Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2023; 58(02): 68
DOI: 10.1055/a-1993-8941
Medizin im Fokus

Medizinisches Cannabis: positive Erfahrungen bei chronischen Schmerzen

Pressestelle des Deutschen Schmerzkongresses 2022 der Deutschen Schmerzgesellschaft e. V. & DMKG e. V.

Seit 2017 dürfen Cannabis-Medikamente in Deutschland als medizinische Wirkstoffe eingesetzt werden. Entsprechende Präparate wurden seitdem bereits zehntausendfach verschrieben. Ein Wirksamkeitsnachweis aus placebokontrollierten Studien fehlt zwar nach wie vor, in der Praxis zeichnen sich jedoch Anwendungsbereiche ab, in denen eine Cannabis-Therapie für die Patient*innen durchaus hilfreich sein kann. Seit Kurzem liegen hierzu erste Daten aus der sog. Begleiterhebung vor, über welche die Cannabis-Therapie in den ersten 5 Jahren beobachtet wurde [1]. 21000 Behandlungen sind in die Erhebung eingeflossen. Welche Erkenntnisse sich daraus ableiten lassen – welche Patientengruppen also möglicherweise von welchem Cannabinoid-Präparat profitieren – und welche Fragen noch offen sind, diese Aspekte wurden im Rahmen des Deutschen Schmerzkongresses diskutiert. Die Fachtagung hat Ende Oktober 2022 in Mannheim stattgefunden.

Die Möglichkeit, medizinisches Cannabis in begründeten Einzelfällen zu verschreiben, wurde 2017 an ein begleitendes Monitoring gekoppelt, an das die behandelnden Ärzt*innen ihre Erfahrungen mit der Therapie melden sollten. Bis zum Abschluss der auf 5 Jahre angelegten Erhebung gingen Informationen zu rund 21000 Behandlungen ein. Etwas mehr als 16800 dieser Datensätze waren vollständig, sodass sie in die Auswertung einbezogen werden konnten. „Damit wird jedoch nur ein Teil der tatsächlich erfolgten Behandlungen abgebildet“, sagt Prof. Dr. med. Frank Petzke, Leiter der Schmerzmedizin an der Klinik für Anästhesiologie am Universitätsklinikum Göttingen und Sprecher der Ad-hoc-Kommission „Cannabis in der Medizin“ der Deutschen Schmerzgesellschaft e. V. Denn nur die Daten von gesetzlich Versicherten, deren Behandlungskosten von der Kasse auch tatsächlich übernommen wurden, flossen in die Erhebung ein. Privatversicherte und Selbstzahler wurden nicht berücksichtigt.

Auch aus einem anderen Grund sind die Daten aus der Begleiterhebung vermutlich nicht repräsentativ. „Die Teilnahme war zwar für alle verschreibenden Ärzt*innen verpflichtend – wer sich daran hielt und wer nicht, wurde jedoch nicht überprüft“, so Petzke. Fest stehe jedoch, dass die Bereitschaft zur Meldung sehr unterschiedlich gewesen sei: Obwohl bekannt ist, dass die cannabishaltigen Präparate vor allem über die hausärztlichen Praxen abgegeben wurden, stammten mehr als die Hälfte der eingespeisten Daten von Anästhesist*innen, also von auf Schmerzmedizin spezialisierten Ärzt*innen.

Dennoch liefern die vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) veröffentlichten Daten einige wichtige Informationen: Zum einen gibt die Erhebung einen Überblick über das Spektrum der Erkrankungen und Beschwerden, bei denen cannabishaltige Präparate zum Einsatz kommen. „Die mit Abstand häufigste Indikation ist der chronische Schmerz“, berichtet Petzke. Er mache drei Viertel der Behandlungen aus, gefolgt von Spastik (9,6%) und Anorexie oder Wasting mit 5,1%. Die zugrunde liegende Erkrankung war in 14,5% der Fälle eine Tumorerkrankung, in knapp 6% eine multiple Sklerose. Begrenzte Aussagen sind auch zu den eingesetzten Medikamenten möglich. So wurden am häufigsten Arzneimittel mit dem Wirkstoff Dronabinol verschrieben – sie stellten mit 62,2% fast zwei Drittel der Verordnungen. Cannabis-Blüten dagegen wurden zwar deutlich seltener, besonders aber an jüngere, männliche Patienten abgegeben; auch wiesen sie eine höhere THC-Dosis auf.

Doch welche Schlüsse lassen sich in Bezug auf die Wirksamkeit der Cannabis-Präparate ziehen? Und unter welchen Umständen sollten die Krankenkassen die Kosten für die Therapie übernehmen? Einen positiven Effekt der Cannabis-Medikamente sahen die behandelnden Ärzt*innen vor allem bei schwerwiegenden Erkrankungen und bei starken Schmerzen. „Bei chronischen Schmerzen sowie in der Palliativmedizin sollte es daher weiterhin möglich sein, medizinisches Cannabis ohne großen bürokratischen Aufwand zu verschreiben“, sagt Petzke. Allerdings sollten die Kriterien hierfür in Studien weiter charakterisiert werden. Bevor die Krankenkassen die Cannabis-Therapie für weitere Indikationen öffneten, sollte jedoch ein evidenzbasiertes Zulassungsverfahren durchlaufen werden – mit doppelblinden, placebokontrollierten Studien, auf die bislang verzichtet wurde.



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
15. Februar 2023

© 2023. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany