Einleitung
Die Fortschritte der Humangenetik haben in den letzten Jahrzehnten unser
Verständnis vieler neurologischer Erkrankungen stark verändert. Dies
gilt nicht nur für die vielen seltenen „klassischen“
Erbkrankheiten, die einem Mendel’schen Erbgang folgen, deren
ursächliche Genmutationen und die dadurch verursachten molekularen
Pathologien in vielen Fällen aufgeklärt werden konnten, sondern auch
für die sogenannten „komplexen“ Erkrankungen, also
häufige Krankheiten wie Parkinson, Alzheimer und MS, für die immer
deutlicher wird, dass auch bei ihrer Entstehung erbliche Faktoren wesentliche
Beiträge leisten. Auch für sie konnten die molekularen Mechanismen
der Krankheitsentstehung in vielen Fällen besser verstanden werden. Die
humangenetische Diagnostik ist daher heute in vielen Fällen bereits eine
Standardmethode, die in universitären Zentren, aber auch in privaten
Laboratorien und Praxen auf hohem Niveau angeboten wird.
Bislang waren die Ergebnisse der genetischen Diagnostik zwar wichtig für die
genetische Beratung, also für die Abschätzung eines
Wiederholungsrisikos bei vererbten Erkrankungen oder zur besseren
Einschätzung der Prognose, sie hatten jedoch für die Behandlung
meist nur eine begrenzte oder keine Bedeutung. Zwar konnten zum Beispiel bei
ererbten Stoffwechseldefekten mit neurologischer Symptomatik, wie der
Gaucher-Erkrankung oder einer Ataxie mit Vitamin E Mangel (AVED) zum Beispiel durch
gezielte Enzymersatz- oder Substitutionstherapien Symptome mehr oder weniger
effektiv behandelt werden, aber der eigentlich ursächliche Gendefekt blieb
einer Behandlung nicht zugänglich.
Dies hat sich in den letzten Jahren auf dramatische Weise gewandelt. Technologien zur
Manipulation von genetischer Information, die zunächst für die
experimentelle Forschung in Tier- und Zellkulturmodellen entwickelt wurden
(Gentechnologie im weitesten Sinne), wurden in zunehmendem Maße für
die therapeutische Korrektur genetischer Defekte beim Menschen weiterentwickelt und
genutzt. Die ersten gentherapeutischen Verfahren wurden bereits zugelassen,
zahlreiche weitere klinische Studien sind initiiert oder werden geplant.
Spektakuläre Erfolge wie die Behandlung der Spinalen Muskelatrophie (SMA)
mit „Antisense-Oligonukleotiden“ (Nusinersen) [1] oder durch Gentransfer mit Hilfe eines
viralen Vektors (Zolgensma) [2]
[3] sind zwar noch Einzelfälle, aber der
„proof of concept“ ist erbracht, dass die therapeutische Korrektur
pathologischer Erbinformation beim Menschen möglich ist. In diesem
Themenheft sollen daher die aktuellen Ansätze der Gentherapie, ihre Chancen
und Risiken sowie neue Entwicklungen dargestellt werden.
Um die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der Gentherapie zu verstehen, ist
sowohl die Kenntnis der „genetischen Architektur“ neurologischer
Erkrankungen als auch der eingesetzten gentherapeutischen Methoden erforderlich.
Beides soll in diesem einleitenden Beitrag kurz umrissen werden.
Genetische Architektur Neurologischer Erkrankungen und ihre Relevanz
für die Gentherapie
Das Erkrankungsrisiko und der Verlauf der allermeisten neurologischen Krankheiten
werden sowohl durch erbliche (genetisch bedingte) als auch durch nicht-erbliche
(umweltbedingte) Faktoren beeinflusst.
Die üblicherweise als „erbliche“ neurologische
Erkrankungen im engeren Sinn bezeichneten Krankheiten, wie die Chorea
Huntington, die Duchenne‘sche Muskeldystrophie oder die Friedreich
Ataxie sind durch seltene Genmutationen mit starkem Effekt verursacht. In den
betroffenen Familien folgt die Erkrankung einem Erbgang nach den
Mendel‘schen Regeln (autosomal-dominant, autosomal-rezessiv oder
X-chromosomal). Die Mutation (je nach Erbgang in heterozygotem, homozygotem oder
hemizygotem Zustand) führt dabei mit hoher Wahrscheinlichkeit
(allerdings fast nie mit Sicherheit!) zu einer manifesten Erkrankung: man
spricht von einer „hohen Penetranz“ oder „monogenen
Erkrankungen“. Auch bei identischer Mutation kann die Ausprägung
der Erkrankung („Expressivität“) jedoch deutlich
variieren: das Manifestationsalter, die Erkrankungsschwere und in vielen
Fällen auch die Art der Krankheitssymptome können auch bei
gleicher Mutation unterschiedlich sein, wofür einerseits andere
genetische, andererseits auch nicht-genetische (z. B. Umwelt oder
Ernährung) Faktoren verantwortlich sein können.
Allerdings ist schon lange klar, dass auch bei häufigen neurologischen
Erkrankungen wie Parkinson, Multiple Sklerose oder bei Schlaganfällen
genetische Faktoren eine wichtige ursächliche Rolle spielen. Im
Gegensatz zu den Mendel‘schen Erbkrankheiten wird in diesen
Fällen die Vererbung oft als „komplex“ bezeichnet: in
epidemiologischen Untersuchungen können familiäre
Häufungen nachgewiesen werden, d. h. Familienangehörige
erkranken überzufällig häufig an der gleichen
Erkrankung, ein klarer Erbgang lässt sich aber nicht ausmachen. Die
Ursache dafür scheint in der „natürliche
Variabilität“ unserer Genome zu liegen: im Schnitt unterscheidet
sich die DNA zweier Personen an einer von 1000 Positionen im Genom. Die
häufigsten Varianten betreffen dabei nur einzelne Nukleotide und werden
daher „single nucleotide polymorphisms“ (SNPs) genannt. Die
meisten dieser SNPs sind wahrscheinlich völlig neutral, ein Teil davon
kann aber entweder risikoerhöhend oder auch risikomindernd (protektiv)
für eine bestimmte Erkrankung sein. Diese genetischen Varianten haben
jeweils für sich genommen nur einen relativ geringen Effekt auf das
Erkrankungsrisiko oder den individuellen Krankheitsverlauf. Sie führen
jeweils zu einer Erhöhung des Erkrankungsrisikos um nur einige Prozent,
können aber in der Summe sowohl im Einzelfall (gemessen als sog.
„Polygenic Risk Scores“, PRS), als auch auf Populationsebene,
einen beträchtlichen Einfluss haben. Da jedoch der individuelle Effekt
auf ein Krankheitsgeschehen gering und nur im Zusammenspiel mit vielen anderen
überhaupt relevant ist, sind solche Varianten zumindest zum heutigen
Zeitpunkt kein Ziel gentherapeutischer Verfahren.
Ein weiterer wichtiger Aspekt zum Verständnis der genetischen Architektur
von Erkrankungen ist die Unterscheidung zwischen Varianten, welche die Sequenz
des kodierten Proteins verändern (sog. „kodierende
Varianten“ oder „coding variants“) von solchen, die in
nicht-kodierenden Bereichen der DNA liegen.
Die heute bekannten Mutationen mit hoher Penetranz, die zu monogenen Erkrankungen
führen, sind in den allermeisten Fällen kodierende Varianten und
verändern daher die Sequenz des kodierten Proteins. Sie führen
dann entweder zu einem Verlust der normalen Proteinfunktion („loss
of-function“-Mutation) oder aber zum Zugewinn einer schädlichen
Funktion („gain-of-toxic-function“-Mutation). Während
die erste dieser Möglichkeiten meist bei autosomal-rezessiven
Erkrankungen relevant ist, weil erst der Verlust beider Kopien eines Gens zur
Erkrankung führt, sind autosomal-dominante Erkrankungen häufiger
auf eine „gain-of-toxic-function“-Mutation
zurückzuführen. Dazu zählen z. B. Mutationen,
welche die pathogene Aggregationsneigung von Proteinen erhöhen. Das Ziel
einer Gentherapie kann nun entweder der Ersatz eines fehlenden funktionellen
Proteins, oder aber die Ausschaltung eines Proteins mit
„toxischer“ Neufunktion sein.
Auch Mutationen in nicht-proteinkodierenden Bereichen des Genoms können
einen direkten Einfluss auf die Struktur des kodierten Proteins besitzen, wenn
sie zum Beispiel während der Transkription das Splicing der RNA
verändern. Noch wurden nicht viele dieser Varianten sicher
identifiziert, weil sich die Sequenzanalysen bislang vorwiegend auf die Exone
beschränkten. Es könnte aber sein, dass ein relevanter Anteil
der noch „ungelösten“ erblichen Erkrankungen durch
solche Mutationen erklärt werden könnte. Sie sind auch deshalb
von besonderer Bedeutung, weil sie gentherapeutischen Eingriffen in besonderer
Weise zugänglich sein könnten.
Die meisten Sequenzvarianten in den nicht-kodierenden DNA-Abschnitten haben keine
relevanten Auswirkungen auf die Struktur des Genprodukts. Sie beeinflussen aber
nicht selten die Aktivität von benachbarten (sog.
„cis-regulatorischer Effekt“) oder auch von weit entfernten
(sog. „trans-regulatorischer“ Effekt) Genen, in dem sie die
Transkriptionsaktivität der Gene und damit die Stärke der
Proteinexpression verändern. Dies kann zum Beispiel dadurch geschehen,
dass durch diese Varianten die Bindungsaffinität für
Transkriptionsfaktoren oder für regulatorische RNA Moleküle
(sog. non-coding RNA, ncRNA) verändert wird, oder auch dadurch, dass sie
epigenetische Regulationsmechanismen, wie zum Beispiel die Methylierung im
Bereich der Genpromotoren beeinflussen. Das kodierte Protein bleibt also in
seiner Struktur identisch, verändert ist die Menge oder die
intrazelluläre und/oder gewebe¬spezifische Verteilung,
die zu einer korrekten Funktion wesentlich beiträgt.
Beide Mechanismen (Änderung der Proteinsequenz durch seltene exonische
und Änderungen des Expressionsmusters durch häufige intronische
Varianten können die gleichen Gene oder Gennetzwerke betreffen und
führen dann zu unterschiedlichen Formen der gleichen Erkrankung.
Genkorrigierende Eingriffe (Gentherapien) haben in den meisten Fällen
DNA-Varianten zum Ziel, die entweder in der proteinkodierenden Sequenz liegen
oder das Splice-Verhalten der RNA beeinflussen, und damit zu der Gruppe der
Mutationen zählen, welche die Proteinstruktur verändern und mit
hoher Penetranz den Krankheitsphänotyp verursachen, weil hier der
Ursache-Wirkungsbezug am klarsten ist und die krankheitsverursachenden
zellulären Vorgänge am besten bekannt sind. Gerade in diesem
Bereich hat es in den letzten Jahren zum Teil spektakuläre Fortschritte
gegeben.
Methodik der Gentherapie
Unter dem Begriff Gentherapie werden heute therapeutische Ansätze
zusammengefasst, die entweder auf einer Manipulation der nukleären
Erbinformation selbst beruhen (Gentherapie auf DNA Ebene), oder in
sequenzspezifischer Weise die Transkription, also die Übersetzung der DNA
Information in mRNA, oder die Translation, also die Übersetzung der
mRNA-Information in Protein-sequenzen, (Gentherapie auf RNA Ebene) eingreifen [4]. Nicht zuletzt die in Rekordzeit unter
Nutzung gentherapeutischer Methoden gelungene Entwicklung wirksamer Impfstoffe gegen
SARS-CoV2 zeigt die enorme Potenz dieser Verfahren.
Gentherapie auf DNA-Ebene ist „ex vivo“ schon seit vielen
Jahren im Einsatz, insbesondere zur Behandlung von genetischen Enzymdefekten oder
immunologischen und hämatologischen Erkrankungen. Dabei werden Zellen des
Patienten (z. B. hämatopoetische Stammzellen des Knochenmarks)
entnommen, in vitro genetisch verändert und dann wieder
zurückgegeben. Beispiele hierfür sind die schwere kombinierte
Immundefizienz (SCID) oder die kongenitale Neutropenie [5]. Diese ex vivo-Methoden sind in der Regel
nur bei neurometabolischen Erkrankungen einsetzbar, da sich die betroffenen
ZNS-Zellen selbst in der Regel nicht entnehmen und wieder
zurücktransplantieren lassen. Beispiele für zugelassene
„ex vivo“ Gentherapien gibt es für die
Adrenoleukodystrophie (ALD) oder die metachromatische Leukodystrophie (MLD). Dabei
werden den Patienten zunächst Knochenmarksstammzellen entnommen, und mit den
intakten Genen (bei ALD das ABCD1-Gen, Gentherapeutikum Skysoda; bei MLD das
ARSA-Gen, Gentherapeutikum Libmeldy) mit Hilfe eines lentiviralen Vektorsystems
supplementiert und dann zurücktransplantiert.
Als „in vivo“ Therapien für Erkrankungen des zentralen oder
peripheren Nervensystems stehen derzeit die direkte Genersatztherapie durch
Übertragung von genetischer Information mit Hilfe von viralen Vektoren zur
Verfügung, alternativ wurde auch schon die Geneditierung durch die CRISPR
Cas9-Methode in vivo eingesetzt, oder aber RNA basierte Therapie, die eine
Modifikation der Prozesse erlaubt, welche die genetische Information der DNA in der
Zelle in funktionell wirksame Proteine übersetzen. Diese Therapien haben in
Einzelfällen bereits in die Praxis Einzug genommen, sie werden in vielen
Fällen im Rahmen von klinischen Studien erprobt oder haben bereits
Zulassungen erhalten. Hier sollen die wichtigsten Grundlagen kurz dargestellt
werden, aktuelle Anwendungsfälle sind dann in späteren
Beiträgen beschrieben. Eine umfassende Übersicht ist vor kurzem
erschienen [4].
DNS-basierte Gentherapie: virale Vektoren
Im Labor können Viren mit Hilfe von gentechnischen Methoden so
verändert werden, dass sie die Eigenschaft behalten, genetische
Information (DNA) in Zielzellen einzubringen, nicht aber die Fähigkeit
zur Amplifikation oder zur Bildung neuer Viruspartikel. Für
neurologische Erkrankungen haben sich in den letzten Jahren die
Adeno-assoziierten Viren (AAV) als besonders geeignet erwiesen. AAV sind selbst
replikationsunfähig, d. h. sie können sich nur mit Hilfe
eines sog. Helfervirus (in der Regel einem Adenovirus) selbst replizieren. AAVs
selbst sind nicht pathogen und integrieren nicht in das Wirtsgenom, was die
Gefahr der unbeabsichtigten Zerstörung von Tumorsuppressorgenen deutlich
verringert. Die durch das AAV transportierte DNA bleibt in der Zelle aber
langfristig als „Episom“ erhalten und aktiv. AAV Vektoren
können intrathekal, aber auch intravenös gegeben werden.
Allerdings ist die Länge der übertragbaren Genfragmente auf
maximal etwa 5.000 Basenpaare limitiert, was für manche Anwendungen
nicht ausreicht. Zum anderen wirkt das Kapsid des Virusvektors immunogen, so
dass z. B. bei intrathekaler Gabe Meningoenzephalitiden als Nebenwirkung
auftreten können, was dann eine Immunsuppression erfordert.
Außerdem kann die Wirksamkeit des Gentransfers durch die Bildung
neutralisierender Antikörper bei wiederholter Gabe reduziert werden.
Durch die lange Persistenz des Vektor-Episoms in nicht replizierenden
Nervenzellen ist grundsätzlich eine permanente, also kurative Behandlung
denkbar. Meist ist das Ziel einer AAV basierten Gentherapie ein Genersatz, also
z. B. bei autosomal-rezessiven Erkrankungen durch
„loss-of-function“ Mutationen.
Ein erster richtungsweisender Erfolg einer derartigen Therapie im Bereich der
neurologischen Erkrankungen konnte für die Spinale Muskelatrophie
erzielt werden. Der erwiesene positive therapeutische Effekt der einmaligen
Infusion des in einen Adenoassoziierten Virus (AAV) basierten Vektor verpackten
SMN Gens („onasemnogene abeparvovec“, Zolgensma [2]) konnte in einer zweiten Studie mit
einer Nachbeobachtungszeit von mindestens 6 Monaten in einer Kohorte von 78
Kindern mit SMA I (mittleres Alter 16.8 Monate bei Therapie unabhängig
bestätigt werden [3]. Dies gilt
als Durchbruch in der Gentherapie neurologischer Erkrankungen und führte
2020 zur Zulassung durch die EMA.
DNA-Editierung mit dem CRISPR-Cas9-System
Für die ex vivo Modifikation von DNA in der Zellkultur hat sich in
den letzten Jahren zunehmend das sehr vielseitige CRISPR Cas9-System in vielen
Variationen etabliert. Die CRISPR/Cas-Methode (von englisch Clustered
Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats – basiert auf einem
adaptiven antiviralen Abwehrmechanismus von Bakterien. Für die
Entdeckung dieses biologischen Mechanismus wurden Emanuelle Charpentier und
Jennifer Doudna 2020 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.
Ein DNA-schneidendes Enzym namens Cas9 (von englisch CRISPR-associated) ist mit
einer sog. „Guide RNA“-Sequenz verbunden, die per Basenpaarung
an eine spezifische DNA-Position mit komplementärer Sequenz binden kann.
Dadurch wird das Enzym Cas9 in unmittelbare räumliche Nähe der
gebundenen DNA gebracht, woraufhin das Enzym an der durch die Guide RNA
bestimmten Stelle den DNA Doppelstrang schneidet. Der Schnitt wird durch
zelleigene Enzyme repariert, was allerdings eine hohe Fehlerrate hat, sodass es
in vielen Fällen ein nicht-funktionales Gen resultiert
(„CRISPR-knock-out“). Wenn an dieser Stelle die
Einfügung einer DNA Sequenz in die Schnittstelle erfolgen soll, wird ein
entsprechendes DNA Fragment hinzugegeben, das an beiden Enden jeweils
überlappende Sequenzen für die beiden Schnittstellen aufweist.
Dann wird die einzufügende DNA mit den Enden der Schnittstelle wiederum
durch körpereigene Enzyme verbunden.
In jüngster Zeit wurde dieses System eingesetzt, um im Tier zu
experimentellen oder auch im Menschen zu therapeutischen Zwecken in vivo
DNA Modifikationen durchzuführen. Dafür wird die „Guide
RNA“, welche die komplementäre Sequenz des gewünschten
Zielgens enthält und die mRNA für das Cas9 Enzym gemeinsam in
einem Liposomenvesikel verpackt. Das Liposom enthält an seiner
Oberfläche Moleküle, die zur präferentiellen Aufnahme in
bestimmte gewünschte Zielzellen führen. Die Zelle synthetisiert
dann eine Kopie des Gens für das Cas9 Enzym, das sich mit der Guide RNA
zu einem Komplex zusammenfindet und dadurch gezielt die gewünschte DNA
Sequenz schneiden und das Zielgen ausschalten kann. In einer klinischen Studie
wurde dieses Prinzip zur Behandlung der Transthyretin Amyloidose angewandt [6].
RNA-basierte Gentherapie: Antisense Oligonukleotide, siRNA
In den letzten Jahren wurde eine Vielzahl von verschiedenen RNA-basierten
Gentherapiestrategien entwickelt und zum Teil schon in die klinische Anwendung
gebracht. Das bekannteste Beispiel ist die Entwicklung mRNA-basierter Impfstoffe
gegen das SARS-CoV-2-Virus. Neben der Übertragung der genetischen
Information von der DNA des Zellkerns in die Proteine der Zelle in Form der
Messenger RNA (mRNA) hat die RNA noch vielfältige weitere Aufgaben in
der Zelle, die therapeutisch genutzt werden können. RNA-basierte
Therapien können in drei Gruppen eingeteilt werden:
-
Nutzung von mRNA zur Synthese von Proteinen. Bekanntestes Beispiel ist
hier die Synthese des „Spike-Proteins“ des SARS-CoV2
Virus durch den Wirtsorganismus zur Induktion einer Immunantwort. Dieses
Prinzip wurde schon seit mehreren Jahren zur Immuntherapie von malignen
Erkrankungen entwickelt.
-
Nutzung von einsträngigen (sog.
„Antisense-Oligonukleotiden, ASOs) oder doppelsträngigen
(sog. Small interfering RNAs, siRNAs) RNA-Molekülen, die in die
normale Funktion der mRNA bei der Proteinsynthese eingreifen. Dadurch
kann die Expression eines Gens insgesamt herabreguliert oder ganz
ausgeschaltet werden, es kann unter bestimmten Umständen aber
auch nur eine pathologische Kopie (=Allel) (z. B. das
die Trinukleotid-Expansion des Huntingtin-Gens tragende Allel)
herunterreguliert oder auch bestimmte Splice-Vorgänge selektiv
verändert werden. Im Gegensatz zu natürlich
vorkommenden, negativ regulatorischen RNA-Molekülen sind
künstliche ASOs oder siRNAs so modifiziert, dass sie nur langsam
abgebaut werden und damit zu einer effektiven und anhaltenden Modulation
der Genexpression führen können. Durch die
Sequenzspezifität können gezielt einzelne Gene
modifiziert werden. In der Regel müssen ASOs in den Liquor
eingebracht werden (durch Lumbalpunktion oder intraventrikuläre
Kathetersysteme). Sie verteilen sich dann aber relativ gut im
Nervengewebe. Die biologische Wirkdauer von RNA Molekülen ist
meist auf einige Monate begrenzt, sodass die Therapie in
regelmäßigen Abständen wiederholt werden
muss.
Zwei RNA-basierte Gentherapien sind zum Beispiel für die Behandlung der
erblichen Transthyretin Amyloidose zugelassen: das ASO Inotersen [7] und die siRNA Patisaran [8]. Wie anfangs erwähnt wurde auch
für die SMA eine äußerst erfolgreiche ASO-Therapie
entwickelt (Nusinersen [1]), die seit 2017
in Deutschland zugelassen ist.
Risiken der Gentherapie
Nach vielen Jahren eher enttäuschender Versuche und zum Teil erheblicher
Rückschläge scheint die gentherapeutische Forschung in der
allerjüngsten Zeit nun entscheidende Durchbrüche erzielt zu
haben. Wie bei jeder innovativen Technologie stellen sich auch hier Fragen der
Risikoabwägung sowie ethische und gesundheitspolitische Fragen, die
beantwortet werden müssen.
Sowohl DNA- als auch RNA-basierte gentherapeutische Verfahren greifen in
grundlegende zelluläre Prozesse ein und können daher potenziell
gravierende unerwünschte Wirkungen zur Folge haben. Man unterscheidet
grundsätzlich “on-target“- und
„off-target“-Nebenwirkungen. Eine
„on-target“-Nebenwirkung wäre zum Beispiel, wenn die
Ausschaltung eines pathologisch veränderten Gens auch kritische
physiologische Funktionen des kodierten Genprodukts beeinträchtigt und
damit eine Nebenwirkung hervorruft. Umgekehrt könnte ein zu hoch
„dosierter“ Ersatz eines fehlenden Gens ebenfalls Nebenwirkungen
verursachen. Diese Art der Nebenwirkung unterscheidet sich nicht
grundsätzlich von der eines herkömmlichen Medikaments, wie zum
Beispiel eines Rezeptor-Agonisten oder –Antagonisten. Das therapeutische
Fenster des Gentherapeutikums muss wie bei jedem anderen Medikament durch
präklinische und klinische Studien bestimmt und hinsichtlich seiner
positiven und potenziell negativen Wirkungen beurteilt werden.
Neuartige und schwerer zu beurteilende unerwünschte Wirkungen
können durch „off-target“-Effekte der genetischen
Manipulation verursacht werden. So gehört es zum biologischen
Lebenszyklus bestimmter viraler Vektoren, dass sich ihre DNA in das Genom der
Wirtszelle integriert. Diese Integration findet zum Teil an bestimmten
Prädilektionsstellen statt, und kann dann in gewissem Ausmaß
vorhergesehen werden, zum Teil ist diese Integration aber auch zufällig.
Dies kann dazu führen, dass funktionsfähige Gene an der
Integrationsstelle zerstört werden. In vielen Fällen ist dies
ohne Konsequenz, da die homologe Kopie des Gens auf dem anderen Chromosom
weiterhin funktionsfähig ist und eine Kopie der meisten Genen ausreicht.
Außerdem würde die Ausschaltung eines essentiellen Gens im
schlimmsten Fall zum Verlust der betroffenen Zelle führen, was unbemerkt
bliebe, wenn dies nur bei einem kleinen Teil aller Integrationsfälle
geschieht. Problematisch kann jedoch die Ausschaltung einer Kopie eines
Tumorsuppressor-Gens sein, da dies der erste Schritt einer
„multiple-hit“-Kaskade der Tumorentstehung sein kann. Die heute
im Bereich der neurologischen Erkrankungen meist genutzten AAV-Viren integrieren
jedoch in der Regel nicht, sodass dieses Risiko zumindest sehr gering ist.
Bei den beschriebenen RNA-basierten Therapien könnte es auch
möglich sein, dass zum Beispiel die Sequenzspezifität eines ASOs
oder einer siRNA doch nicht ausreichend ist, wodurch auch die Transkription
anderer Gene beeinflusst werden könnte. Da aufgrund der genetischen
Variabilität die genaue Gensequenz von Person zu Person unterschiedlich
sein kann, könnten solche „off-target“-Effekte unter
Umständen nur bei bestimmten suszeptiblen Personen auftreten und damit
schwer vorhersehbar sein. Mit neuen bioinformatischen Methoden wird versucht,
dieses Problem zumindest quantitativ zu erfassen und wenn möglich zu
umgehen.
Ein weiteres zumindest theoretisches „off-target“-Risiko besteht
darin, dass sich der benutzte Virusvektor genetisches Material von
natürlich vorkommenden, potenziell pathogenen Viren zu eigen macht, dass
also auf diese Weise neuartige Viren mit unbekannter Wirkung entstehen
könnten. Diese Gefahr wird jedoch von Virologen allgemein als sehr
gering eingestuft, da die Rekombination zwischen verschiedenen Viren ohnehin der
„biologische Normalfall“ ist, für dessen Abwehr sich
unser Immunsystem seit Jahrmillionen optimiert hat.
Die Keimbahn-Gentherapie, also eine Veränderung des Erbguts, das an
kommende Generationen weitergegen wird, wird auf der Basis der heute
verfügbaren Technologien von praktisch allen klinischen und
wissenschaftlichen Meinungsführern abgelehnt und ist verboten.
Allerdings ist diese Ablehnung nicht prinzipieller Natur, sondern durch eine
Abwägung von Vor- und Nachteilen auf dem gegenwärtigen Stand der
Wissenschaft begründet. Der Deutsche Ethikrat hat in einer Stellungnahme
vom 9. Mai 2019
(https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/stellungnahme-eingriffe-in-die-menschliche-keimbahn.pdf)
die Auffassung vertreten, dass eine Modifikation der Keimbahn zu therapeutischen
oder prophylaktischen Zwecken zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht
vertretbar sei und sich für ein Moratorium ausgesprochen. Er ist aber
durchaus der Meinung, dass wissenschaftliche Fortschritte denkbar sind, die eine
Keimbahntherapie vertretbar erscheinen lassen, die Ablehnung ist also nicht
grundsätzlich.
Kosten der Gentherapie
Die Zulassung der ersten Gentherapie zur Behandlung der Spinalen Muskelatrophie
(SMA) hat erstmals in aller Deutlichkeit die Frage aufgeworfen, wie die
Anwendung derartiger innovativer Therapien unter den Bedingungen unseres
Gesundheitssystems mit einer gerechten Nutzung der zur Verfügung
stehenden Ressourcen vereinbar sein kann. Jede Behandlung der spinalen
Muskelatrophie (SMA) mit dem ASO Nusinersen, die alle 3–4 Monate
erforderlich ist, kostet heute ca. 200.000 €. Diese Behandlung wird bei
entsprechender Indikationsstellung als Sonderentgelt von den
Kostenträgern erstattet. Die wahrscheinlich nur einmal erforderliche
Injektion des Virusvektor-basierten SMA Medikaments Zolgensma, das im Mai 2019
in den USA und ein Jahr später in Europa zugelassen wurde, kostet mehr
als 2 Millionen €. Mit der Zulassung sind die Krankenkassen bei
entsprechender Indikationsstellung zur Kostenübernahme verpflichtet. Die
Studienlage belegt in diesen Fällen zweifelsfrei eine Wirkung, sodass
eine Kostenübernahme auch eingeklagt werden kann. Angesichts der
exorbitanten Kosten für eine möglicherweise rasch ansteigende
Anzahl an Gentherapeutika ist aber vorstellbar, dass ohne ein neues
Regelungswerk gefährliche Ungleichgewichte im Gesundheitssektor
entstehen könnten.
Ausblick
Auch wenn die ersten sichtbaren Erfolge der Gentherapie in den letzten Jahre
Grund für eine optimistische Einschätzung geben, sind weitere
Rückschläge keineswegs ausgeschlossen. Es ist durchaus
möglich, dass viele Probleme noch gar nicht in vollem Umfang
eingeschätzt werden können. So war zum Beispiel
überraschend, dass die erste ASO-Studie bei Chorea Huntington, trotz
einer klaren Rationale, vielversprechenden präklinischen Studien [9] und starker Evidenz auf der Basis von
Biomarker-Analysen [10] erfolglos
abgebrochen werden musste [11]
[12]. Einzelheiten sind in dem
entsprechenden Beitrag in diesem Heft dargestellt.
Auch bei den bisherigen Studien bei amyotropher Lateralsklerose konnte noch kein
Durchbruch erzielt werden. Diese Studien wurden bei Patienten mit SOD1-Mutation
(etwa 20% der familiären ALS) durchgeführt, weil
Untersuchungen an transgenen Mausmodellen darauf hinwiesen, dass der
Pathomechanismus auf einem „gain of toxic function“ durch die
Aggregation von fehlgefaltetem SOD1-Protein beruht. Durch Behandlung mit einem
SOD1-spezifischen ASO konnte in einem transgenen Rattenmodell der
G93A-SOD1-Mutation eine signifikante Reduktion der SOD1-Expression und eine
deutliche Verlangsamung des klinischen Verlaufs erzielt werden [13], sodass anschließend in zwei
aufeinanderfolgenden klinischen Phase-I/II-Studien das ASO bei Patienten
mit SOD1-ALS durch wiederholte lumbal applizierte intrathekale Injektion gegeben
wurde. In der Patientengruppe, welche die höchste Dosis erhielt
(100 mg/Injektion) konnte eine um 33% reduzierte
Liquorkonzentration des pathogenen SOD1-Proteins gemessen werden [14]
[15]. Eine darauf aufbauende Phase-III-Studie wurde vor kurzem
abgeschlossen und die Ergebnisse auf der Tagung der American Neurological
Association im Oktober 2021 vorgestellt. Der primäre Endpunkt, ein
signifikanter Unterschied der Progression, gemessen mit der ALSFRS-Ratingskale
nach 6 Monaten konnte nicht erreicht werden! Es zeigte sich aber eine konsistent
positive Tendenz in mehreren sekundären Endpunkten über den
gesamten Untersuchungszeitraum, insbesondere bei Patienten, die initial zu der
Subgruppe mit rascher progredientem Krankheitsverlauf zählten [16], sodass hier weitere Studien, wie auch
zu anderen genetischen Formen der ALS geplant sind. Auch diese spannenden
Entwicklungen sind in einem eigenen Beitrag in diesem Heft dargestellt.
Trotz der nach wie vor bestehenden Schwierigkeiten sind die Möglichkeiten
weiterer Entwicklungen der Gentherapie vor allem im Bereich individualisierter
Behandlung bei seltenen und sehr seltenen Erkrankungen enorm. Eine
„n-of-1“ Strategie, also die Behandlung einzelner Patienten mit
individuell „maßgeschneiderten“ Gentherapeutika wird
diskutiert [17] und wurde in
Einzelfällen sogar schon angewendet [18]. Es scheint also offensichtlich, dass die Gentherapie nach vielen
Jahren der stockenden Entwicklung nun einen Zustand erreicht hat, der weitere
klinisch relevante Fortschritte in naher Zukunft erwarten lässt.