Schlüsselwörter
Komplementärmedizin - Integrative Medizin - Website-Screening - Bayern - stationäre Versorgung
Key words
complementary medicine - integrative medicine - web-based screening - Bavaria - acute care hospitals
Einleitung
Das Interesse an klassischen Naturheilverfahren und komplementärmedizinischen
Therapien hat in Deutschland zugenommen [1]
[2]
[3]. Häufig genannte Gründe
für die Inanspruchnahme sind die Verbesserung des allgemeinen,
körperlichen und emotionalen Wohlbefindens sowie die Unterstützung
bei der Krankheitsbewältigung. Auch die Linderung von Nebenwirkungen
konventioneller Therapien und die Wünsche „nichts unversucht zu
lassen“, „nach Heilung“ oder „eine ganzheitliche
Behandlung zu erhalten“ werden von Anwendern als Gründe
aufgeführt [4]. Insbesondere findet
sich eine hohe Akzeptanz bei Frauen mittleren Alters mit höherer
Schulbildung [3]
[5]
[6].
Ein systematisches Review mit 87 Studien aus EU-Ländern zeigte für
Deutschland sehr heterogene Ergebnisse (15 meist kleine Studien mit z.T.
Limitationen) mit Anwendungshäufigkeiten komplementärmedizinischer
Verfahren von 5–62% [7].
Deutsche Patienten gaben an, am häufigsten Akupunktur, Bewegungstherapie,
Chirotherapie, Homöopathie, (Reflexzonen-) Massagen und Phytotherapie zu
nutzen [8]
[9]. Nicht für alle Verfahren existieren aussagekräftige
Ergebnisse zur Wirksamkeit aus qualitativ guten Studien. In einigen Leitlinien, wie
z. B. für den unspezifischen Kreuzschmerz (Nationale
Versorgungsleitlinie), das Reizdarmsyndrom (S3-Leitlinie), Colitis ulcerosa
(S3-Leitlinie) oder Mammakarzinom (S3-Leitlinie) sind
komplementärmedizinische Methoden aufgrund vorhandener Evidenz etabliert
[9]
[10]. Als weiterer wichtiger Meilenstein wurde im Juli 2021 die erste
S3-Querschnitts-Leitlinie „Komplementärmedizin in der Behandlung
onkologischer PatientInnen“ veröffentlicht [11].
Auch auf der Anbieterseite ist insbesondere unter niedergelassenen Ärzten ein
wachsendes Interesse an komplementärmedizinischen Verfahren zu erkennen. Im
Jahr 2019 wurden in Deutschland insgesamt 49.000 Zusatzbezeichnungen in Akupunktur,
Balneologie, Homöopathie, Chirotherapie, Naturheilverfahren und/oder
physikalischer Therapie registriert [12]. Von
1.471 deutschen Hausärzten wendeten 60% im beruflichen Alltag
komplementärmedizinische Verfahren an [13]. Vergleichbare Daten finden sich für niedergelassene
Orthopäden, Gynäkologen und Internisten [14]
[15].
In Deutschland mangelt es hingegen an repräsentativen Daten zu
komplementärmedizinischen Verfahren in der stationären Versorgung.
Daher war es das primäre Ziel dieser Studie, das angebotene Spektrum von
komplementärmedizinischen Verfahren in bayerischen
Akutkrankenhäusern unter Berücksichtigung der verschiedenen
Fachabteilungen zu untersuchen. Zusätzlich sollten Informationen zu
entsprechenden Qualifikations- und Fortbildungsangeboten, Forschungsprojekten und
entsprechende Lehrangebote erfasst, sowie die Häufigkeiten angebotener
komplementärmedizinischer Verfahren nach Regierungsbezirken getrennt
bestimmt werden.
Methodik
Studiensetting und Auswahl der Kliniken
Im Zeitraum vom 12.03.2020 bis zum 26.11.2020 wurde nach dem Vier-Augen-Prinzip
eine Vollerhebung aller bayerischen Akutkliniken mittels eines
Website-Screenings durchgeführt. Entsprechend des bayerischen
Krankenhausplanes vom 01.01.2020, wurden 389 Akutkliniken aus allen sieben
Regierungsbezirken erfasst. Darunter waren sowohl Häuser, welche nach
dem KHG/BayKrG gefördert werden, als auch solche, welche
Versorgungsverträge nach §§ 108 Nr. 3, 109 SGB V mit den
Landesverbänden der Krankenkassen und den Verbänden der
Ersatzkassen vorweisen. Nicht eingeschlossen in die vorliegende Studie wurden
Rehakliniken und Häuser, die in Planung, im Bau oder bereits geschlossen
waren.
Mehrstufige Suchstrategie
Zwei Gesundheitswissenschaftlerinnen (AK, LS) screenten unabhängig
voneinander den gesamten Internetauftritt der Kliniken, inklusive aller
Abteilungen. Anschließend wurden in die Suchfunktion der Klinikwebsite
die Begriffe „komplementär*“,
„naturheilkund*“ und
„integrativ*“ eingegeben. Nach einem Abgleich wurde bei
unterschiedlichen Ergebnissen über die Funktion Strg+F gezielt
auf der Homepage nach den Begriffen gesucht sowie über die Suchmaschine
Google die Klinik und die jeweiligen Begriffe gezielt abgefragt. Eingeschlossen
wurden Inhalte und/oder Veranstaltungen aus den Jahren 2015 bis
2020.
Erfassung der komplementärmedizinischen Verfahren sowie weiterer
Angaben
Die im Screening berücksichtigten Begriffe und Bezeichnungen der
komplementärmedizinischen Verfahren wurden während der ersten
Durchführung des Screenings laufend erfasst und ergänzt. In der
zweiten Durchführung des Screenings erfolgte die Erfassung der insgesamt
46 komplementärmedizinischen Verfahren anhand der erstellten Liste. Die
Erfassung erfolgte ohne eine qualitative Auswertung der Beschreibung oder
Darstellung von komplementärmedizinischen Verfahren.
Ergänzend wurden Angaben zur Finanzierung der
komplementärmedizinischen Verfahren, Zusatzqualifikationen,
Fortbildungsmöglichkeiten und Forschungsprojekte erfasst.
Statistische Analysen
Die Auswertung erfolgte mit IBM SPSS Statistics 26 rein deskriptiv durch
Berechnungen von absoluten und relativen Häufigkeiten. Die Ergebnisse
des Screenings wurden für alle 389 bayerischen Akutkliniken zusammen
sowie getrennt nach den sieben Regierungsbezirken ausgewertet. In
Subgruppenanalysen wurden u. a. Kliniken mit psychiatrischer
und/oder psychosomatischer Ausrichtung im Vergleich zu anderen Kliniken
getrennt ausgewertet. Ebenso sollten die Ergebnisse der Fachabteilungen mit den
häufigsten Treffern getrennt ausgewertet werden. Aufgrund des
explorativen Ansatzes dieser Studie, wurde kein formales statistisches
Signifikanzlevel definiert.
Ergebnisse
Charakteristika der Kliniken
Die Charakteristika der Kliniken (Trägerschaft und Versorgungsstufe (VS))
sind in eTabelle 1 (Online-Supplement) sortiert nach den sieben
bayerischen Regierungsbezirken aufgeführt. Die meisten bayerischen
Akutrankenhäuser waren in öffentlicher Trägerschaft
(58%; n=226). Fast 40% (n=153) aller bayerischen
Akutkliniken lagen im Regierungsbezirk Oberbayern (eTabelle 1).
Allgemeine Häufigkeiten von komplementärmedizinischen
Verfahren
In vier von fünf bayerischen Akutkliniken (dem Bayerischen
Krankenhausplan vom 01.01.2020 entnommen) konnte mindestens ein
komplementärmedizinisches Verfahren identifiziert werden: dies betraf
85% (n=193) der Kliniken öffentlicher Träger,
81% (n=95) der Häuser in privater Hand und 70%
(n=32) von freigemeinnützigen Trägern. Während
in allen 35 Krankenhäusern der Versorgungsstufe 2 (VS-2) mindestens ein
komplementärmedizinisches Verfahren identifiziert wurde, war dies in
94% (n=15 der 16) Kliniken der Versorgungsstufe 3 (VS-3) sowie
in jeweils 80% der 186 Fachkrankenhäuser (n=149) und der
152 Kliniken der Versorgungsstufe 1 (VS-1) (n=121) der Fall. Mindestens
drei komplementärmedizinische Verfahren wurden in 66%
(n=258) aller Kliniken angeboten ([Abb.
1]).
Abb. 1 Angebot insgesamt und die 10 häufigsten angebotenen
komplementärmedizinischen Verfahren in bayerischen Akutkliniken;
a In allen bayerischen Akutkliniken (n=389); b
In allen bayerischen Akutkliniken ohne psychiatrische und
psychosomatische Akutkliniken (n=292); c In allen
bayerischen psychiatrischen und psychosomatischen Akutkliniken
(n=97); *Entspannung nicht näher bezeichnet,
Progressive Muskelentspannung, Autogenes Training, Meditation,
Imagination, Phantasiereisen und Visualisierung, Atemtherapie,
-übungen; **Massagen im Allgemeinen,
Fußreflexzonenmassage (am häufigsten genanntes
Massageverfahren), Druck-/Reflex-, Kolon-, Bindegewebs-, Reiz-,
Periost-, Segmentmassagen
Mindestens ein komplementärmedizinisches Verfahren wurde am
häufigsten in den Kliniken des Regierungsbezirks Schwaben identifiziert
(90%; n=45) wohingegen Niederbayern (74%; n=31)
die meisten Kliniken aufwies, die mindestens drei unterschiedliche Verfahren
anboten. Kliniken in Unterfranken (70%; n=28 bzw. 48%;
n=19) boten im Vergleich am wenigsten an ([Abb. 2]).
Abb. 2 Anteil der Akutkliniken in bayerischen Regierungsbezirken,
die mindestens 1 bzw. mindestens 3 komplementärmedizinische
Verfahren anbieten, sowie Anteil der Akutkliniken in bayerischen
Regierungsbezirken, die Akupunktur; Tai Chi, Qi Gong oder Yoga;
Homöopathie; Aromapflege; Fußreflexzonenmassage
anbieten. Hellgrau=bis 30%;
Dunkelgrau=über 30% (Farbunterschiede zur
besseren Sichtbarkeit gewählt); Gesamtanzahl der Kliniken in den
Regierungsbezirken: Unterfranken: 40; Oberfranken: 32; Mittelfranken:
41; Oberpfalz: 31; Schwaben: 50; Oberbayern: 153; Niederbayern: 42)
Häufigkeiten spezifischer komplementärmedizinischer
Verfahren
[Abb. 1] zeigt jeweils die zehn
häufigsten komplementärmedizinischen Verfahren in allen Kliniken
(1a), sowie nochmals differenziert in den 292
nicht-psychiatrisch/nicht-psychosomatischen Kliniken (1b) und in den 97
Kliniken für Psychiatrie/Psychosomatik (1c). Betrachtet man
zunächst die Gesamtheit aller Kliniken wurden mit etwa 54%
(n=209) am häufigsten nicht näher bezeichnete
Entspannungsverfahren, Progressive Muskelrelaxation, Autogenes Training,
Meditation, Imagination, Phantasiereisen und Visualisierung, Atemtherapie und
-übungen gefunden. Darauf folgen Akupunktur (44%; n=170)
und Massagen (41%; n=161, z. B. Klang-,
Druck-/Reflex-, Bindegewebs-, Segment-, Periost-, Kolon-,
Fußreflexzonenmassage). Etwa ein Drittel der gescreenten
Krankenhäuser führten Bewegungstherapie, Kunsttherapie und
meditative Bewegungstherapien (Tai Chi, Qi Gong, Yoga) auf.
Bei der Auswertung einzelner Verfahren sortiert nach Regierungsbezirken zeigt
sich, dass Akupunktur und Homöopathie am häufigsten in
Niederbayern (in 57%; n=24 bzw. 33%; n=14 der
Kliniken), Tai Chi, Qi Gong und Yoga mit 30% am häufigsten in
Mittelfranken (n=13) und der Oberpfalz (n=10),
Fußreflexzonenmassage und Aromapflege/-therapie (je 40%;
n=20) am häufigsten in schwäbischen Kliniken angeboten
wurden ([Abb. 2]). Bayernweite
Häufigkeiten aller identifizierten komplementärmedizinischen
Verfahren sind in eTabelle 2 aufgeführt.
Fachspezifische Auswertungen
Bei der Auswertung nach Fachgebieten zeigte sich, dass die Psychiatrie
und/oder Psychosomatik mit 87% (n=125) bzw. 74%
(n=106) am häufigsten mind. ein bzw. drei
komplementärmedizinische Verfahren aufführten (führend
Entspannungsverfahren, Bewegungs- und Kunsttherapie). Es folgten die
Gynäkologie/Geburtshilfe (73%; n=99 bzw.
57%; n=78, führend Akupunktur, Homöopathie und
Aromapflege/-therapie), sowie die Palliativmedizin (66%;
n=45 bzw. 37%; n=25, führend Musiktherapie,
Kunsttherapie, Entspannungsverfahren). Deutlich seltener war dies der Fall in
der Inneren Medizin (28%; n=60bzw. 11%; n=24,
führende Verfahren Entspannungsverfahren, Akupunktur und Massagen) und
Chirurgie (16%; n=32 bzw. 3%; n=7,
führend Akupunktur, Madenbehandlung, Entspannungsverfahren und Massagen)
([Abb. 3]).
Abb. 3 Allgemeine Häufigkeit (linke Seite) und die 10
häufigsten komplementärmedizinischen Verfahren (rechte
Seite) in 5 unterschiedlichen Abteilungen bayerischer Kliniken;
INN=Innere; CHI=Chirurgie;
PSY=Psychiatrie/Psychosomatik; GYN=Gynäkologie
und Geburtshilfe; PAL: Palliativstation; *mögliche
Entspannungsverfahren: Entspannung nicht näher bezeichnet,
Progressive Muskelentspannung, Autogenes Training, Meditation,
Imagination, Phantasiereisen, Visualisierung, Atemtherapie, -
übungen; **Massagen im Allgemeinen,
Fußreflexzonen-, Druck-/Reflex-, Kolon-, Bindegewebs-, Reiz-,
Periost-, Segmentmassagen
Anwendungsbereiche
Zu den angegebenen Anwendungsbereichen der komplementärmedizinischen
Verfahren gehörten der Einsatz als eigenständige Therapie
(65%; n=254), zur Prävention (7%; n=27),
als Unterstützung einer konventionellen Therapie (7%;
n=27) und als Vorbereitung vor einer medikamentösen Therapie
bzw. vor operativem Eingriff (5%; n=18). Insgesamt 27%
(n=104 Kliniken) gaben an, einen Behandlungsplan für den Einsatz
komplementärmedizinischer Verfahren zu führen. Knapp die
Hälfte der Kliniken (49%; n=189) gaben an, dass sie
komplementärmedizinische Verfahren als zusätzliche Verfahren
oder begleitend zur evidenzbasierten Therapie einsetzen würden. Auf
14% (n=55) der Websites fanden wir Angaben zum Potenzial der
Verfahren bei Krankheits- und Beschwerdebildern sowie zur Wirksamkeit und/oder
Limitationen der Verfahren. Etwa ein Drittel der Kliniken (n=137) griff
Inhalte zur Komplementärmedizin z. B. in Flyern oder an
Aktionstagen, im Rahmen von Workshops und Zusatzangeboten wie z. B.
Lehrküche auf.
Finanzierung der komplementärmedizinischen Verfahren
Circa 30% (n=116) der Kliniken machten Aussagen zur Finanzierung
der komplementärmedizinischen Angebote auf den Websites. Am
häufigsten war dies eine Finanzierung über die gesetzlichen
Krankenkassen (23%; n=89) und Selbstzahler (15%;
n=53), während es sich in 4% (n=14) um
für Patienten kostenlose Angebote, die durch Spenden (2%;
n=8) oder einen Verein ermöglicht wurden, handelte. Vereinzelt
wurde auf IGeL-Leistung, Zusatzversicherung und die Beihilfe hingewiesen.
Zusatzqualifikationen und Fortbildungsangebote für
komplementärmedizinische Verfahren
Angaben zu potentiell relevanten Qualifikationen einzelner Mitarbeiter
führten 27% (n=105) der Kliniken auf. Darunter fielen
auch Krankenhäuser, welche kein Verfahren auf der Website anboten, aber
auf diese Qualifikation ihres Fachpersonals hinwiesen. Am häufigsten
wurden Zusatzqualifikationen für Akupunktur (11%; n=43)
und Naturheilverfahren (10%; n=37) genannt, während
Aromapflege/-therapie und Chiropraxis (jeweils 5%; n=18) sowie
Homöopathie (4%; n=16) seltener aufgeführt
wurden. Auf knapp 11% (n=42) der Klinikwebsites wurden
komplementärmedizinische Fortbildungsangebote für Ärzte,
Pflegekräfte, weitere klinische Mitarbeiter und Medizinstudierende sowie
Patienten und allgemein Interessierte beworben.
Forschungsprojekte im Zusammenhang mit komplementärmedizinischen
Verfahren
Zur Forschung im Bereich der komplementärmedizinischen Verfahren machten
3% (n=11Kliniken) Angaben, darunter drei
Universitätskliniken. Jeweils vier Krankenhäuser waren der VS-3
und den Fachkrankenhäusern zuzuordnen, zwei der VS-2 und eine Klinik der
VS-1.
Diskussion
Hauptergebnisse
Die Kompletterhebung der Websites aller bayerischen Akutkliniken zeigte, dass mit
82% (n=320) der Großteil der bayerischen
Akutkrankenhäuser mindestens ein komplementärmedizinisches
Verfahren anboten, 66% (n=258) mindestens drei Verfahren, und
über die Hälfte der Kliniken boten sogar bis zu fünf
Verfahren an. Am häufigsten war dies der Fall in den psychiatrischen und
psychosomatischen Abteilungen sowie in der Gynäkologie und Geburtshilfe.
Regionale Unterschiede in der Häufigkeit einzelner
komplementärmedizinischer Verfahren waren zu erkennen, zeigten jedoch
insgesamt keinen klaren Trend.
Wie häufig die Verfahren bei bestimmten Indikationen auch
tatsächlich im klinischen Alltag eingesetzt werden, wurde in dieser
Studie nicht untersucht, ebenso wurde keine Bewertung der Evidenz der einzelnen
komplementärmedizinischen Verfahren vorgenommen. Auf 14%
(n=55) der Websites wurden Angaben zum Potenzial der Verfahren bei
Krankheits- und Beschwerdebildern sowie zur Wirksamkeit und/oder Limitationen
der Verfahren gefunden.
Vergleich mit anderen Studien
Die vorliegende explorative Studie ist die erste zu Art und Ausmaß der
komplementärmedizinischen Versorgungsangebote im stationären
Sektor in Bayern bzw. Deutschland. Vergleichbare Studien in Europa sind rar. In
einer Umfrage aus dem Jahr 2013 wurde ein einseitiger Fragebogen an die
Klinikdirektoren aller norwegischen Krankenhäuser (n=80)
versendet, um mögliche Veränderungen in der Nutzung von
komplementärmedizinischen Verfahren in Krankenhäusern im
Vergleich zur Vorerhebung aus 2008 zu erfassen. Der Anteil der
Krankenhäuser, die ein komplementärmedizinisches Verfahren
anboten, war von 50% im Jahr 2008 auf 64% im Jahr 2013
gestiegen, bei einem sehr hohen Rücklauf von 74% (n=59)
[16]. Im Vergleich zu diesen
Ergebnissen scheint die Häufigkeit dieser Angebote in bayerischen
Kliniken aktuell deutlich höher zu liegen.
Insgesamt wurden 46 verschiedene komplementärmedizinische Verfahren auf
den Klinikwebsites identifiziert, am häufigsten davon
Entspannungsverfahren mit 54% (n=209), gefolgt von Akupunktur
(44%; n=170) und Massagen (41%; n=161).
Entspannungsverfahren
Der Sammelbegriff „Entspannungsverfahren“ fasst in der
vorliegenden Arbeit verschiedene Techniken zusammen, da die Akutkliniken auf
den Websites sowohl Entspannung als Überbegriff aber auch
spezifische Methoden aufführten. Im Vergleich zu den vorliegenden
Daten aus der stationären Versorgung, zeigen Studien aus dem
ambulanten Bereich, die sowohl Anbieter als auch Patienten befragten, eine
auffällig häufige Nutzung von Entspannungsverfahren.
Über 50% der niedergelassenen Allgemeinmediziner in
Deutschland nutzen in einer repräsentativen Erhebung
regelmäßig Entspannungsverfahren in der Patientenversorgung
[17]. Auch Gynäkologen
empfehlen sowohl in der gynäkologischen Versorgung als auch speziell
in der Onkologie Entspannungsverfahren in vergleichbarem Ausmaß
[14]. Patienten mit
Autoimmunerkrankungen nutzten Erhebungen zu Folge in 42%
Entspannungsverfahren oder Meditation [6]. Eine repräsentative deutsche Studie zeigte hingegen,
dass weniger als 10% der Allgemeinbevölkerung
Entspannungsverfahren nutzt, was in knapp 30% der Fälle auf
ärztliche Empfehlung hin erfolgte [8].
Akupunktur
Akupunktur wird im Vergleich zu Studien in anderen Ländern ebenfalls
sehr häufig an bayerischen Akutkrankenhäusern angeboten. In
skandinavischen Studien wurde Akupunktur zwar insgesamt mit bis zu
97% als häufigstes Verfahren identifiziert, jedoch in
Folgeerhebungen nur in 37% der Krankenhäuser angeboten [16]
[18]. Die Indikationen für den Einsatz von Akupunktur in
diesen Studien waren überwiegend die Behandlung von Schmerzen oder
in der Schwangerschaft bzw. während der Geburt. Damit verglichen ist
dieses komplementärmedizinische Angebot in bayerischen
Krankenhäusern aktuell sehr häufig vertreten. In einer
Befragung von 2002 gaben 9% an, Akupunktur in den letzten 12 Monaten
genutzt zu haben und 62% davon aufgrund einer ärztlichen
Empfehlung [8]. Akupunktur gilt als
evidenzbasiertes Therapieverfahren bei Verdauungsbeschwerden, postoperativer
Übelkeit und Erbrechen sowie bzgl. Schmerz [19]. Die Wirksamkeit der Akupunktur ist
je nach Indikation mit unterschiedlich starker Evidenz belegt [20].
Massagen
Massagen fielen ebenfalls unter die drei am häufigsten angebotenen
Verfahren. Ähnlich wie bei den Entspannungsverfahren konnten die
genauen Techniken und Anwendungen oft nur allgemein und nicht immer
spezifisch erfasst werden. Das reduziert insbesondere die
Trennschärfe bzgl. der Anwendung der Massage, ob diese im
klassischen Sinne (usual-care) oder als ergänzende
komplementärmedizinische Maßnahme eingesetzt wird. Eine
Analyse von Querschnittsdaten einer nationalen Gesundheitsbefragung aus dem
Jahr 2012 in den USA ergab eine Inanspruchnahme von Massagen durch Patienten
von 7% in den letzten 12 Monaten [21]. Für Massagen liegen aussagekräftige Studien
bei verschiedenen Arten von Schmerz, Autoimmun- und Immunerkrankungen,
Hypertonie sowie bei pränataler und postnataler Entwicklung von
Frühgeborenen und Neugeborenen vor. Die Evidenz wird dabei
unterschiedlich bewertet [22]. Im
Hinblick auf mögliche Indikationen finden sich nationale und
internationale Studienergebnisse zur Prävention und Therapie zum
Beispiel bei onkologischen Erkrankungen, Erkrankungen des Bewegungsapparates
oder in der Schwangerschaft (11,9–18,2%) [8]
[23]
[24]
[25]. Die Nennung der Massagen als
Therapieverfahren in der Komplementärmedizin fällt deutlich
seltener aus als im Screening. Ursächlich könnte das
individuelle Verständnis der Befragten hinsichtlich der Zuordnung
von Massageverfahren als komplementärmedizinische Verfahren sein. In
der Zusammenschau erscheint die Häufigkeit mit knapp 40%
dennoch überdurchschnittlich hoch.
Fachabteilungen
Insbesondere in Kliniken bzw. Abteilungen für Psychosomatik und
Psychiatrie sind Verfahren, die häufig zu den
komplementärmedizinischen Verfahren gezählt werden bzw. in
anderen Fachgebieten eine eher untergeordnete Rolle zu spielen scheinen,
oftmals fester Bestandteil der Behandlungskonzepte. Aufgrund dieser Tatsache
wurde in der vorliegenden Studie auch eine Auswertung im Hinblick auf diese
Besonderheit durchgeführt und die Ergebnisse aufgeteilt nach
psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken im Vergleich zu allen anderen
Kliniken erneut berechnet.
Die Akupunktur und Massagen fallen in den psychiatrischen und
psychosomatischen Kliniken nicht mehr unter die drei
häufigsten angebotenen Verfahren, dafür folgen nach den
Entspannungsverfahren die Bewegungs- und Kunsttherapie. Diese und weitere im
Fachbereich der Psychiatrie und Psychosomatik etablierte Verfahren (wie
z. B. Musiktherapie, achtsamkeitsbasierte Verfahren oder meditative
Bewegungstechniken) werden aufgrund ihrer hohen Evidenz häufig
eingesetzt und werden entsprechend in den verschiedenen Leitlinien
für z. B. Depression, Essstörungen, Psychoonkologie
oder auch Demenzerkrankungen als Therapieoptionen aufgeführt.
Demnach erscheint es nachvollziehbar, dass diese speziellen Verfahren in
diesen Fachrichtungen nicht zwangsläufig den
Komplementärverfahren zugerechnet werden, da sie inzwischen
zunehmend fester Bestandteil der konventionellen Behandlungskonzepte
geworden sind.
Akupunktur, Homöopathie und Aromapflege waren besonders
häufig in der Gynäkologie/Geburtshilfe zu
finden. Diese Ergebnisse fanden sich auch in zwei Fragebogen-basierten
Studien. In einer bundesweiten Befragung aller deutschen geburtshilflichen
Abteilungen waren bei einer Rücklaufquote von 40%,
Akupunktur (97%), Homöopathie (93%) und
Aromatherapie (77%) ebenfalls am häufigsten vertreten [26]. Eine weitere Umfrage in allen
nordrhein-westfälischen Abteilungen für Geburtshilfe, mit
einer Rücklaufquote von 73% zeigte ebenfalls, dass
Akupunktur (100%), Homöopathie (96%) und
Aromatherapie (51%) sehr häufig eingesetzt werden [27]. Die
komplementärmedizinischen Verfahren werden hierbei sowohl von
Gynäkologen, als auch von Hebammen häufig angewendet und
sind, sowohl im ambulanten, wie auch stationären Setting zum Teil
fest implementiert [14]
[27]
[28]. Eine Erklärung hierfür könnte neben
der bekanntermaßen hohen Nachfrage bzw. Inanspruchnahme durch Frauen
auch sein, dass insbesondere die Akupunktur Bestandteil
gynäkologischer Leitlinien wie z. B. der S3-Leitlinie Mamma
CA ist.
Sowohl in Abteilungen für Innere Medizin, als auch in der
chirurgischen Versorgung wurden komplementärmedizinische
Verfahren im Vergleich deutlich seltener aufgeführt. Eine deutsche
nicht-repräsentative Patientenbefragung in der
Orthopädischen- und Unfallchirurgie zeigte, dass 76% der
Patienten bereits Erfahrungen mit komplementärmedizinischen
Verfahren insbesondere mit Bewegungstherapie (44%) und
Nahrungsergänzungsmitteln (31%) hatten [29]. Die Ergebnisse der vorliegenden
Studie zeigten dagegen, dass nur 16% der chirurgischen Abteilungen
mindestens ein komplementärmedizinisches Verfahren anboten, am
häufigsten Akupunktur und Madentherapie (je 4%). Die Evidenz
für den Einsatz einzelner Verfahren, z. B. perioperativ zur
Unterstützung der Rekonvaleszenz ist aber bereits vorhanden.
Gleiches gilt für bestimmte internistische Erkrankungen wie
z. B. chronisch entzündliche Darmerkrankungen (CED). In zwei
Studien von Patienten mit CED wurden Erfahrungen mit
komplementärmedizinischen Behandlungsmethoden erfasst. In einer
Fragebogenstudie gaben 51% der Befragten an, bereits Erfahrungen zu
haben, wobei dies mehr Patienten mit Colitis ulcerosa (59,8%) als
Patienten mit Morbus Crohn (48,3%) betraf [30]. In einer Befragung von Patienten
mit CED, die an einer nationalen Tagung zu Komplementärmedizin der
Deutschen Morbus Crohn und Colitis ulcerosa Vereinigung (DCCV) teilnahmen,
gaben 47% der 112 Befragten an, entsprechende Verfahren bereits
einmal genutzt zu haben. Verglichen wurde dies mit einer zufällig
gewählten Stichprobe, ebenfalls bestehend aus CED Patienten, bei der
sogar 51% der 684 Befragten angegeben haben, Erfahrungen mit
komplementärmedizinischen Verfahren zu haben [31].
Qualifikation
Auf 27% der Krankenhauswebsites wurden Angaben zur Qualifikation
für komplementärmedizinische Verfahren einzelner Mitarbeiter
genannt. Wenn diese Zahlen auch tatsächlich die
Versorgungsrealität wiederspiegeln zeigt dies, dass entsprechende
Zusatzqualifikationen im stationären Bereich nicht so verbreitet
sind wie bei Versorgern im ambulanten Setting. In einer
repräsentativen Befragung gaben z. B. 61% der
Hausärzte eine Zusatzqualifikation in Komplementärmedizin
an. Im Speziellen waren dies: Akupunktur 38%, Naturheilverfahren
26%, Manuelle Medizin 17%, Homöopathie 10%
[32]. Ähnliche
Häufigkeiten zeigen sich bei den allgemeinmedizinischen
Weiterbildungsassistenten [33]. Die in
der vorliegenden Arbeit am häufigsten gefundene Qualifikation
Akupunktur wurde vor allem in den Abteilungen für
Gynäkologie und Geburtshilfe aufgeführt. Dies passt zu den
Ergebnissen aus einer deutschlandweiten Erhebung, die eine
Anwendungshäufigkeit der Akupunktur durch Ärzte und Hebammen
in geburtshilflichen Abteilungen von bis zu 97% ergab [26]. In Nordrhein-Westfalen wird in
66% der Fälle durch die Hebamme, in weniger als 5%
durch ÄrztInnen und in 29% gemeinsam Akupunktur in der
Geburtshilfe durchgeführt [27].
Stärken und Limitationen
Bisherige Studien zur Häufigkeit von komplementärmedizinischen
Verfahren basierten auf Befragungen in schriftlicher, telefonischer und
persönlicher Form mit den entsprechenden Vor-und Nachteilen [16]
[18]
[26]
[27]. Zu den Stärken dieser Studie
zählt die Einbeziehung der kompletten Klinik-Homepages aller
Akutversorger, was unserer Kenntnis nach für die
Komplementärmedizin erstmalig so umfassend durchgeführt worden
ist. Dadurch, dass die Websites aller zu dem Zeitpunkt im Landeskrankenhausplan
aufgeführten 389 Akutkliniken Bayerns (ohne Reha-Kliniken) gesichtet
wurden, können die vorliegenden Ergebnisse als repräsentativ
für Bayern angesehen werden. Eine weitere Stärke war die
umfassende abgestufte Sichtung, sowie die Datenextraktion durch zwei
Wissenschaftlerinnen standardisiert und unabhängig voneinander nach dem
4-Augen-Prinizp für eine bestmögliche Qualität der
auszuwertenden Daten.
Diese Studie hat jedoch auch potenzielle Limitationen. Die Häufigkeit und
das Spektrum der komplementärmedizinischen Verfahren könnte auf
den Websites nicht vollständig abgebildet sein, sodass diese Erhebung
eine Unterschätzung der Versorgungsrealität darstellen
könnte, wenn Kliniken über die Angaben im Internet hinaus
weitere komplementärmedizinische Verfahren anbieten. Es ist jedoch auch
nicht auszuschließen, dass komplementärmedizinische Verfahren
erwähnt wurden, die im klinischen Alltag der Einrichtung keine Rolle
spielen oder auch zwischenzeitlich gar nicht mehr zum Einsatz kommen. Sollten
Websites diesbezüglich nicht mehr aktuell sein, könnte dies zu
einer möglichen Überschätzung der Häufigkeiten
von komplementärmedizinischen Angeboten in Kliniken führen.
Validierungen durch Kontakt mit den Klinikmitarbeitenden zur
Überprüfung der Verfahren konnten im Rahmen dieses Projekts
nicht durchgeführt werden.
Da derzeit weder national noch international eine einheitliche Definition bzw.
eindeutige Abgrenzung zwischen den Begriffen alternativ- und
komplementärmedizinischen Therapien existiert, orientierten wir uns an
den Empfehlungen von Volger et al. für die ärztliche
Weiterbildung auf diesem Gebiet in Deutschland sowie an der vom NCCAM
vorgeschlagenen Klassifikation [34]
[35]. Die identifizierten
Komplementärverfahren wurden daher z. B. nach Methoden der
klassischen Naturheilverfahren aber auch nach komplementären Verfahren
aus eigenständigen Medizinsystemen wie z. B. der Traditionellen
Chinesischen Medizin oder der Homöopathie aufbereitet [35]. Auch diagnostische und therapeutische
Verfahren, die weder den Säulen der klassischen Naturheilkunde noch
einem eigenständigen Medizinsystem (whole medical systems,
Ethnomedizinformen u. a.) zugeordnet werden können [35], wurden aufgegriffen, um ein
möglichst umfassendes Bild zu erhalten. Der breite Ansatz in dieser
Studie führte jedoch auf der anderen Seite dazu, dass im Einzelfall auch
Verfahren der Komplementärmedizin zugeordnet wurden, die in einigen
Fachbereichen eher den konventionellen Verfahren zugeordnet werden.
Mögliche inhaltliche Überschneidungen dieser Art betreffen in
den psychiatrischen und psychosomatischen Abteilungen/Kliniken
beispielswiese Entspannungsverfahren, Bewegungstherapie, Kunsttherapie und
Musiktherapie.
Die Evidenz der gefundenen Verfahren war nicht Gegenstand der Erhebung, da es
zunächst um eine Bestandsaufnahme der angebotenen Verfahren und nicht um
eine inhaltliche oder gar qualitative Bewertung ging. Ferner kann die Studie
nicht beantworten wie hoch die Inanspruchnahme durch PatientInnen
tatsächlich ist und wie die Behandlungsqualität und der
Behandlungserfolg einzuschätzen sind, was in Folgestudien untersucht
werden sollte.
Schlussfolgerung
Die große Mehrheit der bayerischen Akutkrankenhäuser bietet laut
Internetauftritt begleitend zur regulären Versorgung auch
komplementärmedizinische Verfahren an, insbesondere bei
psychiatrisch/psychosomatischen Indikationen sowie in der Geburtshilfe und
Gynäkologie. Regionale Besonderheiten führen offenbar ebenso wie
fachspezifische Gegebenheiten zu unterschiedlichen Häufigkeiten im Angebot
der einzelnen Verfahren.
Zukünftige Studien, z. B. durch Befragungen von Klinik- und
Abteilungsleitungen, sollten untersuchen, wie häufig die auf den Websites
aufgeführten komplementärmedizinischen Verfahren im
stationären und ambulanten Klinikalltag bei welchen Indikationen zum Einsatz
kommen. Unabhängig hiervon sollte es das Ziel künftiger
Bemühungen sein, insbesondere auf die Verfahren zu fokussieren, für
die bereits Evidenz bis hin zu Leitlinienempfehlungen vorhanden ist.