Schlüsselwörter Credition - Entscheiden - Glauben - Wahrnehmung - Bewertung - Vertrauen - Intuition - Narrative - Rituale
Key words Credition - decision making - believing - beliefs - perception - valuation - trust - intuition - narratives - rituals
Einleitung
„Glaube“ oder „Glauben“ wird im deutschen Sprachgebrauch häufig, wenn nicht überwiegend, mit Religion assoziiert. In der Konsequenz wird unbeschwert Glaube oder Glauben mit religiösem Glauben gleichgesetzt [1 ]. Doch liegt hier ein gravierendes konzeptionelles Problem, das vermutlich Folge des Zusammenfließens von zumindest 2 Denkströmungen der europäischen Geschichte ist. Die eine Strömung bewirkte die religiöse Vereinnahmung des Glaubensbegriffs, die andere bewirkte eine inhaltliche Einengung des Adjektivs „religiös“ auf das Persönlichkeitsmerkmal Religiosität bzw. Spiritualität, wie es im englischen Sprachgebrauch gern verwendet wird [2 ]. Darüber hinaus ist es wichtig zu betonen, dass in der antiken Philosophie die Glaubensthematik der Gegenstand der Epistemologie war, also der Frage, wie man zu Erkenntnis gelangen kann. Seit der Antike wurde daher in der abendländischen philosophischen Tradition eine Glaubensaussage als wahr oder als wahrscheinlich wahr angenommen und ihr somit gewissermaßen das Attribut von Unumstößlichkeit zuerkannt [3 ]. Ab dem 3./4. nachchristlichen Jahrhundert bildete sich dann eine christliche Einfärbung des Glaubensbegriffs heraus, wobei credo, das lateinische Wort für „ich glaube“, zu einem der zentralen religiösen Wörter des Christentums wurde. Im Fahrwasser der abendländisch-lateinischen Denktradition avancierte der Ausdruck Religion somit allmählich zu einem der wichtigsten Wörter, die mit Glauben in Beziehung gesetzt wurden.
Mit dem Aufkommen der modernen Wissenschaften bekam der Religionsbegriff außerdem eine hohe öffentliche Präsenz und strukturbildende Bedeutung, weil Religion zur Selbstbezeichnung neuer akademischer Fachgebiete wie Religionswissenschaft, Religionsgeschichte, Religionsphilosophie, Religionspädagogik usw., verwendet wurde. Demgegenüber verlor Religion ab dem 19. Jahrhundert in den immer stärker werdenden Naturwissenschaften zunehmend Bedeutung, sodass Glauben und Religion schließlich sogar als für mit Naturwissenschaften unvereinbar bezeichnet und daher aus der wissenschaftlichen Diskussion verdrängt wurden [4 ]. Hinzukommt, dass bei dem heute weitverbreiteten englischen Sprachgebrauch die Angelegenheit noch dadurch komplexer wurde, weil im Deutschen „Glauben“ monolithisch nur im Singular existiert, während im Gegensatz dazu im Englischen auch die Pluralform „Beliefs“ wie eine Bezeichnung gebräuchlich ist. Außerdem ist Glauben im Deutschen ein Substantiv, das einen als statisch aufgefassten Zustand bezeichnet, während im Englischen das Gerundium „believing“ einen vorübergehenden Moment in der Glaubenstätigkeit beschreiben kann [5 ]. In der Philosophie der Gegenwart wird vor diesem Hintergrund vertreten, dass unter „Belief“ eine Auffassung zu verstehen ist, die formal mit „S A, dass P“ beschrieben wird [6 ]. Dabei bezeichnet S einen mentalen Zustand, A die Auffassung, und P ist die verbale Aussage. Demzufolge besteht die interessante Tatsache, dass eine Person unterschiedliche Auffassungen wie Furcht, Hoffnung und Wunsch zu derselben Aussage haben kann [6 ]. Damit wird allerdings erkennbar, dass „Beliefs“ im Zusammenhang mit Hirntätigkeit zu verorten sind. Somit ist Glauben zunächst einmal ein neutraler, säkularer Begriff, der keinen unmittelbaren oder zwangsläufigen Bezug zu Religion oder Religiosität hat [5 ].
Im täglichen Leben erleben wir, dass Religiosität von erheblicher sozialer Bedeutung ist. Beispielsweise haben die Anschläge vom 11. September 2001 in New York den Eindruck befördert, dass fundamentalistische Glaubenshaltungen zu radikalen bzw. terroristischen Handlungen führen können. Außerdem ist von Bedeutung, dass viele Menschen trotz der tiefgreifenden Säkularisation in den westlichen Ländern meditieren und beten und sich an religiös empfundenen Orten zu gemeinsamen religiösen Ritualen versammeln [7 ]. Schließlich neigen viele Menschen am Ende ihres Lebens dazu, über ihre eigenen Grenzen und Endlichkeit nachzudenken und entwickeln Interesse an religiösen Fragen [8 ]. Diese Beispiele zeigen, dass das Glaubensthema ungebrochen hohe Aktualität im gesellschaftlichen Leben genießt. Deshalb ist es für die Forschung von großem Interesse und stellt vor dem geschilderten historischen Hintergrund sogar eine besondere Herausforderung dar.
Was ist Glauben?
Unsere Welt wird zunehmend komplexer. Dies ist durch die unmittelbare Verfügbarkeit von großen Informationsmengen bedingt. Außerdem erlauben die modernen Medien eine rasche Verfügbarkeit von Änderungen dieser Information. Dadurch wird die Entscheidung, welcher Information und welcher Interpretation man trauen kann, immer schwerer. Wir Menschen sind gewohnt, unseren sensorischen Wahrnehmungen zu vertrauen, da wir sie rasch verarbeiten können und sie überwiegend die Realität zutreffend widerspiegeln [9 ]. Sie machen unseren Erfahrungshorizont aus. Aber dies trifft auf die Verarbeitung von gehörter sprachlicher Information und gelesenen Texten nicht in gleicher Weise zu. Dabei handelt es sich um Information, die wir von anderen Menschen bekommen und die nicht unserer unmittelbaren Wahrnehmung zugänglich ist. Deshalb müssen wir entscheiden, welcher Information aus welcher Quelle wir trauen können. Wir bringen also der Information aus einer gegebenen Quelle, will sagen: einer Person oder einem Text, einen Vertrauensvorschuss entgegen. Diese Information bekommt dann eine hohe subjektive Zustimmung oder Relevanz: kurz, wir glauben, wem wir trauen.
Aus neuropsychologischer Perspektive haben Sacks und Hirsch [10 ] postuliert, dass Glauben durch die Verarbeitung von perzeptiven und affektiven Informationen im Gehirn des Menschen entsteht. Dafür haben sie 4 Merkmale herausgestellt:
Menschen tendieren ihre Wahrnehmungen als wahr zu betrachten und vertrauen ihnen,
Menschen entwickeln eine positive Einstellung gegenüber den Glaubensinhalten,
Glaubensinhalte sind zwar stabil, können aber durch neue Sachverhalte verändert werden und
die Vorgänge, die Glauben ermöglichen, basieren auf Hirnfunktion.
Dieser neurowissenschaftliche Zugang markierte den Beginn einer beachtlichen Abkehr von dem bis dahin in den Naturwissenschaften üblichen Glaubensbegriff. Denn einerseits rückte der Prozesscharakter der Bildung und Modifikation von Glaubensinhalten in den Vordergrund. Und andererseits wurde „Glauben“ von dem idealistischen Wahrheitsbegriff der Welt, der seit der Antike postuliert worden war, abgekoppelt. Außerdem wurde mit dem neuen Begriff Credition, der sich von lateinisch credere (glauben) herleitet [2 ], der Prozesscharakter der Glaubensvorgänge im Diskurs von Natur- und Geisteswissenschaftlern konzeptionell und bezüglich seiner soziologischen und anthropologischen Implikationen entwickelt. Die dadurch ermöglichte interdisziplinäre Forschungslandschaft war Inhalt eines internationalen Symposiums, das 2021 mit Förderung der Volkswagenstiftung in Hannover Herrenhausen stattfand. Die Ergebnisse gehen in den Tagungsband (www.frontiersin.org/research-topics/23734/credition-an-interdisciplinary-approach-to-the-nature-of-beliefs-and-believing ) ein, der im Open-Access-Format zur Verfügung steht. In dieser Übersichtsarbeit werden die Kriterien von Glaubensvorgängen und Glaubensinhalten beschrieben und zusammengefasst (Kasten ).
GLAUBENSVORGÄNGE UND GLAUBENSINHALTE
Neurowissenschaftliche Kriterien
Die Wahrnehmung von Gegenständen und Ereignissen wird durch den Kontext und eine sich rasch wandelnde Umgebung beeinflusst.
Noch bevor die sensorischen Wahrnehmungen in das Bewusstsein des Individuums gelangen, werden sie emotional bewertet und bekommen damit eine subjektive Bedeutung.
Sowohl der wahrgenommene Reiz als auch die emotionale Bewertung führen zu einer Repräsentation, die im Gedächtnis gespeichert wird.
Durch Bestätigungen oder gegenläufige Konstellationen unterliegen Glaubensinhalte fortlaufender Modifikation.
Diese vorsprachlichen Repräsentationen werden als primäre Glaubensinhalte bezeichnet. Sie bilden den subjektiven Erfahrungshorizont und sind Grundlage für intuitive Handlungen und für Vorhersagen über die Folgen dieser Handlungen sowie die dadurch hervorgerufenen Umweltreaktionen.
Ein Teil der Glaubensinhalte übersteigt die Bewusstseinsschwelle und kann daraufhin verbal beschrieben werden. Dies ermöglicht einen Austausch über den Erfahrungshorizont eines Menschen mit anderen Menschen.
Narrative und assoziierte Rituale ermöglichen die Entstehung von konzeptuellen Glaubensinhalten, die autobiografische, religiöse und weltanschauliche Inhalte umfassen können.
Erkrankungen des Gehirns können abnorme Glaubensinhalte hervorrufen.
Kontextualisierte Wahrnehmung
Kontextualisierte Wahrnehmung
Die sensorische Wahrnehmung eines Sinnesreizes umfasst eine Reihe neuraler Prozesse, bei denen differenzierte Rezeptoren elektrische Impulse generieren, die über periphere Nerven und zentrale Nervenbahnen in die zugehörigen sensorischen Hirnareale geleitet werden. Beispielhaft sei an dieser Stelle auf die Ergebnisse der funktionellen Bildgebung hingewiesen, die diesbezügliche Einblicke in die Systemphysiologie des Menschen eröffnet hat [11 ]. Die Wahrnehmung dieser Sinnesreize wird dadurch beeinflusst, wie stark der Kontrast des Signals zur Umgebung bzw. wie lang seine Dauer ist. Es entstehen im Gehirn also Repräsentationen von Wahrnehmungsinhalten mit unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit. Je stärker der Kontrast, je länger die Dauer des Reizes ist oder je häufiger ein Reiz sich wiederholt, desto wahrscheinlicher halten wir den Wahrnehmungsinhalt. Deshalb halten wir unsere Wahrnehmungen für real und vertrauen ihnen, selbst dann, wenn wir uns dabei täuschen. [
Abb. 1
] zeigt beispielsweise, dass die Wahrnehmung eines Objektes stark von der Umgebung beeinflusst wird. Die grauen Streifen neben den weißen Streifen erscheinen heller als die Streifen des gleichen Grautons neben den schwarzen Streifen. Dieses Phänomen hat Adelson [12 ] mit unterschiedlichen Beispielen für die visuelle Wahrnehmung illustriert.
Abb. 1 Beeinflussung der sensorischen Wahrnehmung durch den Kontext. a Die grauen Streifen zwischen den schwarzen Balken erscheinen dunkler als die grauen Streifen zwischen den weißen Balken. Abb. b zeigt, dass das Grau identisch ist und damit der Kontext zu einer Fehlwahrnehmung führt (nach Daten aus [12 ]).
Ähnliches gilt auch für die Wahrnehmung von Ereignissen. Ereignisse sind Veränderungen in der Umgebung, die durch einen Beginn und ein Ende beschrieben werden können [13 ]. Weitere Beispiele von Ereignissen sind Bewegungsabläufe, die man mit Gegenständen oder Werkzeugen ausführt, um eine Aufgabe zu lösen. Bereits Primaten nutzen Gegenstände, um z. B. Essbares von entfernteren Stellen zu holen [14 ]. Auch die Zuwendung zu oder Abwendung von Mitmenschen sind gerichtete Handlungen, die man als Ereignisse beschreiben kann. Wie bei der Wahrnehmung von Objekten können aber auch bei der Wahrnehmung von Ereignissen Täuschungen auftreten. Hierbei ist der eigene Zustand im Verhältnis zur Umgebung von Bedeutung: Wenn man beispielsweise in einem stehenden Zug sitzt und aus dem Fenster auf das benachbarte Gleis schaut, auf dem ein anderer Zug abfährt, kann man den Eindruck haben, dass der eigene Zug abfährt. Erst bei höherer Geschwindigkeit des abfahrenden Zuges, gewinnt man die Einsicht, dass der andere Zug sich bewegt und nicht der Zug, in dem man sitzt. In anderen Situationen kann bei einer Person der Eindruck entstehen, ein künftiges Ereignis bereits vorhergesehen zu haben. Experimentell konnte gezeigt werden, dass, wenn ein räumliches Muster für einen kurzen Augenblick mit einem ähnlichen Signal verblendet war, der Betrachter den Eindruck hatte, eine Änderung in diesem Muster vorhergesehen zu haben [15 ]. Dabei konnte nachgewiesen werden, dass die Personen desto stärker der Meinung waren die Situation richtig vorausgesagt zu haben, je kürzer diese Verblendung andauerte ([
Abb. 2
]). Die zeitliche Schwelle für diese Fehlbeurteilung lag bei ca. 200 bis 300 ms.
Abb. 2 Einfluss der Präsentationsdauer auf die Beurteilung einer räumlich-visuellen Wahrnehmung. Probanden sollten vorhersagen, an welcher Stelle ein rotes Feld erscheint; dabei sahen sie nach einem Fixationskreuz eine indifferente Darstellung (links). Diese Vorhersage wurde durch die Präsentationsdauer der indifferenten Verblendung bestimmt, wobei die Selbsttäuschung einer richtigen Vorhersage bei zunehmenden Präsentationszeiten der indifferenten Darstellung abnahm, aber unter 300 ms deutlich zunahm (rechts). Mit freundlicher Genehmigung von PNAS. PNAS ist für die Übersetzung nicht verantwortlich (aus: Proc Natl Acad Sci USA 2017; 114: 10791-10796) [15 ]
Entscheidend aber ist, dass der Mensch seinen Wahrnehmungen, die schnell und ohne Anstrengung erfolgen, glaubt und davon ausgeht, dass sie seine Umgebung wahrhaft widerspiegeln [9 ]. In den meisten Fällen ist das erfahrungsgemäß auch zutreffend. Vor diesem Hintergrund haben Menschen wie auch nicht menschliche Primaten darüber hinaus die Fähigkeit, eine Ursachen von beobachteten Veränderungen zu vermuten und daraus Gesetzmäßigkeiten abzuleiten zu können [16 ]. Diese Fähigkeit ermöglicht das Verstehen des Werkzeuggebrauch von Gegenständen sowie von Interaktionen zwischen Menschen [14 ], [17 ]. Mit diesen Beispielen soll gezeigt werden, dass Menschen ihren Wahrnehmungen auch dann als zutreffend vertrauen, wenn ihre Wahrnehmung im Kontext von Umgebungskontrast bzw. kurzer Expositionszeit eingeschränkt war und sogar objektiven Kriterien widersprach.
Subjektive Bewertung
Menschen sind gegenüber ihren Wahrnehmungen darüber hinaus nicht neutral, sondern messen den in ihrer Umgebung wahrgenommenen Objekten und Ereignissen unmittelbar subjektive Relevanz und Bedeutung zu [18 ], [19 ]. Sie positionieren sich durch die gleichzeitige Zuweisung von Affekten zu den Wahrnehmungsinhalten, die ihrerseits wieder die Wahrnehmung beeinflussen [20 ]. Diese primäre Bewertung erfolgt durch neurale Vorgänge, die implizit und schnell ablaufen und Individuen ermöglichen „intuitiv“ zu reagieren. Entweder erfolgt diese Bewertung spontan im Kontakt mit dem Reiz oder wird von außen angeregt. Wenn man z. B. gefragt wird, ob die grauen Streifen neben den weißen bzw. schwarzen Streifen identisch sind, wird man dies verneinen; denn das Grau neben den schwarzen Streifen erscheint dunkler als das Grau neben den weißen Streifen ([
Abb. 1a
]). Da der Mensch aufgrund seiner Erfahrung von der Richtigkeit seiner Wahrnehmungen ausgeht [9 ], wird er irritiert sein, wenn diese Wahrnehmung infrage gestellt wird. Der Betrachter glaubt vielmehr, dass das Grau in den unterschiedlichen Bildteilen unterschiedlich grau ist, auch wenn es sich dabei um eine Fehlwahrnehmung handelt ([
Abb. 1b
]). Im schlimmsten Fall wird die Person wütend oder sogar aggressiv und kann sich von der fälschlichen Überzeugung nicht trennen, da sie ihr zufriedenstellend erscheint [21 ].
Diese subjektive Bewertung des Verhaltens anderer Menschen führt zu intuitiven Entscheidungen über Reaktionsverhalten, wobei eine Reihe von Bewertungsfunktionen Bedeutung bekommen, z. B. die subjektive Präferenz [22 ]. Ein Großteil dieses intuitiv gewählten Verhaltens geht mit entsprechender Veränderung der Mimik und der Körpersprache einher [23 ], [24 ]. Ein ausgeprägtes Phänomen ist z. B. die Zuwendung zu anderen Lebewesen und Menschen, die man als Empathie bezeichnet [17 ]. Im Gegensatz dazu kann über diese subjektive Bewertung aber auch eine unmittelbare Verteidigungsreaktion oder ein Fluchtverhalten ausgelöst werden [25 ]. Die zerebralen Repräsentationen von Wahrnehmungsinhalten von hoher Wahrscheinlichkeit bekommen üblicherweise einen positiven Wert zugeschrieben [26 ]. Diese supramodale Repräsentation kann als „Gaubensprodukte“ aufgefasst werden [27 ]. Sie sind nicht so flüchtig wie die kurzen sensorischen Wahrnehmungen, sondern dienen als Stütze für die Entscheidung über nachfolgende Handlungen. Darüber hinaus ermöglichen sie gleichzeitig die Vorhersage, was diese Handlungen bewirken können und in welcher Weise darauf von der Umgebung reagiert wird ([
Abb. 3
]). Wenn eine Konkordanz von Handlung und Vorhersage von Handlungskonsequenzen eintritt, erfährt die Repräsentation eine positive Verstärkung, was als Belohnungslernen bezeichnet wird und tierexperimentell mit nigrostriataler Dopaminfunktion vor allem im Nucleus accumbens in den ventralen Basalganglien in Verbindung gebracht werden konnte [28 ], [29 ]. Aber erlebte Handlungsfolgen, die der Vorhersage widersprechen, können geeignet sein, bis dato gehaltene Glaubensinhalte zu modifizieren [21 ], [30 ].
Abb. 3 Integration fundamentaler Vorgänge der Bildung von Glaubensrepräsentationen. Wahrnehmung und Bewertung können als reziproke Vorgänge verstanden werden, die zu Repräsentationen führen, die subjektiv wahrscheinlich und relevant sind. Sie erlauben eine Handlungsaktion, die entsprechend der Vorhersage angemessen ist. Vorhersagefehler bedingen eine Modifikation der bisherigen Glaubensrepräsentation (nach Daten aus [27 ]).
Wichtig zu betonen ist, dass diese neuralen Vorgänge der Wahrnehmung und der subjektiven Wertzuschreibung rasch und ohne Notwendigkeit von Introspektion ablaufen und dadurch nicht dem bewussten Zugriff durch das agierende Individuum zugänglich sind. Diese Prozesse finden mit hoher zeitlicher Präzision in ausgedehnten kortiko-subkortikalen Netzwerken statt, wie von Friston et al. [31 ] propagiert und biomathematisch moduliert wurde. Dabei beeinflussen die subjektiven Auffassungen bzw. Glaubensinhalte die spontanen Körperbewegungen wie Mimik und Spontanmotorik durch den in den Basalganglien vermittelten Generalisationseffekt ([
Abb. 4
]).
Abb. 4 Beeinflussung der zwischenmenschlichen Interaktion durch Glaubensinhalte. Glaubensinhalte beeinflussen intuitiv die Mimik und Gestik von Menschen und können als Narrative verbal ausgedrückt werden. Mimik, Gestik und verbale Äußerungen werden zwischen Menschen ausgetauscht und beeinflussen deren Verhalten. Diese schematische Darstellung der sozialen Interaktion zwischen 2 Menschen trifft auch auf die Interaktion zwischen Gruppen von Menschen zu (nach Daten aus [53 ]).
Sprachliche Vermittlung
Die beschriebenen subjektiven Repräsentationen können aber in das Bewusstsein des jeweiligen Individuums gelangen, so wie ein Individuum sich auch seiner Handlungen bewusst werden kann [32 ]. Dieser Vorgang ist die Voraussetzung dafür, dass die Inhalte dieser Repräsentationen, die Glaubensinhalte, sprachlich formuliert werden können [33 ], [34 ]. Dabei können die westeuropäischen Sprachen differenzieren, ob die Glaubensinhalte einer Tatsache bzw. einem Objekt entsprechen („ich glaube, dass…„). Sie ermöglichen aber auch die Beziehungen eines Individuums zu Gegenständen in der Umgebung einschließlich Werkzeugen sowie persönliche Beziehungen zu anderen Menschen zu beschreiben („ich glaube ihr/ihm …„). Diese Aussagen über primäre Glaubensinhalte spiegeln den Erfahrungshorizont von Individuen wider ([
Abb. 5
]).
Abb. 5 Kategoriale Einteilung von Glaubensinhalten. Statische Objekte begründen empirische Glaubensinhalte. Ereignisse in der Umgebung begründen relationale Glaubensinhalte. Sprachgebundene Vorgänge begründen konzeptuelle Glaubensinhalte. Beachte die Differenzierung des sprachlichen Ausdrucks für diese kategorialen Glaubensinhalte (nach Daten aus [34 ]).
Sprachlich kodierte Informationen und Glaubensinhalte können zwischen Menschen ausgetauscht werden. Durch das Medium Sprache können also Ereignisse, die ein Individuum positiv oder negativ erlebt hat, anderen Individuen, denen diese Informationen oder Ereignisse nicht selbst zugänglich waren, als Narrative vermittelt werden. Dadurch, dass die Sprachverarbeitung Inhalte entstehen lässt, deren Bedeutung einerseits über die dabei verwendeten einzelnen Worte hinausgeht [35 ], [36 ], aber gleichzeitig andererseits emotionale Wertigkeit für den Sprecher bzw. den Empfänger hat [37 ], entstehen konzeptuelle Glaubensinhalte [34 ]. Beispiele für derartige konzeptuelle Glaubensinhalte sind Narrative über autobiografische, ethnische, religiöse, politische oder übernatürliche Inhalte. Die sprachliche Beschreibung derartiger konzeptueller Glaubensinhalte erfolgt typischerweise mit „Ich glaube an …“. Solche konzeptuellen Glaubensinhalte haben zwar unterschiedliche Inhalte, sind aber dennoch nicht spezifisch, sondern auswechselbar [38 ]. Dies dürfte auch für Verheißungen eines künftigen Heils gelten, die sich in den Texten der großen Religionen finden, aber auch von autoritären Weltanschauungen angepriesen werden.
Bildgebende Untersuchungen haben gezeigt, dass die sprachliche Repräsentationen von Glaubensinhalten ein weit gestreutes Netzwerk im menschlichen Gehirn umfassen [39 ]. So konnte gezeigt werden, dass empirisch überprüfbare Glaubensinhalte mit erhöhter Aktivität im dorsomedialen und dorsolateralen Frontalkortex, dem anterioren zingulären Kortex, dem visuellen Assoziationskortex (Cuneus, Precuneus) und dem inferioren Temporalkortex einhergehen ([
Abb. 6
]). Das sind Regionen, die ebenfalls bei Arbeitsgedächtnisleistungen aktiviert werden [40 ]. Im Vergleich dazu gehen nicht überprüfbare, also konzeptionelle, Glaubensinhalte mit erhöhter Aktivität im superior-anterioren und inferioren Frontalkortex sowie den temporo-parietalen Kortex einher [39 ]. Das sind Regionen, die im Sprachnetzwerk von Bedeutung sind [41 ]. Interessant ist, dass der dorsomediale Frontalkortex, der Precuneus und der superiore Temporalkortex besonders aktiv waren, wenn sich die Probanden ihrer Beurteilung sicher waren. Diese Aktivierungen entsprechen einerseits jenen, die ein inneres Bild vermitteln [42 ] und andererseits jenen Regionen, die bei hoher subjektiver Sicherheit einer Beurteilung aktiviert sind [43 ].
Abb. 6 Zerebrale Aktivierungen bei der Beurteilung von Aussagen, die überprüft werden können (gelbe Beschriftung), und solchen, die nicht überprüft werden können (blaue Beschriftung). Regionen, die mit einer hohen Sicherheit der Beurteilung einhergehen, sind mit einem grünen Stern markiert. ACC: anteriorer zingulärer Kortex, DMFC: dorsomedialer Präfrontalkortex, DLPC: dorsolateraler Präfrontalkortex, IFG: inferiorer frontaler Gyrus, ITG: inferiorer temporaler Gyrus, PCG: posteriorer zingulärer Gyrus, SFG: superiorer frontaler Gyrus, STG: superiorer temporaler Gyrus. Mit freundlicher Genehmigung von PLOS.One (aus: Howlett J, Paulus M. The neural basis of testable and non-testable beliefs. PLOS one 2015; 10: e0124596) [39 ]
Das Hervorstechende der konzeptuellen Glaubensinhalte ist, dass sie ähnlich zu den primären Glaubensinhalten für die Individuen subjektive Wahrheiten darstellen, denen sie vertrauen. Im Gegensatz zu den primären Glaubensinhalten gehen die konzeptuellen Glaubensinhalte aber über den Erfahrungshorizont des einzelnen Individuums hinaus und können die Erfahrungsinhalte anderer Individuen darstellen. Da Sprachinhalte in schriftlicher Form in Aufsätzen bzw. Büchern bzw. auf Tonträgern akustisch vermittelt werden können, können somit andere Individuen, die sich an einem anderen geografischen Ort aufhalten bzw. zu einem anderen Zeitpunkt leben, an diese Information gelangen. So können sich konzeptuelle Glaubensinhalte in Gruppen, Familien und Gesellschaften verbreiten. Dabei gibt es empirisch bestätigte Modelle, wie sich Glaubensinhalte in sozialen Gruppen ausbreiten können [44 ]. Damit ergeben sich hochinteressante Perspektiven für das (Selbst-)Verständnis von ethnischen Gruppen sowie von Zivilisationsprozessen.
Abnorme Glaubensinhalte
Nach dem Gesagten kann kein vernünftiger Zweifel daran bestehen, dass die Bildung und Modifikation von Glaubensinhalten aufgrund von neuralen Prozessen im Gehirn entstehen. Dabei ermöglicht der sprachliche Zugang auch die Reflexion über die in das Bewusstsein eintretenden Glaubensinhalte. Hierbei handelt es sich dann um sprachgebundene Bewertungen, die langsam entstehen und die intersubjektive Plausibilität beinhalten. Dieser Vorgang wird als Glaubensbewertung bezeichnet [45 ], [46 ]. Wenn bei der Glaubensbewertung eine Störung vorliegt, können sich abnorme Glaubensinhalte manifestieren, die der betreffende Patient nur partiell oder gar nicht erkennen kann. Zum Beispiel können umschriebene Krankheitsprozesse des Gehirns die Vorgänge der Glaubensentstehung in subtiler Weise beeinträchtigen. Auf der Wahrnehmungsebene sind das beispielsweise der Neglect, die Agnosien und das Alien-limb-Phänomen [47 ]. Das Alien-limb-Phänomen beruht auf einer Konnektivitätsstörung zwischen frontalem und parietalen Kortex [48 ]. Es können aber auch ähnlich lokalisierte Hirnschäden sehr ähnliche, aber dennoch voneinander unterscheidbare Funktionsdefizite hervorrufen. Ein Beispiel ist die Prosopagnosie, also die Unfähigkeit ein Gesicht zu erkennen, und das Capgras-Syndrom, also die Unfähigkeit einem Gesicht eine richtige Bedeutung zuzuweisen. Hier liegen die Störungen im visuellen inferioren Temporalkortex [49 ].
Wenn die bewusste Hinterfragung der Widerspiegelung der Realität beeinträchtigt ist, wie das bei psychiatrischen Krankheiten der Fall sein kann, entstehen aus den sensorischen Wahrnehmungen Halluzinationen und Wahnvorstellungen, die der betreffende Patient partiell oder gar nicht als abnorme Glaubensinhalte erkennen kann. Beispielsweise werden bei Psychosen Halluzinationen von den Patienten typischerweise nicht als Halluzinationen erkannt und Wahnbildungen nicht als Wahnbildungen wahrgenommen [50 ]. In diesen Zuständen verhindert das fehlende Erkennen dieser abnormen Glaubensinhalte die persönliche Distanz und die Realisation, dass die erlebten Sensationen nicht mit den Berichten der Wahrnehmung der Mitmenschen übereinstimmen [51 ]. Hier ergibt sich möglicherweise einen Ansatz für eine therapeutische Perspektive. Denn psychotherapeutische Gespräche sollen dem Betroffenen die Realitätsferne oder die Realitätsnähe seiner sensorischen Erlebnisse aufzeigen [52 ]. Dabei ist das Ziel, den Betroffenen ihre unbewussten Auffassungen oder Glaubensinhalte in das Bewusstsein hineinzuverlagern und damit sprachlich zugänglich und letztlich modulierbar zu machen.
Diskussion
In diesem Artikel wurde der Zusammenhang von Glaubensvorgängen und Glaubensinhalten beschrieben. Es wurde ausgeführt, dass Glaubensvorgänge auf im Gehirn ablaufender Informationsverarbeitung beruhen, bei denen die Verbindung von sensorischer Wahrnehmung und affektiver Bewertung von zentraler Bedeutung ist [18 ]. Etwas in der persönlichen Umgebung Wahrgenommenem wird also eine subjektive Bedeutung oder Sinnhaftigkeit zugewiesen. Diese Vorgänge ermöglichen die Selektion von Aktionen im Zusammenhang mit der Prädiktion zukünftiger Ereignisse [27 ]. Die Inhalte dieser hoch differenzierten Wahrnehmungs- und Bewertungsvorgänge werden fortlaufend im Gedächtnis gespeichert, wobei die Rückkopplung von erfolgten Handlungen und Vorhersagen Belohnungslernen bzw. Vermeidungslernen eröffnet ([
Abb. 7
]). Diese Vorgänge ereignen sich rasch und unterhalb der Wahrnehmungsschwelle und begründen daher das intuitive Verhalten von Individuen [53 ]. Die dabei entstehenden neuralen Repräsentationen, die vermutlich mit Hilfe des Hippocampus im Langzeitgedächtnis gespeichert werden, besitzen zwar immer nur eine Wahrscheinlichkeit, aber für das jeweilige Individuum sind sie bedeutungsvoll und können sogar überlebenswichtig sein. Lebewesen sind also davon abhängig, für sie relevante Informationen, die in ihr nicht bewusstes Wissensrepertoire eingespeist wurden, zu glauben und zu vertrauen [54 ]. Glaubensinhalte haben zwar längerfristige Geltung für ein Individuum und können das Verhalten eines Individuums stabilisieren, aber sie können dennoch kontinuierlich durch neue Wahrnehmungen und Affektzuschreibungen moduliert werden [27 ].
Abb. 7 Zusammenhang von Vorgängen der Glaubensentstehung und der Formulierung der Glaubensinhalte sowie der Vorgänge der Gedächtniskonsolidierung und des Abrufs von Gedächtnisinhalten. Die sprachliche Kodierung der unterhalb der subjektiven Bewusstseinsschwelle ablaufenden Glaubensvorgänge ermöglicht die introspektive Reflektion über Glaubensinhalte (nach Daten aus [68 ]).
Dieses Modell der Glaubensbildung und Glaubensmodulation entspricht dem Credtionen-Konzept, das postuliert, dass die Manifestation von Glaubensinhalten das Ergebnis von im Gehirn ablaufenden neuralen Prozessen ist [2 ]. Dies beinhaltet einerseits empirische Glaubensinhalte über statische Objekte in der Umgebung sowie andererseits relationale Glaubensinhalte, die Ereignisse in der Umgebung betreffen [3 ]. Zu dieser Kategorie gehört das Erkennen von möglichen Interaktionen zu Objekten, aber auch zu anderen Personen. Diese primären Glaubensinhalte über Objekte und Ereignisse in der Umgebung stellen den Wahrnehmungshorizont von Individuen dar. Da sich in der Phylogenese die Interaktionsmöglichkeiten zur Umgebung und zu den in der Umgebung befindlichen anderen Individuen zunehmend komplexer entwickelt haben, wurden während der Hirnentwicklung auch die entsprechenden Hirnregionen größer [55 ]. Für die neurale Ebene wurden parallele kortiko-subkortikale Netzwerke postuliert und biomathematisch moduliert, in deren Strukturen diese Formation und Modulation von Glaubensinhalten stattfinden kann [31 ]. Hierbei ist wichtig darauf hinzuweisen, dass das diese primären Glaubensinhalte ohne sprachliche Kodierung in den individuellen Gehirnen verankert sind [56 ].
Demgegenüber sind Erzählungen (Narrative) die Grundlage von konzeptuellen Glaubensinhalten. Durch Narrative kann ein Erfahrungshorizont jenseits des vom individuellen Menschen erworbenen Erfahrungshorizont vermittelt werden [3 ]. Dabei erzeugt der Bericht der individuellen Vergangenheit autobiografische Glaubensinhalte. Traditionelle Berichte über die Entstehung der Menschen und der Ursache des Lebens können religiöse Glaubensinhalte hervorrufen. Die Auffassungen zum Tagesgeschehen betreffen politische Glaubensinhalte. Die Auffassungen, die einem sozialen Standard unterliegen, begründen ethische Glaubensinhalte. Die emotionale Beladung der Narrative bzw. der Sinn, den Individuen diesen Narrativen zuschreiben, wird durch Rituale verstärkt und ermöglicht. Rituale sind hoch definierte Verhaltensweisen, bei denen Narrative den Anlass beschreiben, die Handlungsabläufe festlegen, eine hohe emotionale Beteiligung erzeugen und sich anlassgemäß wiederholen [57 ]. Daher spielen Rituale eine herausragende Rolle bei der kindlichen Entwicklung, religiösen Praktiken sowie bei der persönlichen Verhaltenskontrolle [7 ]. Hervorgehoben werden soll, dass Menschen der sprachlich geäußerten Information in Analogie zu sensorischen Wahrnehmungen, die sich ja meistens als lebenstauglich bewahrheiten, im Allgemeinen in vergleichbarer Weise vertrauen. Das wird dann als „ich glaube …“ im Gegensatz zu Aussagen über Fakten, die mit „ich denke …“ beginnen, ausgedrückt [58 ]. Dies korrespondiert gut zu der Vorstellung, dass Sprache neben sensomotorischen auch konzeptionelle und intentionale sowie rekurrierende Funktionen umfasst, die unter anderem auch sozialen Aufgaben dienen [59 ].
Die Neuartigkeit dieses Ansatzes für das Verstehen von Glaubensinhalten über die zugrunde liegenden Glaubensvorgänge, besteht darin, dass das individuelle Subjekt in das Zentrum gerückt wird. Die Beschreibung von Glaubensinhalten ist somit von der begrifflichen Ebene und der Verhaltensebene auf die Ebene der kognitiven Neurowissenschaft getragen worden [60 ]. Eine wichtige Konsequenz davon ist, dass der Glaubensinhalt damit ohne Bezugnahme auf eine höhere Wahrheit auskommt, die in der europäischen Wissenschaftsgeschichte seit der Antike als Grundlage philosophischer Glaubensauffassung angenommen wurde [5 ]. Vielmehr beschränkt sich dieser neurowissenschaftliche Ansatz darauf, dass das Individuum den Ergebnissen der subjektiven Wahrnehmung Wahrheitscharakter zuspricht. Die Wahrheit bezieht sich somit auf die Wahrnehmung des Individuums, die keineswegs der objektiv erfassbaren Realität entsprechen muss. Die Individuen entwickeln demnach ein Vertrauen in ihre eigenen sensorischen Wahrnehmungen und postulieren eine Korrespondenz mit der Wahrnehmung der anderen Menschen. Eingangs ist gezeigt worden, dass die sensorische Wahrnehmung von Individuellen der Realität durchaus zuwiderlaufen und schwerwiegende Fehlurteile beinhalten kann. Wenn das betreffende Individuum dies nicht erkennt, können sich Fehlwahrnehmungen ausbilden, die Realitätscharakter für die betroffenen Individuen annehmen können, wie man das bei Halluzination und Wahnerleben bei Erkrankungen des Gehirns beobachten kann [46 ]. In der Menschheitsgeschichte waren solche fehlerhaften Glaubensvorstellungen unter Umständen sogar Lehrmeinungen, die von der Obrigkeit z. T. vehement verteidigt wurden. Es ist bekannt, dass im Europa des Mittelalters das Weltbild als geozentrisch aufgefasst wurde, bis diese Sichtweise durch die empirischen Untersuchungen mittels technisch verbesserter Fernrohre von Galilei (1564–1642) widerlegt wurde. Zu der archaischen Weltauffassung gehörte auch die Vorstellung, dass der Himmel eine Kristallschale ist, an der die Sterne fest verankert sind (das sogenannte Firmament). Die Akzeptanz des heliozentrischen Bildbildes war bekanntlich ein langer und schmerzhafter Prozess am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Dies ist ein wichtiger Aspekt der „sozialen Realität“, die Konzepte, Selbstmodelle und Glaubensinhalte umfasst und nach naturalistischer Überzeugung der kulturellen Evolution unterliegen dürfte [61 ].
Ein Teil der zahlreichen, intuitiv etablierten Glaubensinhalte kann sprachlich beschrieben und damit der bewussten Bewertung der Glaubensinhalte zugänglich werden [45 ], [46 ]. Es ist faszinierend, dass in den europäischen Sprachen „ich glaube, dass“ (empirische Glaubensinhalte), „ich glaube ihr/ihm“ (relationale Glaubensinhalte) und „ich glaube an“ (konzeptuelle Glaubensinhalte) differenziert zum Ausdruck gebracht werden können [34 ]. Narrative können vor allem auch unbekannte und neuartige Vorstellungen zum Ausdruck bringen, die eine Veränderung des jeweiligen Status quo beinhalten können [62 ]. So können neue Ideen des sozialen Zusammenlebens, neue Ideen von zukunftsweisender Architektur, Ideen bezüglich der sozialen Zusammengehörigkeit von Volksgruppen und Familien die menschliche Evolution beeinflussen. Eine wichtige weitere Folge ist, dass die Kognitionswissenschaften eine Reihe von Funktionen wie das agency detection, theory of mind, einen common sense Dualismus und eine promiscue Teleologie als wichtig für das Entstehen von religiösem Glauben identifiziert haben [63 ]. Interessant ist, dass die ersten beiden Funktionen nicht sprachgebunden sind und die beiden letzten konzeptuellen Glaubensinhalten entsprechen.
Während die bisherige Analyse der Glaubensinhalte von der Neurophysiologie bei Individuen ausgeht, ergibt sich die Frage, in welcher Weise in Gruppen gehaltene Glaubensinhalte für den Fortbestand der Gruppe sowie von Gesellschaften wichtig sein können. So spielt der ethisch-moralische Konsens, der in Glaubensgemeinschaften gefolgt wird, eine wichtige Rolle für die Entwicklung von Gruppenzugehörigkeit und sozialer Kooperation [64 ]. Darüber hinaus gibt es Modelle, nach denen die Ausbreitung von Glaubensinhalten in sozialen Gruppen beschrieben werden kann [44 ]. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass mit sprachlichen Äußerungen auch Täuschungen bei den Adressaten hervorgerufen werden können oder sollen. Interessant ist, dass sogar im Tierreich nonverbales Täuschungsverhalten beobachtet werden kann [65 ]. Letzteres erleben wir am im Zeitalter der sozialen Medien in zunehmendem Maße unter dem Stichwort „Fake news“.
Eine spezielle Dimension der Glaubensvorstellungen berührt das Arzt-Patienten-Verhältnis. Gerade in der Neurologie und Psychiatrie spielen die Anamnese der Krankheitssymptome und die Schilderung ihrer Ausprägung eine fundamentale Rolle für die Erfassung von Symptomen neurologischer bzw. psychiatrischer Krankheiten. Dabei kann die veränderte sensorische Wahrnehmung im Rahmen dieser Erkrankungen eine modulierende Funktion hinsichtlich der Schilderung der Krankheitssymptome bedingen. Demgegenüber steht die Aktion des Arztes, den betroffenen Patienten Vertrauen, Zuspruch und Anleitung zur Selbsttherapie zu vermitteln. Hier könnte die Bedeutung der Psychotherapie angesiedelt werden, die die sprachliche Kommunikation abnormer individueller Vorstellungen und ihre kognitive Modulierbarkeit zum Ziel hat [52 ].
Bei dem Thema Glauben sollte jenseits der kognitionswissenschaftlichen Ebene auch die Ebene der neuralen Prozesse ins Visier genommen werden; denn mit den Methoden der systemischen Neurophysiologie eröffnet sich der Blick in den Mikrokosmos Gehirn. Dieser neuartige Blick zielt darauf ab, kognitive Vorgänge im menschlichen Gehirn mit objektiven Messverfahren zu beschreiben. Pauen und Haynes [66 ] argumentieren, dass dies einen validen wissenschaftstheoretischer Ansatz darstellt. Hierzu korrespondierend wurden in den zurückliegenden Jahren die neurophysiologischen Grundlagen von Wahrnehmung und Bewertung auf breiter Ebene und hypothesengesteuert erarbeitet. Wir haben heute sehr genaue Vorstellungen davon, wie sensorische Reize über die spezifischen Rezeptoren und die aufsteigenden Bahnen ins Gehirn gelangen und dort zu einem Perzept, einer Wahrnehmung, verarbeitet werden. Hierbei hat die funktionelle Bildgebung eine maßgebliche Rolle gespielt [11 ]. Ähnliches gilt für die Zuschreibung von emotionalen Zuständen zu sensorischen Wahrnehmungen. Auch Handlungsvorstellung, -planung und -durchführung sind neurophysiologisch detailliert im Tierexperiment und beim Menschen beschrieben worden. Es gibt z. B. sehr gut fundierte Hinweise darauf, dass Handlungsplanung und Prädiktion im Sinne des Vorwärtsmodells miteinander zusammenhängen [67 ]. Semantische Kodierung und die komplexen Facetten der Gedächtniskonsolidierung und des Gedächtnisabrufs sind ebenfalls tierexperimentell und humanphysiologisch beschrieben [68 ]. Auf diesen Grundlagen basiert die prozessorientierte Analyse von Glaubensvorgängen und den daraus entstehenden Glaubensinhalten. Dabei ist wichtig hervorzuheben, dass Menschen dazu neigen, ihnen bekannten Menschen einen Vertrauensvorschuss zu geben und dem von ihnen Gehörten oder Gelesenen Glauben zu schenken. Auf neuraler Ebene führt dabei die Übereinstimmung mit dem Vorhergesagten zu einer Aktivierung des medialen inferioren Frontalkortex, während eine Diskrepanz zu dem Vorhergesagten den frontolateralen Frontalkortex aktiviert und damit hemmend wirkt [69 ].
Der beschriebene neurowissenschaftliche Zugang macht es möglich, intrasubjektive Erfahrungshorizonte in ihrer Ähnlichkeit und Unterschiedlichkeit zu erfassen und von sprachgebundenen Narrativen zu differenzieren. Aus den beschriebenen Untersuchungen wird ersichtlich, dass Glaubensprozesse fundamentale Hirnfunktionen sind, die sprachgebundene Glaubensinhalte wie beispielsweise religiösen und politischen Glauben erst ermöglichen. Diese Vorgänge sind also nicht durch ihre theoretische Beschaffenheit gerechtfertigt, sondern sie spiegeln Wahrscheinlichkeiten der sensorischen Wahrnehmung der Individuen wider, einschließlich der stets vorhandenen Möglichkeit der Falsifikation durch neue Erkenntnisse, wie Popper [70 ] sie für wissenschaftliches Arbeiten gefordert hat. Etwas als Glauben zu bezeichnen ist somit entweder Ausdruck
der subjektiven Metaperspektive oder einer Dritten-Person-Perspektive, die beide eine Zuschreibung einer angenommenen Erklärung für die Ursache des bei anderen Individuen beobachteten Verhaltens darstellen [71 ].
Daraus ergeben sich weitere Fragen: Welcher Person, welchem Bericht kann ich trauen? Was sind vertrauenswürdige Nachrichten, insbesondere warum wirken Fake News häufig glaubwürdig? Was macht die Attraktivität von Glaubensinhalten aus? Was bewirkt ihre Übersteigerung in Fundamentalismus? Antworten auf diese Fragen spielen eine große Rolle bei Entwicklung einer Kooperation und eines Zusammengehörigkeitsgefühls in sozialen Systemen.