bei evozierter Aktivität wird die Antwort des
Gehirns auf einen sensorischen Reiz gemessen, der mit Durchführung einer
Aufgabe (z. B. Tastendruck), verbunden sein kann.
3. Stukturelle Veränderungen bei Tinnitus
3. Stukturelle Veränderungen bei Tinnitus
Strukturelle Veränderungen wurden bei Tinnitus nicht nur in auditorischen und
sensorischen, sondern auch in limbischen Bereichen berichtet [11]
[12].
Allerdings wurden verschiedene Bereiche mit erhöhtem oder verringertem
Volumen der grauen Substanz (Gray Matter Volume, GMV) in verschiedenen Studien
gefunden: So zeigte das GMV im Heschl’schen Gyrus und Gyrus Heschl und Gyrus
temporalis superior Veränderungen in beide Richtungen bei Tinnitus Patienten
im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen [13]
[14]
[15]
[16],
während das Volumen des Colliculus inferior (Landgrebe et al., 2009)
verringert und das Volumen des medialen Geniculus medialis (Muhlau et al., 2006) bei
den Patienten erhöht war. Was die nicht-auditiven limbischen Hirnstrukturen
betrifft, so wurde eine verringerte GMV im ventromedialen (vmPFC) und dorsomedialen
(dmPFC) präfrontalen präfrontalen Kortex, Nucleus accumbens
anterioren (ACC), posterioren cingulären Kortex, Hippocampus und
supramarginaler Gyrus berichtet [15]
[17]
[18]
[19]. Die Veränderungen
in einigen dieser Bereiche wurden jedoch durch Hörverlust moduliert [13]
[14]
[20]. In einigen Studien wurden
regionale Volumina mit depressiver and affektiver Komorbidität in Verbindung
gebracht, wie etwa die Insula, das Kleinhirn und der ACC [19]
[21].
In einer neuren Studie wurde das Problem der psychiatrischen Komorbidität in
Bezug auf die durch Tinnitus verursachten strukturellen Veränderungen im
Gehirn untersucht ([22], parallel zu Ivansic et al., 2019). Während die
hypothesen-basierte (region of interest basierte) Analyse von Hirnarealen, die bei
Tinnitus eine Rolle spielen (insbesondere parahippocampaler Kortex, ACC und
superiorer temporaler/transversaler temporalen Kortex) Haupteffekte von
Tinnitus im parahippocampalen Kortex und Befunde auf Trendniveau im ACC und den
superioren/transversalen temporalen Kortizes zeigten, überlebten
mehrere andere Befunde auf Ganzhirnebene (z. B. im Precuneus) eine
konservativere Korrektur für statistische Mehrfachvergleiche nicht. Die
Verringerung der parahippocampalen Substanz wurde auch in einer Vergleichsanalyse
von Tinnitus-Patienten ohne psychiatrische Komorbidität im Vergleich zu
gesunden Kontrollen gefunden, was die obigen Ergebnisse untermauert. Das bedeutet,
dass selbst wenn Patienten die diagnostischen Kriterien für eine
psychiatrische Störung nicht erfüllen, so sind sie dennoch
stärker belastet als gesunde Kontrollpersonen. Als wichtigste Ergebnis
dieser Studie bezüglich der hirnstrukturellen Assoziationen dieses Leidens
bei Tinnitus-Patienten erscheint die besondere Bedeutung limbischer Strukturen
(anteriorer und hinteren cingulären Gyri und parahippocampalen Gyri). Eine
aktuelle Studie [23] untersuchte strukturelle
Veränderungen nach einem Hörtraining und verglich Patienten, die
sich verbessert hatten mit jenen, die vom Training nicht profitierten. Im Vergleich
zu den Patienten, die eine Verbesserung zeigten, hatten Patienten ohne Verbesserung
eine signifikante Abnahme des Volumens der grauen Substanz im rechten mittleren
frontalen Gyrus (MFG) sowie im rechten präzentralen Gyrus (PreCG). Die
Verbesserung der auditorischen Perzeption mit Training geht also insbesondere mit
Veränderungen in frontalen und nicht mit typisch auditiven Strukturen
einher. Eine sehr aktuelle Metaanalyse verglich Gruppen von Patienten mit und ohne
Tinnitus, bei denen ein Hörverlust messbar war oder nicht [24]. Die Autoren berichten eine kleine
Verringerung der grauen Substanz im linken inferioren gyrus temporalis bei normal
hörenden Tinnituspatienten im Vergleich zu Gruppen von hörenden
Personen ohne Tinnitus. Im Kontrast dazu ging Tinnitus bei den Gruppen mit
Hörverlust einher mit erhöhter grauer Substanz im bilateralen Gyrus
lingualis und dem bilateralen Precuneus. Diese Studie legt nahe, dass die
Veränderungen in der grauen Substanz bei Personen mit und ohne Tinnitus
durch den Hörverlust getrieben wird.
4. Veränderungen der weißen Fasersubstanz bei Tinnitus
4. Veränderungen der weißen Fasersubstanz bei Tinnitus
Eine erste DTI-Studie ermitteltete bei Tinnituspatienten gegenüber gesunden
Kontrollprobanden eine verringerte FA im rechten präfrontalen Bereich, im
linken inferioren und superioren longitudinalen Fasciculus und in der anterioren
thalamischen Radiatio [25]. Im Gegensatz dazu,
zeigten andere Autoren allerdings eine erhöhte FA in ähnlichen
Regionen wie dem inferioren longitudinalen Faszikulus und der anterioren
thalamischen Radiatio [26] sowie in
auditorischen und limbischen Bereichen [27].
Andere DTI Studien widmeten sich dem Zusammenhang zwischen wahrgenommner
Lautstärke des Tinnitus und Maßen der Integrität der
weißen Substanz. So wurde in der anterioren thalamischen Radiatio und dem
ventromedialen präfrontalen Kortex eine positive Korrelation zwischen
empfundener Lautstärke und FA und einer negativen Korrelation zwischen
Lautstärke und RD sowie AD berichtet [19]
[28]. Eine Zunahme der RD auf
der Ebene des lateralen Lemniskus und des inferioren Colliculus wies dabei auf das
Vorhandensein von Demyelinisierungsvorgängen hin [29]. Diese Studie betonte, dass
Hörverlust, aber nicht der Tinnitus per se mit Veränderungen der
weißen Substanz verbunden war (Lin et al., 2008). Eine Zunahme der AD in der
linken superioren, mittleren und inferioren temporalen weißen Substanz wies
ebenso auf eine axonale Degeneration bei Tinnitus-Patienten im Vergleich zu
Kontrollpersonen hin [30]. Insgesamt betonen
neuere DTI Studien, dass die Unterschiede zwischen Tinnituspatienten und Kontrollen
weniger durch den Tinnitus selbst bedingt sind, sondern vor allem durch Alter und
einer veränderten Hörschwelle der Patienten erklärt werden
können [31]. Diese Faktoren sowie der
erlebte Tinnitusdistress und die vorhandenen Komorbiditäten mögen
die oben genannten widersprüchlichen Ergebnisse wenigstens zum Teil
erklären und sollten in zukünftigen Studien erfasst werden, um die
anatomische Heterogenität von Tinnituspatienten aufzuklären.(Schmidt
et al., 2018). Eine jüngst publizierte Studie mit einer sehr genauen
Kontrolle dieser Aspekte konnte keine Veränderungen in der weißen
Substanz nachweisen, die mit der wahrgenommenen Lautstärke des Tinnitus
korrelieren. Das Ausmaß an Hörverlust und Tinnitusdistress
korrlierte jedoch mit Veränderungen in der Radiatio acustica und dem
Fasciculus arcuatus [32].
5. Funktionelle Veränderungen bei Tinnitus
5. Funktionelle Veränderungen bei Tinnitus
Kernspintomographische Studien an Tinnituspatienten dienten auch dazu funktionelle
Veränderungen abzubilden (fMRT), die erlauben, dysfunktionale
Netzwerkaktvität zu bestimmen. Im Vergleich zu allen anderen Methoden ist
fMRT das am häufigsten angewandte Bildgebungsverfahren. Auch auf Grund der
Kürze und Einfachheit der Untersuchung stellt “resting-state
fMRT” (rs-fMRT) ein sehr häufig verwendetes Verfahren dar, bei dem
die Versuchsperson nicht in eine Aufgabe eingebunden ist. Diese rs-fMRT Aufnahmen
erlaubten über untersuchte Populationen, Analysemethoden und
Aufnahmeprotokoollen hinweg die Identifikation mehrerer sogenannter resting-state
Netzwerke: sensorimotorisches Netzwerk, auditives Netzwerk, limbisches Netzwerk,
visuelles und extrastriatäres visuelles Netzwerk,
insular-temporales/anterior cinguläres Salienz Netzwerk (ACC), links
und rechts lateralisiertes frontoparietales Netzwerk (Aufmerksamkeit), dorsale und
ventrale Aufmerksamkeitsnetzwerke, default mode Netzwerk (DMN) und ein Netzwerk
für frontale exekutive Funktionen [33]. Eine frühere Übersichtsarbeit [34] kam anhand von sechs verfügbaren
Studien zu dem Schluss, dass insbesondere das limbische DMN und die
auditorisch-limbische funktionelle Konnektivität bei Tinnitus im Ruhezustand
erhöht ist. Eine sehr aktuelle Arbeit [35] liefert einen Überblick über 29 Studien, von denen 26
Studien Auffälligkeiten bei Tinnituspatienten im Vergleich zu Kontrollen in
resting state Netzwerken berichten. Darunter zählt das auditorische Netzwerk
(19 Studien), das DMN (17 Studien), das visuelle Netzwerk (14 Studien), das dorsale
(7 Studien) und ventrale (1 Studie) Aufmerksamkeitsnetzwerk, das Netzwerk
für exekutive Funktionen (9 Studien) und das limbische System (8 Studien).
Die Autoren betonen, dass die Befunde von den untersuchten Regionen von Interesse
(ROIs) abhingen, ob also a-priori bestimmte Regionen in die Analysen eingeschlossen
wurden oder nicht. Die Autoren schlugen deshalb vor, dass künfigte Studien
Replizierbarkeit von Ergebnisse in den Vordergrund stellen sollten. Bei den
begutachteten Studien war bei den untersuchten Gruppen wiederum eine starke
Heterogenität sichtbar und konfundierende Variablen sind nicht angemessen
kontrolliert worden. Nichtsdestotrotz weisen die Ergebnisse in der Gesamtschau
darauf hin, dass bei Tinnitus mehrere sich überschneidende Netzwerke
beteiligt sind. Es bleibt jedoch unklar, welche Veränderungen primär
durch mit dem Tinnitus einhergehen und welche sekundär als Folge des
Tinnitus entstehen. In einem Modell, dem sog. “Triple Network
Model”, wird basierend auf diesen Untersuchungen vorgeschlagen, dass bei
akutem Tinnitus das default mode Netzwerk und das Netzwerk für exekutive
Funktionen anitkorreliert sind. Bei chronischem Tinnitus verschwindet diese
Antikorrelation und ein dysfunktionales Triple Netzwerk, bestehend aus dem DSM, dem
exekutiven und dem Salienz Netzwerk, entsteht, das dem tinnitus-assoziierten Leiden
und den kognitiven exekutiven Beeinträchtigungen zu Grunde liegt [36].
Eine aktuelle Studie untersuchte die tonotopen Veränderungen bei Tinnitus und
in diesem Zusammenhang nicht resting state Aktivität, sondern die
Gehirnaktivität als Antwort auf sinusoidale Töne mit Frequenzen
zwichen 0.25 und 8 kHz [37].
Untersucht wurden Personen mit und ohne Tinnitus, die aber alle einen bilateralen
Hörverlust aufwiesen sowie eine Kontrollgruppe. Die Aktivität in
bilateralen Regionen des auditorischen Kortex war bei den Gruppen mit
Hörverlust im Vergleich zur Kontrollgruppe höher. Dies war am
deutlichsten sichtbar in der Gruppe ohne Tinnitus. In ähnlicher Weise
unterschieden sich die tonotopischen Karten der Gruppe mit Hörverlust ohne
Tinnitus von denen der Kontrollgruppe. Im Kontrast dazu unterschieden sich die
tonotopen Karten der Teilnehmer mit Tinnitus sich nicht von den Kontrollen. Diese
Ergebnisse zeigen, dass höhere Aktivierung und eine Reorganisation tonotoper
Karten ein Merkmal von Hörverlust und nicht von Tinnitus sind.
6. Evidenz durch Elektro- und Magnetenzephalographie zur Darstellung
dysfunktionaler Netzwerk Aktivität bei Tinnitus
6. Evidenz durch Elektro- und Magnetenzephalographie zur Darstellung
dysfunktionaler Netzwerk Aktivität bei Tinnitus
Komplementär zum resting-state bei Tinnituspatienten anhand von fMRI, kamen
EEG und MEG Untersuchungen zu vergleichbaren Schlussfolgerungen. In einer MEG Studie
mit Quellenlokalisation wurden weitreichende kortikale Verbindungen bei
Tinnituspatienten im Vergleich zu Kontrollen untersucht [38]. Die Studie suchte nach sogenannten
“hubs” innerhalb von verzweigten Netzwerken, die unterschiedliche
Regionen verbinden. Dabei zeigte sich der präfrontale Kortex, der
orbitofrontale Kortex und parieto-okkzipitale Regionen als zentrale Strukturen im
Tinnitus-Netzwerk und der Informationsfluss in Richtung des temporalen Kortex
korrelierte mit dem Schweregrad der Tinnitusbelastung. Änderungen in
funktioneller Konnektivität wurde in einer EEG Studie gezeigt [39], welche die Rolle von Stress bei der
Wahrnehmung von Tinnitus untersuchte. Dabei wurde die Rolle des Parahippocampus als
Knotenpunkt eines Netzwerks, welches zusätzlich den posterioren und
anterioren cingulären Kortex, die Insula und die auditorischen
Kortexregionen umfasste, betont. In einer weiteren EEG Studie konnte eine
Reorganisation des gesamten Tinnitus-Netzwerks beobachtet werden, die sich in einer
Abnahme der Stärke und Effizienz des Informationstransfers zwischen
fronto-limbischen und medialen temporalen Regionen widerspiegelte [40]. Diese Regionen bildeten auch die
wichtigsten Knotenpunkte des Tinnitus-Netzwerks ab. Teile dieses Netzwerkes und
dabei speziell die Verbindungen vom linken Hippocampus/Parahippocampus zum
subgenualen anterioren cingulären Kortex waren stark mit der
Tinnitusbelastung korreliert.
Eine MEG Studie erbrachte sehr ähnliche Ergebnisse, aber konnte mittels
komplexerer Konnektivitätsmaße zeigen, dass die Rolle der linken
parahippocampalen Region durch den dorsomedialen präfrontalen Kortex
moduliert wird, einer Region, die typischerweise dem dorsalen
Aufmerksamkeitsnetzwerks zugerechnet wird und an der Regulation der emotionalen
Verarbeitung beteiligt ist [41].
Zusätzlich erbrachte diese Analysemethode über den gesamten Kortex
neue Erkenntnisse über die Rolle des linken inferioren parietalen Kortex,
welcher die Aktivität des rechten superioren Gyrus temporalis modulierte
(siehe [Abb. 1]). Neben diesen Studien
basierend auf resting-state Messungen, wurden eine Reihe von Studien publiziert,
welche die Gehirnaktivität als evozierte Antwort auf auditive Stimulation im
Fokus hatten. Wiederholt wurde über eine Tinnitus-bedingte Zunahme
neuronaler Erregbarkeit berichtet, die sich z. B. in der Amplitude der
auditorischen N1-Komponente widerspiegelte. Diese frühe auditorisch
evozierte Komponente wird dabei häufig zur objektiven Bewertung von
stimulusassoziierten EEG/MEG-Signalen oder als Biomarker zur Anzeige
typischer und atypischer kortikaler Entwicklung verwendet (für eine
Übersicht siehe Tomé et al., 2015; [42]). Tinnitus-Patienten hatten im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen
eine höhere N1-Amplitude als Reaktion auf einen frequenzspezifischen Ton
außerhalb der Region des Hörverlusts, typischerweise 500Hz- oder
1kHz-Töne (Pantev; 1989; Hoke et al., 1998; [44]), oder auch als Reaktion auf Töne mit der Tinnitus-Frequenz
(Kadner et al., 2002; Pineda et al., 2008). Im Gegensatz dazu weisen jedoch andere
Autoren signifikant kleinere N1-Amplituden bei Tinnitus-Patienten im Vergleich zu
normalhörenden Kontrollpersonen nach [45]
[46] oder zeigten keinen
statistischen Unterschied in der Reaktion auf einen 1-kHz-Ton [47]
[48].
Die Inkonsistenz dieser Ergebnisse ist möglicherweise auf relativ kleine
Stichprobengrößen (<30 Probanden) und unterschiedliche
methodische Strategien zurückzuführen, wie z. B.
unterschiedliche und/oder eine variierende Anzahl von a-priori definierten
ROIs oder durch Einschränkungen auf eine geringe Anzahl von Quellen in der
Modellierung der Gehirnaktivität. Wenn Quellmodellierungsmethoden verwendet
wurden, die eine große Anzahl von möglichen Quellen zuliessen, wurde
innerhalb des N1 Zeitfensters ein Zusammenspiel aus temporalen, frontalen und
parietalen Regionen berichtet [49]
[50].
Abb. 1 Signifikant höhere Konnektivität bei
Tinnituspatienten im Vergleich zu Kontrollprobanden. Die Pfeile stellen
Verbindungen zwischen Regionen mit größerer
Konnektivtät bei Tinnituspatienten dar, wobei die Dicke der Pfeile
die Stärke der Konnektivität repräsentiert. Diese
Ergebnisse zeigen, dass es einen Cluster von Verbindungen im dorsalen
präfrontalen Kortex, dem linken medialen Kortex, parahippocampalen
Regionen, dem linken inferioren temporalen und dem lateralen okkzipitalen
Gyrus sowie dem rechten intraparietalen Lobus gibt (für Details
siehe [41]).
7. Schlussfolgerungen und Ausblick
7. Schlussfolgerungen und Ausblick
Tinnitus ist ein häufiges Symptom mit einer Prävalenz in Europa von
etwa 15%, wobei 1–2% der Bevölkerung unter starkem
Tinnitus leiden [51]. Die Überalterung
der Gesellschaften und der damit einhergehende Hörverlust dürfte zu
einer sich weiter erhöhenden Prävalenz führen. Die dadurch
entstehenden Kosten für die Gesundheitsversorgung sind bereits
beträchtlich [52]
[53] und werden weiter steigen. Insbesondere
Tinnitus mit schwerer Ausprägung ist durch hohe Komorbidität
gekennzeichnet, die sich in diversen körperlichen, emotionalen und
kognitiven Symptomen äußern kann. Allein aus diesem Grund ist es
naheliegend, dass Tinnitus nicht als eng umschriebenes rein auditives
Phänomen konzeptualisiert werden kann. Die Ergebnisse mit den hier
beschriebenen neurophysiologischen Methoden erlauben sehr ähnliche
Schlussfolgerungen. Unabhängig von den verwendeten Methoden, den
Analyseverfahren, der Heterogenität der Stichproben, der Einbindung von
Versuchspersonen in Aufgaben, wurde gezeigt, dass Tinnitus durch eine komplexe
dysfunktionale Netzwerkaktivität gekennzeichnet ist. Neben auditorischen
temporalen Regionen sind besonders häufig parietale, frontale und
insbesondere limbische Systeme betroffen. Wohingegen frühere Analysemethoden
nur eine gleichzeitige Aktivierung nachweisen konnten, erlauben neuere Verfahren
Abhängigkeiten zwischen spezifischen Aktvierungsmustern und Regionen zu
etablieren, so dass die Richtung der Konnektivität bestimmt werden kann. An
mehreren Stellen in dieser Übersichtsarbeit wurde betont, dass zum
Verständnis des chronischen Tinnitus eine Reihe von konfundierenden
Variablen kontrolliert werden müssen, darunter besonders der
Hörverlust und die komorbide Symptomatik. Wünschenswert wäre
bei zukünftigen Studien ein Fokus auf Replikation, einer angemessene Menge
von Versuchspersonen sowie umfassender interdisziplinärer Diagnostik [54].
Diese Überblicksarbeit sollte eine Zusammenschau der gebräuchlichsten
nicht-invasiven Verfahren liefern. Diese Verfahren haben gemein, dass sie die
strukturellen und funktionellen Eigenschaften des Gehirns möglichst
großflächig erfassen können. Nahinfrarotspektroskopie (NIRS)
ist ein ebenfalls nicht-invasives Verahren, mit dem elektromagnetische Strahlung im
Infrarotbereich gemessen wird. Diese Methode dient zur Bestimmung des Blutvolumens
und Blutflusses sowie des Sauerstoffgehaltes, von verschiedenen Geweben wie
z. B. des Gehirns. Ähnlich zu EEG und MEG ist die zeitliche
Auflösung sehr hoch und die räumliche eher moderat (wiederum
abhängig von der Anzahl der verwendeten Sensoren). Im Vergleich zu den oben
genannten Methoden ist NIRS neu und wurde, besonders in der Forschung zu chronischem
Tinnitus, bisher nur wenig eingesetzt. Aktuell ist die Anzahl der verwendeten
Sensoren relativ klein, so dass a priori entschieden werden muss, die
Aktivität welcher Regionen aufgezeichnet und ausgewertet wird. Erste
Untersuchungen weisen auch hier daraufhin, dass sich kortikale Veränderungen
bei Tinnitus nicht auf auditive Regionen beschränken [55], sondern auch hier z. B.
emotionsrelevante Regionen betreffen [56].
Um die kausale Rolle von bestimmten Regionen und Netzwerken zur Entstehung des
chronischen Tinnitus zu bestimmen, sind Längsschnittuntersuchungen und
insbesondere Studien zum Übergang von einem akuten in einen chronischen
Zustand bei Patienten wünschenswert. Zurzeit fehlen diese Untersuchungen,
was auch aus klinischer Sicht eine große Lücke in der Literatur
darstellt. Wünschenswert wäre ebenfalls eine Kombination von
neurophysiologischen Verfahren, um z. B. die Vorteile verschiedener
Verfahren gleichermaßen auszuschöpfen. Dies ließe
Aufschlüsse über räumliche und zeitliche Aspekte von
Gehirnaktivierung zu. Eine weitere Lücke in der Literatur sind
Längsschnittuntersuchungen im Verlauf von therapeutischen Maßnahmen.
Da insbesondere kognitive Verhaltenstherapie laut S3 Leitlinie zur Behandlung bei
chronischem Tinnitus empfohlen wird, scheint es naheliegend, die
neurophysiologischen Veränderung im Laufe dieses therapeutischen Verfahrens
zu untersuchen.
8. Danksagung
Die Arbeit der Autoren zu chronischem Tinnitus wird von der Deutschen
Forschungsgemeinschaft unterstützt (DO 711/10–1,
10–3; GR 2024/10–3; JU 445/10–3)