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DOI: 10.1055/a-1987-5716
Weniger Frühgeburten im 1. COVID-19-Pandemie-Jahr? Eine Auswertung der Berliner Perinataldaten der Jahre 2017 bis 2020
Article in several languages: English | deutschZusammenfassung
Einleitung Mögliche Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Frühgeburtenrate sollen analysiert und interpretiert werden. Forschungsfragen sind: Hat es im 1. Pandemiejahr 2020 weniger Frühgeburten in Berlin gegeben als in den 3 unmittelbar vorpandemischen Jahren? Gibt es Unterschiede in der nach Schwangerschaftswochen gruppierten Frühgeburtlichkeit?
Methodik Perinataldatenauswertung aller Einlinge im Hinblick auf die Geburtenraten in Berlin und den Anteil der Frühgeborenen in den 3 präpandemischen Jahren 2017 bis 2019 im Vergleich mit den Raten des 1. Pandemiejahres 2020.
Ergebnisse Die Gesamtzahl der Einlingsgeburten ist im 1. Pandemiejahr in den Berliner Geburtskliniken und -abteilungen zurückgegangen. Der Anteil von Frühgeburten unter 37 + 0 Schwangerschaftswochen (SSW) war 2020 signifikant niedriger als in den 3 Jahren davor, mit signifikant mehr Frühgeburten unter 28 + 0 SSW und signifikant weniger Frühgeburten in der Gruppe 28 + 0 bis 35 + 0 SSW. 2020 wurden signifikant weniger Kinder unter 37 + 0 Schwangerschaftswochen durch eine primäre Sectio geboren. Die Häufigkeit von Geburtseinleitungen blieb in etwa gleich.
Schlussfolgerungen Im 1. Pandemiejahr haben sich möglicherweise verschiedene soziale, iatrogene und biologische Faktoren modellierend auf die Frühgeburtlichkeit ausgewirkt. Eine länderübergreifende, bundesweite Auswertung der Perinataldaten 2020 bis 2022 böte eine Chance, die Ursachen für diese verringerten Frühgeburtenraten zu ermitteln und festzustellen, ob sich daraus Schlussfolgerungen für zukünftige Strategien zur Frühgeburtsverringerung ergeben.
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Einleitung
Die Auswirkungen der Pandemie der durch das Virus SARS-CoV-2-verursachten Infektionskrankheit 2019 (COVID-19) auf die peripartalen und perinatalen Ergebnisdaten waren bereits Gegenstand zahlreicher Publikationen und Metaanalysen.
Griewing et al. (2022) haben vor Kurzem beispielhaft über die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Erbringung von gynäkologischen und geburtshilflichen Leistungen an einem deutschen Universitätsklinikum der Maximalversorgung berichtet [1].
Die COVID-19-Pandemie und die gesellschaftlichen bzw. länderspezifischen Reaktionen darauf haben u. a. weltweit zu (unterschiedlich langen und verschieden ausgeprägten) sog. Lockdown-Maßnahmen geführt. Dies hat sich möglicherweise negativ auf die Gesamtgeburten- und positiv auf die Frühgeburtenraten ausgewirkt [2]. Eine schon 2021 durchgeführte Metaanalyse, die 40 Studien zu diesem Thema einbezogen hat, fand zunächst keine Veränderung der Frühgeburtenrate vor der 37. Schwangerschaftswoche für die 15 berücksichtigten Studien [3]. Es gab jedoch signifikante Unterschiede zwischen sog. Ländern mit niedrigem und solchen mit hohem Einkommen, wobei in letzteren ein Rückgang der Frühgeburtlichkeit (12 Studien) und der spontanen Frühgeburtlichkeit (2 Studien) nachweisbar war [4].
Bereits 2021 hatten Ochoa et al. in Lancet Global Health dazu aufgerufen, dass „die perinatale Forschungsgemeinschaft gemeinsam die Vorteile des einzigartigen natürlichen Experiments nutzt, das die COVID-19-Pandemie bietet, um weltweit Fortschritte bei der mütterlichen und kindlichen Gesundheit zu beschleunigen…“. Gemeinsam könne man, „aus den Erfahrungen mit der Pandemie lernen und damit beginnen, Mechanismen zu identifizieren, die bei zukünftigen Generationen zu einem besseren Start ins Leben beitragen könnten…“ [5].
Dies aufgreifend sollen nach der unlängst veröffentlichten Analyse Bayerischer [6] nun die Berliner Perinataldaten in Hinblick auf mögliche Auswirkungen der Pandemie auf die Frühgeburtenrate ausgewertet und interpretiert werden. Hauptfragestellung dabei war: Hat es im 1. Pandemiejahr 2020 weniger Frühgeburten in Berlin gegeben als in den 3 unmittelbar vorpandemischen Jahren? Folgende 2 Nebenfragen sollten beantwortet werden: Gibt es Unterschiede in der nach Schwangerschaftswochen (SSW) gruppierten Frühgeburtlichkeit (< 28 + 0 vs. ≥ 28 + 0 SSW bis < 37 + 0 SSW)? Hat sich im Jahr 2020 die Anzahl „iatrogen verursachter“ Frühgeburten (primäre/geplante Sectio, Geburtseinleitung) verringert?
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Methodik
Untersuchungskollektiv
Es wurden alle Einlinge, die in Berliner Kliniken zwischen dem 1. Januar 2017 und dem 31. Dezember 2020 geboren wurden, in die Auswertung einbezogen. Mehrlingsgeburten wurden von vornherein ausgeschlossen, da Mehrlingsschwangerschaften per se ein erhöhtes Risiko für Frühgeburten haben. Gegenstand der Analyse waren die Geburtenraten und der Anteil der Frühgeborenen unter den Einlingen unter 37 + 0 SSW in den 3 präpandemischen Jahren 2017, 2018 und 2019 in Berlin im Vergleich mit den entsprechenden Raten des 1. Pandemiejahres 2020. Datenquelle war die routinemäßig durchgeführte vollständige Erhebung aller Klinikgeburten im Rahmen der Umsetzung der Maßnahmen zur Qualitätssicherung nach § 136 SGB V (früher Perinataldatenerhebung).
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Voraussetzungen für die Datenauswertung
Die Datenanalyse konnte dankenswerter Weise nach Beratung und Freigabe der anonymisierten Daten durch das Lenkungsgremium Qualitätssicherung Berlin im Verfahren der stationären Qualitätssicherung erfolgen.
Die Vorgaben des Berliner Datenschutzgesetzes und der Berliner Charité für gute wissenschaftliche Praxis wurden bei dieser retrospektiven Registerdatenanalyse beachtet.
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Statistische Analyse
Die Daten wurden mittels Python und den Bibliotheken Pandas sowie Scipy und Statsmodels ausgewertet. Als inferenzstatistische Tests wurden für 4-Felder-Szenarien der Fisher-Yates-Test (Fisher’s exact Test) verwendet, für eindimensionale Homogenitäts-Verteilungs-Tests der Chi-Quadrat-Test. Die Zuordnung der Daten zu den Jahreszeiträumen erfolgte über das Geburtsdatum des Kindes (in den veröffentlichten Jahresauswertungen der Daten ist das Entlassungsdatum der Mutter das Kriterium der Jahreszuordnung). Eine Geburt wurde als „iatrogen induziert“ betrachtet, wenn entweder der Entbindungsmodus eine primäre Sectio caesarea war oder eine Geburtseinleitung ohne vorhergehenden Blasensprung erfolgte. Eine Patientin wurde als “COVID-19-Fall“ klassifiziert, wenn bei einer Aufnahme- oder Entlassungsdiagnose „U07.1“ oder „U07.2“ angegeben waren.
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Ergebnisse
Monatliche Geburtenrate und Gesamtgeburtenzahl
Insgesamt wurden Daten von 158368 Einlingsgeburten analysiert.. Die mittlere monatliche Geburtenrate von Einlingen im Zeitraum 1. Januar 2017 bis 31.12.2020 betrug in Berlin 3299,3 Geburten pro Monat (95 %-KI 3233,7 bis 3364,9) mit saisonalen Schwankungen. In den präpandemischen 3 Jahren wurden insgesamt 119586 Kinder geboren (durchschnittlich 39862 pro Jahr), im 1. COVID-19-Pandemiejahr 2020 waren es 38782. Die Gesamtgeburtenzahl (Einlinge, nur Klinikgeburten) geht seit 2017 signifikant zurück: 2017 – 40345; 2018 – 39931, 2019 – 39310, 2020 – 38782 Geburten. Die Geburtenrate je Monat im 1. Pandemiejahr 2020 unterscheidet sich signifikant gegenüber den 3 präpandemischen Jahre 2017 bis 2019 (Chi-Square p = 0,002). Die monatlichen Verteilungen differieren dabei merklich im Vergleich 2020 zu 2017 bis 2019: Im Sommer 2020 flacht die Kurve mit ca. 200 Geburten weniger pro Monat ab, eine solche Abflachung ist in den 3 vorhergehenden Jahren nicht erkennbar ([Abb. 1]). Insgesamt gibt es weniger Geburten (ca. 1000 weniger als in den betrachteten Vorjahren), wobei dieser Rückgang im Sommer 2020 aus nachvollziehbaren biologischen Gründen allerdings kein Pandemieeffekt sein kann. Offenbar ist dies auch nicht mit einer „Umverteilung“ von Geburten in den außerklinischen Bereich zu erklären – wie die [Tab. 1] zeigt, ging auch dort 2020 im Vergleich zu den Vorjahren die Gesamtgeburtenzahl leicht zurück.
Jahr |
Hausgeburten: n (Anteil in %) |
Geburten in Hebammen-geleiteten Einrichtungen: n (Anteil in %) |
Gesamtzahl geplant außerklinisch begonnener Geburten |
2020 |
463 (34,3) |
887 (65,7) |
1350 |
2019 |
358 (25,4) |
1051 (74,6) |
1409 |
2018 |
401 (26,3) |
1126 (73,7) |
1527 |
2017 |
286 (21) |
1075 (79) |
1361 |
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Frühgeburtenrate
Der Anteil von Frühgeburten bei Einlingen unter 37 + 0 SSW war 2020 signifikant niedriger als in den 3 Jahren davor ([Tab. 2]; [Abb. 2]). Eine solche signifikante Differenz der Frühgeburtenrate ist bei den Einlingsgeburten innerhalb der Jahre 2017–2019 nicht nachweisbar (Chi-Square-Test auf Unabhängigkeit für 2017–2019 χ2 = 1,85, p = 0,97), es handelt sich also im Gegensatz zum Rückgang der Geburtenrate um ein neues Phänomen.
Bei separater Betrachtung der extremen Frühgeburten < 28 + 0 SSW und des Kollektivs von Frühgeburten, die zwischen 28 + 0 und 35 + 0 SSW geboren wurden, zeigen sich gegenläufige Ergebnisse: Ein signifikanter Trend zu mehr Frühgeburten in der Gruppe < 28 + 0 SSW und demgegenüber signifikant weniger Frühgeburten in der Gruppe 28 + 0 bis 35 + 0 SSW ([Tab. 3]).
[Abb. 2] ergänzt diese Ergebnisdarstellung. Für die Abbildung wurden separat für 2017–2019 (p17) sowie für 2020 (p20) der Promillesatz an Geburten pro SSW berechnet. Die Abbildung zeigt die Differenz dieser beiden Gruppen (diffT = p20–p17), ebenfalls pro SSW. Man erkennt damit die SSW-Bereiche, in denen 2020 im Vergleich mit 2017 bis 2019 weniger Frühgeburten vorliegen (> 30 + 0 SSW mit einer Zuspitzung zur 37. SSW), und die Zeiträume, in denen vergleichsweise mehr Frühgeburten anfallen (24 + 0 bis 28 + 0 SSW). Auffällig ist, dass der Rückgang der Frühgeburten besonders stark in der Nähe des berechneten Geburtstermins ist, korrelierend gibt es auch einen entgegengesetzten (positiven) Ausschlag der Promille-Differenz um den Geburtstermin selbst, an dem 2020 ein größerer Anteil (+0,5% – +0,8% in der 39. und 40. SSW) der Geburten stattfand.
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Entbindungen per Sectio und Geburtseinleitungen
Der Anteil sekundärer Sectio-Entbindungen war in den beiden Vergleichszeiträumen (2017–2019 vs. 2020) nicht signifikant unterschiedlich, auch nicht bei ausschließlicher Betrachtung der Sectiorate bei den Einlingsgeburten unter 37 + 0 SSW (2020 = 13,86%; 2017–2019 = 14,52%; p = 0,21). Die Gesamtrate primärer Sectios, unabhängig von der Schwangerschaftswoche, unterschied sich im Vergleich 2017 bis 2019 vs. 2020 ebenfalls nicht (p = 0,23), allerdings wurden signifikant weniger Kinder unter 37 + 0 Schwangerschaftswochen durch einen primären Kaiserschnitt geboren (2020 = 5,84%; 2017–2019 = 7,91%; p = 0,00).
Wenn man eine separate Betrachtung der Geburten durch primäre Sectio und nach Geburtseinleitung ohne vorhergehenden Blasensprung vornimmt, zeigt sich ein signifikanter Rückgang solcher „iatrogen induzierter“ Frühgeburten vor 35 + 0 SSW, aber ein signifikanter Anstieg der Geburten > 35 + 0 bis 39 + 0 SSW. Die Zahl der Geburtseinleitungen blieb in etwa gleich, 482 in 2020 zu insgesamt 1483 (494/Jahr) in den 3 präpandemischen Vergleichsjahren (p = 0,113) ([Abb. 3]; [Tab. 4]).
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COVID-Infektionen
Bei 125 von 38782 Berliner Klinikgeburten des Jahres 2020 lag nach den im Rahmen der Perinatalerhebung dokumentierten Daten sicher eine SARS-CoV-2-Infektion vor. In dieser (kleinen) Gruppe war der Anteil von primären und sekundären Entbindungen per Sectio im Vergleich zum übrigen Geburtenkollektiv des Gesamtjahres 2020 nur in der Tendenz, aber nicht signifikant höher (29,6% Schnittentbindungen bei COVID-19-Patientinnen, 26,7% bei Patientinnen ohne COVID-19-Infektion, p = 0,48). Eine primäre oder sekundäre Sectio vor der 37 + 0 SSW wurde bei COVID-19-Patientinnen signifikant häufiger durchgeführt (10,3% bei Patientinnen ohne vs. 24,3% mit COVID-19-Infektion, p = 0,012) ([Abb. 4]).
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Diskussion
Wesentliche Ergebnisse unserer Datenauswertung sind:
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Die Gesamtzahl der lebendgeborenen Einlinge ist im 1. Pandemiejahr in den Berliner Geburtskliniken und -abteilungen zurückgegangen.
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Der Anteil von Frühgeburten bei Einlingen unter 37 + 0 SSW war 2020 signifikant niedriger als in den 3 Jahren davor, mit signifikant mehr Frühgeburten unter 28 + 0 SSW und signifikant weniger Frühgeburten in der Gruppe 28 + 0 bis 35 + 0 SSW.
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Es wurden im Jahr 2020 signifikant weniger Kinder unter 37 + 0 Schwangerschaftswochen durch einen primären Kaiserschnitt geboren.
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Die Häufigkeit von Geburtseinleitungen blieb in etwa gleich.
Stumpfe et al. (2022) haben vor Kurzem über limitierte Effekte von SARS-CoV-2-bedingten Lockdowns und des Rückgangs der Bevölkerungsmobilität auf die Frühgeburtenrate in Bayern berichtet. Dafür führten auch sie eine Sekundäranalyse geburtshilflicher Parameter der klinischen Qualitätssicherung durch und verglichen Ergebnisse der Jahre 2010 bis 2020. Sie fanden für die unbereinigte Frühgeburtenrate signifikant niedrigere Werte in den beiden Lockdownphasen, gruppierten aber nicht nach der Schwangerschaftswoche [6].
Zu welchen Ergebnissen kamen Arbeitsgruppen in anderen europäischen Ländern und Nordamerika, und welche Erklärungen für Einflüsse der Pandemiesituation auf die Geburtenzahl und die Frühgeburtenrate werden herangezogen?
Eine selektive Literaturrecherche, die wir Ende Dezember 2021 durchführten und die ausschließlich retrospektive Kohorten- und Registerstudien zu indirekten Folgen der COVID-19-Pandemie auf die perinatalen Ergebnisdaten umfasste, ergab widersprüchliche Resultate im Hinblick auf pandemie- bzw. lockdownbedingte Häufigkeitsunterschiede von unerwünschten schwangerschaftsbezogenen Ergebnissen wie Früh- und Totgeburtenrate [8]: So hat die dänische Arbeitsgruppe um Aabakke et al. (2021) keine wesentlichen Unterschiede in geburtshilflichen bzw. neonatalen Ergebnissen beobachtet, genauso wie Son et al. (2021) in den USA [9] [10]. Die Autorengruppe um Simon hat erstmals 2021 über einen Rückgang der Frühgeburtlichkeit in einem großen französischen Kollektiv bei nicht infizierten bzw. nicht COVID-19-getesteten Schwangeren berichtet und schlussfolgerte, dass umfassende gesellschaftlich-soziale Veränderungen wie eine Lockdownsituation mit positiven Auswirkungen auf die perinatale Morbidität verbunden sein können [11]. Rolnik et al. (2021) stellten in Australien bei Frauen, die zur Eindämmung der Pandemie strengen Einschränkungen ausgesetzt waren, weniger Frühgeburten fest [12]. Liu et al. (2021) werteten kanadische Daten aus und fanden in der bis dahin zu überschauenden Pandemiezeit einen Rückgang von Einlingsgeburten in frühen Schwangerschaftswochen, den sie zumindest teilweise auf weniger Geburtseinleitungen und Entbindungen per Sectio zurückführen und damit als „mitbedingt iatrogen“ einstuften [13].
Während der COVID-19-Pandemie habe es, so Townsend et al. (2021) in einem Literaturreview, zumindest in den entwickelten Industriestaaten eine geringere geplante und ungeplante Nutzung von Einrichtungen der Schwangerenbetreuung und -beratung gegeben, aber dafür eine Zunahme der telemedizinischen bzw. virtuellen Betreuung [14]. Chmilewska et al. (2021) betonen in ihrer im „Lancet Global Health“ publizierten Übersichtsarbeit, dass im Hinblick auf Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Frauengesundheit die Stärke und Qualität des jeweiligen Gesundheitssystems (Ressourcen in den „Niedriglohnländer vs. Industrienationen“) als wesentlicher Einflussfaktor anzusehen ist. Sie berücksichtigten für ihre Auswertung 15 Studien und fanden keine Veränderung der Frühgeburtenrate vor der 37. Schwangerschaftswoche [2]. Es gebe aber Unterschiede zwischen sog. Ländern mit hohem und solchen mit niedrigem Einkommen, wobei in den sog. Ländern mit hohem Einkommen ein Rückgang der Frühgeburtlichkeit (12 Studien) und der spontanen Frühgeburtlichkeit (2 Studien) beobachtet wurde [3]. Die Interpretation der Ergebnisse zur Frühgeburtlichkeit bleibt schwierig, so Simon et al. (2022), insbesondere im Hinblick auf die Auswirkungen länderspezifischer Gesundheitsmaßnahmen und von Einschränkungen wie Lockdowns auf nicht infizierte Schwangere [4].
Stansfield et al. (2022) untersuchten die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie und der mehrfachen Lockdowns in Melbourne/Australien der Jahre 2020 und 2021 auf die Gesamtzahl der Lebend- und insbesondere der Frühgeburten in einem großstädtischen Klinikverbund. Sie fanden einen Rückgang der Gesamtlebendgeburtenraten nach der Lockerung der Lockdownmaßnahmen und einen starken Anstieg der Geburten in einer Phase zwischen den Lockdowns. Der Anteil und die Zahl der Frühgeburten (< 37 + 0 Schwangerschaftswochen) gingen zu Beginn des 1. Lockdowns zurück, wobei der stärkste Rückgang nach dem Ende der 2. Lockdownperiode erfolgte. Die Geburten < 34 + 0 Schwangerschaftswochen waren während des Lockdowns ebenfalls rückläufig, aber bei Geburten < 28 Schwangerschaftswochen wurde keine signifikante Veränderung festgestellt [2]. Die Autorengruppe um Stansfield (2022) meint, dass diese Veränderungen in der Frühgeburtenrate auf mehrere Faktoren zurückgeführt werden können – darunter wirtschaftliche Instabilität, verminderter Zugang zur Gesundheitsversorgung und verändertes gesundheitsorientiertes Verhalten sowie vermehrte Hygienemaßnahmen. Daneben könnten die Einschränkungsmaßnahmen das Verhalten in Bezug auf Schlaf, Rauchen und Alkoholkonsum sowie körperliche Aktivitäten, aber auch die psychische Gesundheit im Allgemeinen beeinflusst und die Frühgeburtenraten verändert haben [2].
Für die Großstadt New York, die am ehesten als Vergleich für Berlin herangezogen werden könnte, haben Weinberger et al. 2022 berichtet, dass hier die Gesamtgeburtenzahl wie in Berlin 2020 im Vergleich zu 2019 zurückgegangen ist [15]. Die extreme Frühgeburtlichkeit (< 28 + 0 SSW) verringerte sich ebenfalls signifikant von 5,6 (2019) auf 4,7 pro 1000 Geburten im Jahr 2020 (p < 0,0001), aber die Rate der „moderaten“ Frühgeburten (28 + 0 bis 35 + 0 SSW) änderte sich nicht. Weinberger et al. (2022) interpretieren diese Daten so, dass mehrere biologische Effekte der SARS-CoV-2-Infektion und Umweltveränderungen während der Pandemie konkurrierende Auswirkungen auf die Frühgeburtenrate haben. Eine SARS-CoV-2-Infektion könne demnach die Frühgeburtenrate durch eine Zunahme der Präeklampsie und medizinisch indizierter Frühgeburten erhöhen, aber ihre Auswirkungen auf spontane Frühgeburten sind unbekannt. Die einschränkenden Pandemiemaßnahmen (Lockdowns, Quarantäne, weniger Reisen usw.) könnten (auch) die Exposition gegenüber jenen Infektionserregern verringern, die eine infektionsbedingte Frühgeburt auslösen können (Weinberger et al. 2022). Die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Frühgeburtenraten spiegelt wahrscheinlich ein Gleichgewicht zwischen einer Zunahme von präeklampsieinduzierten Frühgeburten und einer Abnahme von infektionsinduzierten spontanen Frühgeburten wider, so Weinberger et al. (2022) [15].
Dench et al. publizierten 2022 eine Datenauswertung zur Entwicklung der Frühgeburtenrate von Einlingen, wobei sie die nationalen Geburtsdaten des US-amerikanischen National Center for Health Statistics der Jahre 2010 bis 2020 nutzen konnten, die 100% aller registrierten Geburten in den Vereinigten Staaten, einschließlich Hausgeburten, umfasst (insgesamt 41394390 Einlingsgeburten) [14]. Die US-Daten deuten auf einen Rückgang der Frühgeburten nach dem Lockdown im März 2020 hin. Der Rückgang ist vor allem auf Geburten zurückzuführen, die per Sectio erfolgten oder eingeleitet wurden („iatrogen induzierte Frühgeburten“). Dench et al. (2022) interpretieren den außerdem zu verzeichnenden leichten Rückgang der Frühgeburten ohne Sectio oder Geburtseinleitung als Hinweis auf die Wirkung des Lockdowns [16]. Klumper et al. (2021) haben die Frühgeburtlichkeit während der 1. Pandemiephase in den Niederlanden untersucht und vermuten in einer pandemiebedingten Reduktion der Rate „iatrogener Geburten“, d. h. von Geburten durch primäre Sectio oder nach Geburtseinleitung ohne vorhergehenden Blasensprung, eine der Hauptursachen für den Rückgang der Frühgeburtenzahl [17].
Limitationen: Die von uns präsentierten Auswertungen beruhen auf einer Sekundäranalyse von Routinedaten, die im Klinikalltag in allen deutschen Kreißsälen erhoben werden, was die Dokumentationsqualität negativ beeinflussen kann. Dies gilt auch für die so identifizierten Schwangeren mit SARS-CoV-2-Infektion.
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Fazit
Bei unter Beachtung der o. g. Limitationen vorsichtiger Interpretation dieser ersten Daten und unter Einbeziehung international publizierter Ergebnisse kann vermutet werden, dass sich 2020 sowohl soziale, als auch Umweltauswirkungen der Lockdownmaßnahmen sowie iatrogene als auch biologische Faktoren auf die Frühgeburtlichkeit ausgewirkt haben. Weitere Datenanalysen vorliegender Registerdaten sind erforderlich, um mögliche Ursachen für die offenbar verringerten Frühgeburtenraten während des 1. Pandemiejahrs zu ermitteln und herauszufinden, ob sich Erkenntnisse für zukünftige Strategien zur Frühgeburtsverringerung daraus ergeben. Hierzu sollten als nächster Schritt die routinemäßig erfassten, umfangreichen Perinataldaten aller Klinikgeburten, die im Rahmen der Qualitätssicherung erhoben werden, bundesweit unter Einbeziehung der Jahre 2021 und 2022 detailliert und kritisch ausgewertet werden. Eine Analyse von möglichen pandemiebedingten Veränderungen bei den außerklinischen Geburten wäre ebenfalls sehr interessant und wichtig.
Wenn sich die Möglichkeit ergibt, aus der die gesamte Gesellschaft stark belastenden Pandemiephase einen Nutzen zu ziehen und durch eine vertiefende Auswertung von Daten Einflussfaktoren zu finden, die zu einem nachhaltigen Rückgang der Frühgeburtlichkeit führen könnten, sollte diese einmalige Chance im Sinne des „Guten im Schlechten“ unbedingt genutzt werden.
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References/Literatur
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Korrespondenzadresse
Publication History
Received: 03 July 2022
Accepted after revision: 20 November 2022
Article published online:
03 February 2023
© 2023. The Author(s). This is an open access article published by Thieme under the terms of the Creative Commons Attribution-NonDerivative-NonCommercial-License, permitting copying and reproduction so long as the original work is given appropriate credit. Contents may not be used for commercial purposes, or adapted, remixed, transformed or built upon. (https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/).
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