Schlüsselwörter Priorisierung - Rehabilitation - Partizipation
Key words Priority Setting - Rehabilitation - Participation
Einleitung
Die medizinischen Rehabilitation baut auf den Grundprinzipien der Inklusion und
Teilhabe von Menschen, welche von Erkrankung oder Behinderung betroffen sind, auf
[1 ]
[2 ]
[3 ]. Die Umsetzung einer
patient:innenorientierten Versorgung ist daher entscheidend für die
Qualität der Rehabilitation sowie die Zufriedenheit der Rehabilitand:innen
[2 ]
[3 ].
Inwieweit die aktuelle Rehabilitationspraxis und -forschung die Interessen von
Rehabilitand:innen abbildet, ist kaum erforscht. Handlungs- und Forschungsagenden
werden im Gesundheitswesen meist unter Ausschluss von Patient:innen und klinisch
Tätigen bestimmt [4 ]
[5 ]
[6 ]
[7 ]. Stattdessen reden
stellvertretend „Expert:innen“ und Entscheidungsträger:innen
(bspw. Politiker:innen oder Manager:innen) über die notwendigen Bedarfe
für die Gesundheitsversorgung und -forschung. Internationale Untersuchungen
legen nahe, dass den Themen, welche für Patient:innen wichtig sind, jedoch
häufig keine hohe Relevanz von Entscheidungsträger:innen beigemessen
wird [4 ]
[5 ]
[8 ]. So zeigten Boivin et al.,
dass gemeinsam mit Patient:innen ermittelte Prioritäten für die
zukünftige Gesundheitsversorgung den Zugang zur Versorgung, die
Unterstützung und Beteiligung von Patient:innen sowie die Einbindung der
Kommunen in die Gesundheitsversorgung fokussierten. Prioritäten, die von
klinisch Tätigen und Manager:innen allein bestimmt wurden, zielten hingegen
auf die Reduzierung von Fällen in den Notaufnahmen, die Zusammenarbeit
zwischen Gesundheitseinrichtungen und der Qualitätsverbesserung
medizinischer Behandlungen ab [8 ]. Tallon et
al. und Crowe et al. zeigten weiterführend, dass sich Patient:innen und
klinisch Tätige mehr Evaluation von nicht-medikamentösen
Behandlungsansätzen wünschen wohingegen Forschende die Evaluation
von Medikamenten favorisieren [4 ]
[5 ]. Inwieweit sich die Priorisierung von
Handlungs- und Forschungsbedarf zwischen klinisch Tätigen und Patient:innen
voneinander unterscheidet, ist indes nicht eindeutig [8 ]
[9 ]
[10 ].
Durch den Ausschluss von Patient:innen bei der Bestimmung und Priorisierung von
Handlungs- und Forschungsbedarf besteht die Gefahr, dass die Agenden von
individuellen und/oder kommerziellen statt patient:innenorientierten
Interessen geprägt sind [4 ]
[5 ]
[6 ]
[7 ]. Patient:innen müssen
entsprechend bei der Festlegung von Handlungs- und Forschungsagenden beteiligt
werden [11 ]. Darüber hinaus kann es
sinnvoll sein, auch klinisch Tätige einzubeziehen, da diese den
Versorgungsalltag von Patient:innen und bestehende Probleme kennen.
Auf internationaler Ebene erfolgt eine Einbeziehung bei der Bestimmung von
Forschungsprioritäten immer häufiger [11 ]
[12 ]
[13 ]. Meist sind die Prozesse
indikationsspezifisch [12 ]
[13 ]
[14 ]
[15 ]. Die am häufigsten
verwendete Methode ist die der James Lind Alliance (JLA) [11 ]
[12 ].
Die JLA ist eine aus Großbritannien stammende gemeinnützige
Organisation, welche in Priority Setting Partnerships (PSP) Patient:innen,
Mitarbeitende und Expert:innen im Gesundheitswesen zusammenbringt. Die Teilnehmenden
werden gebeten, aus ihrer Sicht noch unbeantwortete Fragen zu benennen. Für
diese Fragen wird anschließend geprüft, ob ausreichend Evidenz
vorliegt. Ist dies nicht der Fall, werden die Fragen im Rahmen eines Workshops von
den Teilnehmenden priorisiert und in einer Forschungsagenda zusammengefasst [16 ]. Für das Setting der Rehabilitation
wurde nach unserem Kenntnisstand noch kein JLA Prozess durchgeführt.
Zur Bestimmung von praktischen Handlungsprioritäten gibt es nur wenige
Studien [11 ]
[17 ]. Zur Priorisierung wurden unterschiedliche Methoden (bspw.
Fokusgruppen oder Bürger:innenräte) genutzt [17 ]. Die Prozesse waren meist nicht
indikationsspezifisch [17 ]. Innerhalb des
deutschen Rehabilitationssektors wurden im Projekt RehaInnovativen
Handlungsprioritäten mit verschiedenen Akteuren aus der Rehabilitation
(unter anderem Leistungserbringer und -träger, Betroffenenverbände
und Forschende) bestimmt [18 ]. Handlungsbedarf
wurde bei den Themen „Reha individualisieren“,
„Übergänge optimieren“ (Zugang zur Reha und
Nachsorge) und „Regional zusammenarbeiten“ identifiziert. Eine
weitere in Deutschland durchgeführte Studie, in welcher Rehabilitand:innen
unterschiedliche Indikatoren von Patient:innenzentrierung nach ihrer Relevanz
bewerteten, kam ebenfalls zu dem Schluss, dass die Umsetzung einer individuellen
Rehabilitation sowie die vermehrte Beteiligung von Rehabilitand:innen besonders
wichtig sind [19 ]. In beiden Studien wurden
die Prioritäten jedoch nicht systematisch und unter Beteiligung von
Rehabilitand:innen identifiziert.
Insgesamt kann festgestellt werden, dass in Deutschland bisher wenig Kenntnis
darüber besteht, welche Themen für Rehabilitand:innen und
Mitarbeitende in der Rehabilitation relevant sind und wie entsprechend eine
patient:innenorientierte Rehabilitation ausgestaltet werden kann. Internationale
oder indikationsspezifische Prioritäten können auf Grund ihrer
Kontextabhängigkeit nicht einfach auf Deutschland oder den
Rehabilitationssektor als Ganzes übertragen werden [12 ]. Die vorliegende Studie zielte daher darauf
ab, für den Bereich der psychosomatischen und orthopädischen
Rehabilitation gemeinsam mit Rehabilitand:innen und Mitarbeitenden in der
Rehabilitation zukünftigen Handlungs- und Forschungsbedarf systematisch zu
identifizieren und zu priorisieren. Zudem wurde geprüft, inwieweit
Rehabilitand:innen und Mitarbeitende in ihrer Priorisierung übereinstimmen,
um den Einfluss verschiedener Interessensgruppen auf die Handlungs- und
Forschungsagenda abschätzen zu können [9 ].
Material und Methoden
Die Studie orientiert sich an der Methodik der JLA und gliederte sich in eine
Identifizierungs- und eine Priorisierungsphase [16 ]. In der Identifizierungsphase wurden relevante Handlungsfelder und
Forschungsfragen aus Sicht von Rehabilitand:innen und Mitarbeitenden in der
Rehabilitation erfasst. In der Priorisierungsphase wurden die identifizierten
Handlungsfelder und Forschungsfragen priorisiert.
Das Projekt wurde von einem Projektbeirat, bestehend aus Mitarbeitenden der Deutschen
Rentenversicherung Oldenburg-Bremen (DRV OL-HB) (drei Mitarbeitende aus
Rehabilitationseinrichtungen und drei Mitarbeitende aus den Bereichen der
Sozialmedizin und Verwaltung), begleitet. Bei der Erstellung der Studienmaterialien
waren vier Rehabilitand:innen beratend tätig.
Setting
Die Studie wurde im Setting der orthopädischen und psychosomatischen
Rehabilitation durchgeführt. Die beiden Indikationen nehmen den
größten Anteil an Fachabteilungen in stationären
Reha-Einrichtungen ein (30% Orthopädie, 13%
Psychosomatik) [20 ]. Die in diese Studie
eingeschlossenen Rehabilitationseinrichtungen der DRV OL-HB sind spezialisiert
auf die Behandlung von Burnout, Depressionen, Persönlichkeits- und
Verhaltensstörungen oder Angststörungen sowie auf Erkrankungen
des Bewegungsapparates und damit verbundener chronischer Schmerzen und
psychosomatischer Komorbiditäten.
Identifizierungsphase
Zwischen August und November 2020 wurden 3872 ehemalige Rehabilitand:innen (Reha
im Jahr 2019 abgeschlossen) sowie 266 Mitarbeitende der DRV OL-HB (235
Mitarbeitende aus drei Rehabilitationseinrichtungen und 31 Mitarbeitende aus den
Bereichen der Sozialmedizin und Verwaltung) zur Studienteilnahme eingeladen
(Einladung erfolgte postalisch durch die DRV OL-HB).
Mittels einer explorativen schriftlichen Befragung wurden Handlungsfelder und
Forschungsfragen aus Sicht der Studienteilnehmenden gesammelt. Die Teilnahme war
online oder postalisch möglich. Die benannten Themen wurden
anschließend mittels der zusammenfassenden qualitativen Inhaltsanalyse
nach Mayring ausgewertet [21 ].
Hierfür wurden die Aussagen der Teilnehmenden paraphrasiert und ein
induktives Kategoriensystem im Konsensverfahren durch drei Mitarbeitende
entwickelt. Bedeutungsgleiche Phrasen wurden unter den einzelnen Kategorien
zusammengefasst. Aus den Kategorien wurden praktische Handlungsfelder und
Forschungsfragen abgeleitet.
Für die Forschungsfragen wurde geprüft, inwieweit diese sich
inhaltlich den Rehabilitationswissenschaften zuordnen lassen. Dabei wurde ein
deduktives Vorgehen gewählt. Als Kategorien dienten die von Bengel und
Koch [22 ] definierten relevanten
Handlungsbereiche für die Rehabilitationswissenschaften (Entwicklung von
rehabilitativen Interventionen sowie deren Beurteilung/Evaluation,
Analyse des Rehabilitationssystems und dessen Weiterentwicklung sowie Theorien
und methodische Grundlagen der Rehabilitation). Fragestellungen, welche sich
keiner Kategorie zuordnen ließen, wurden aus der Analyse ausgeschlossen.
Eingeschlossene Forschungsfragen wurden standardisiert formuliert.
Hierfür wurden die von Berger-Grabner [23 ] definierten fünf Fragetypen (Beschreibend,
Erklärend, Prognose, Gestaltung, Bewertung/Kritik) genutzt.
Gleiche Fragetypen wurden ähnlich formuliert. Abschließend wurde
für jede Forschungsfrage geprüft, inwieweit ausreichend Evidenz
vorlag. Als ausreichende Evidenz wurde entsprechend der Definition der JLA das
Vorhandensein eines Systematischen Reviews, welches nicht älter als drei
Jahre ist und keinen weiteren Forschungsbedarf zu der entsprechenden Thematik
ausweist, anerkannt. Bei indikationsspezifischen Fragestellungen wurde auch das
Vorhandensein nationaler Leitlinien als ausreichende Evidenz betrachtet. Mit
Hilfe von Schlagworten wurden die Literaturdatenbanken Medline, Google Scholar,
die Datenbank der Zeitschrift „Die Rehabilitation“ sowie die
Reha-Forschungsdatenbank der Deutschen Rentenversicherung durchsucht. Auf der
Website der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen
Fachgesellschaften (AWMF) sowie der DRV Bund wurde nach Leitlinien recherchiert.
Zudem wurde Rücksprache mit dem Projektbeirat gehalten. Fragestellungen,
die als noch nicht oder unzureichend bearbeitet identifiziert wurden, sind in
die Priorisierungsphase aufgenommen worden.
Priorisierungsphase
Innerhalb der Priorisierungsphase wurden ein Priorisierungsworkshop sowie eine
postalische Delphi-Befragung durchgeführt ([Abb. 1 ]). Die Rehabilitand:innen, welche
sich in der Identifizierungsphase zur Teilnahme an der Priorisierungsphase
bereit erklärt hatten (Abfrage erfolgte im Rahmen der
Einverständniserklärung zur Identifizierungsphase), wurden einer
der beiden Methoden randomisiert zugeteilt. 32 Rehabilitand:innen wurden zum
Workshop und 152 Rehabilitand:innen zur postalischen Delphi-Befragung
eingeladen. Zur Delphi-Befragung wurden zusätzlich 239 Mitarbeitende aus
den Rehabilitationseinrichtungen und 37 Mitarbeitende aus den Bereichen der
Sozialmedizin und Verwaltung der DRV OL-HB eingeladen.
Abb. 1 Verwendete Methodik innerhalb der Priorisierungsphase.
Delphi-Befragung
Ziel der Delphi-Befragung war ein Konsens unter den Teilnehmenden
bezüglich der Relevanz der Handlungsfelder und Forschungsfragen[24 ]. In der erste Erhebungswelle
(Juni-Juli 2021) bewerteten die Teilnehmenden mittles einer
fünfstufigen Skala (sehr wichtig bis unwichtig ) die
Relevanz der einzelnen Handlungsfelder und Forschungsfragen aus der
Identifizierungsphase. Die durchschnittliche Bewertung je Handlungsfeld und
Forschungsfrage wurde den Teilnehmenden in der zweiten Erhebungswelle als
Balkendiagramm zurückgespiegelt. In der zweiten Erhebungswelle
(August-September 2021) bewerteten die Teilnehmenden nochmals dieselben
Handlungsfelder und Forschungsfragen. Dabei hatten sie die
Möglichkeit, unter Berücksichtigung der durchschnittlichen
Bewertungen aller Teilnehmenden ihre erste Bewertung anzupassen.
Die abschließende Auswertung der Befragung erfolgte deskriptiv anhand
von Häufigkeitsverteilungen und Lage-Maßen der zentralen
Tendenz. Zur Beurteilung, inwieweit die Teilnehmenden in ihrer Bewertung
übereinstimmten, wurden Konsenswerte je Handlungsfeld und
Forschungsfrage berechnet. Konsens wurde dabei als 70-prozentige
Übereinstimmung (Anteil sehr wichtig/wichtig
≥70% oder Anteil nicht so wichtig/unwichtig
≥70%) definiert. Die Handlungsfelder und Forschungsfragen
wurden abschließend anhand des Mittelwertes und der
Standardabweichung in eine Reihenfolge gebracht.
Ein Vergleich der Priorisierung zwischen Rehabilitand:innen und
Mitarbeitenden wurde deskriptiv durchgeführt. Zusätzlich
wurde der Korrelationskoeffizient nach Kendall (Kendall-Tau-b) berechnet.
Das Signifikanzniveau wurde auf p<0,05 festgelegt. Statistische
Analysen wurden in SPSS Version 26 durchgeführt.
Priorisierungsworkshop
Der fünfstündige Workshops zielte ebenfalls auf einen Konsens
unter den Teilnehmenden bezüglich der Priorisierung der
Handlungsfelder und Forschungsfragen ab. Er fand an einem Samstag im
September 2021 statt. Die Teilnehmenden erhielten vor dem Workshop ein
Arbeitsheft zur inhaltlichen Vorbereitung. Zu Beginn des Workshops gab es
eine Einführung. Anschließend wurden die Teilnehmenden in
zwei Teams eingeteilt, wobei sich ein Team mit den Forschungsfragen und
eines mit den Handlungsfeldern beschäftigte. Innerhalb der Teams
wurden zwei Kleingruppen gebildet, die über die Reihenfolge der
einzelnen Themen diskutierten. Die Anzahl der Handlungsfelder und
Fragestellungen, die innerhalb des Workshops in eine Reihenfolge gebracht
werden sollten, wurde auf jeweils 20 Themen begrenzt, da das Sortieren von
mehr Themen in der vorgesehenen Zeit als unpraktikabel betrachtet wurde.
Lagen mehr Themen vor, wurde in den jeweiligen Teams eine Vorauswahl der 20
Themen vorgenommen.
Nachdem sich die Kleingruppen auf eine Reihenfolge der Themen
verständigt hatten, wurden diese Reihenfolgen zu einer Team-Liste
zusammengefügt. Die Teammitglieder diskutierten die
zusammengefügte Liste und einigten sich auf eine finale Reihenfolge.
Die Listen der Teams wurden dann dem jeweils anderen Team vorgestellt und
mit allen Teilnehmenden diskutiert. Bei starken Unstimmigkeiten konnten die
Team-Reihenfolgen nochmals gemeinsam überarbeitet werden.
Abschließend einigten sich alle Teilnehmenden auf die finalen
Reihenfolgen der Handlungsfelder und Forschungsfragen.
Die priorisierten Listen aus beiden Methoden wurden abschließend
zusammengeführt. Hierfür wurden die Ränge addiert
und nach ihrer Summe sortiert. Die Zusammenführung
ermöglichte die Erstellung einer breiter konsentierten Liste, welche
unabhängiger von den Einflüssen einzelner Methoden ist.
Berichtet werden jeweils die Top 10 unter den Handlungsfeldern und
Forschungsfragen.
Ergebnisse
Identifizierungsphase
An der Identifizierungsphase haben 217 ehemalige Rehabilitand:innen
(Rücklaufquote 5,7%), 13 Mitarbeitende aus den Bereichen der
Sozialmedizin und Verwaltung der DRV OL-HB ( 41,9%) und 32 Mitarbeitende
der Rehabilitationseinrichtungen (13,6%) teilgenommen. Die
soziodemographischen Daten der Teilnehmenden können [Tab. 1 ] entnommen werden.
Tab. 1 Soziodemographische Daten der Teilnehmenden aus der
Identifizierungsphase.
Rehabilitand:innen (n=217)
Mitarbeitende DRV (n=13)
Mitarbeitende Klinik (n=32)
Geschlecht
männlich: 52,1%
männlich: 46,2%
männlich: 21,9%
weiblich: 45,2%
weiblich: 53,8%
weiblich: 75%
Alter
18–29: 1,4%
18–44: 38,5%
18–44: 37,5%
30–39: 6,9%
45–69: 61,5%
45–69: 59,4%
40–49: 16,1%
50–59: 53,5%
60–69: 19,8%
Bildung/Beruflicher Hintergrund
ohne Schulabschluss: 1,4%
Sozialmedizin: 46,2%
Arzt/Ärztin: 18,8%
Hauptschulabschluss: 29,5%
Verwaltung: 53,8%
Sozialarbeiter:in oder therapeutisches Personal:
46,9%
Realschulabschluss: 41%
Pflegekraft: 9,4%
Abitur/Fachhochschule: 15,2%
Verwaltungsmitarbeiter:in oder sonstiger Bereich:
21,9%
Universität: 6,5%
Sonstiges: 3,7%
Reha-Typ
Orthopädisch: 57,6%
Orthopädisch: 65,6%
Psychosomatisch: 33,2%
Psychosomatisch: 28,1%
Beides: 7,4%
Für die Gruppe der ehemaligen Rehabilitand:innen lagen für die
Variablen Alter, Geschlecht und Indikation Informationen über alle
eingeladenen Teilnehmenden vor. Entsprechend waren 57,2%
männlich (42,8% weiblich) und größtenteils
zwischen 50 und 59 Jahre alt (46,8%) (Anteil in anderen Altersgruppen:
18–29: 2,5%; 30–39: 6,7%; 40–49:
18,6%; 60–69: 25,4%). 68,4% haben an einer
orthopädischen Rehabilitation teilgenommen (31,6%
psychosomatisch). Die Teilnehmenden dieser Studie unterschieden sich
hinsichtlich der Verteilung dieser Variablen somit nur geringfügig von
der gesamten Studienpopulation.
Im Rahmen der Auswertung wurde deutlich, dass indikationsspezifische Themen kaum
eine Rolle spielten. Alle der induktiv gebildeten Kategorien, aus denen der
Handlungs- und Forschungsbedarf abgeleitet wurde, beinhalteten
Rückmeldungen von Teilnehmenden aus beiden Indikationsbereichen. Die
Themen wurden daher indikationsübergreifend ausgewertet. Insgesamt
wurden 20 praktische Handlungsfelder und 30 Forschungsfragen identifiziert
([Abb. 2 ]). Die Handlungsfelder
deckten dabei ein breites Themen-Spektrum ab und ließen sich in die
Bereiche „Vor der Reha“, „Während der
Reha“, „Nach der Reha“ und „Die gesamte Reha
betreffend“ unterteilen. Die Forschungsfragen konnten den relevanten
Forschungsbereichen für die Rehabilitation nach Bengel und Koch [22 ] zugeordnet werden. Auf Grund fehlender
oder unzureichender Evidenz wurden alle Fragestellungen in die
Priorisierungsphase aufgenommen.
Abb. 2 Themenbereiche der identifizierten Forschungsfragen.
Priorisierungsphase
An der Delphi-Befragung nahmen in der ersten Befragungsrunde 92 ehemalige
Rehabilitand:innen (63%), 9 Mitarbeitende aus den Bereichen der
Sozialmedizin und Verwaltung der DRV OL-HB (24,3%) und 46 Mitarbeitende
der Rehabilitationseinrichtungen (19,3%) teil. 81,5%
(n=75) dieser Rehabilitand:innen, 82,5% (n=33) dieser
Klinikmitarbeitenden und 88,9% dieser Mitarbeitenden aus den Bereichen
der Sozialmedizin und Verwaltung der DRV OL-HB (n=8) nahmen ebenfalls an
der zweiten Befragungsrunde teil. Die soziodemographischen Daten der
Teilnehmenden beider Befragungsrunden sind in [Tab. 2 ] zu finden.
Tab. 2 Soziodemographische Daten der Teilnehmenden an dem
Priorisierungsworkshop und beiden Delphi-Befragungen.
Delphi-Befragung
Workshop
Rehabilitand:innen (n=75)
Mitarbeitende DRV (n=8)
Mitarbeitende Klinik
(n = 33)
Rehabilitand:innen
(n = 11)
Geschlecht
männlich: 46,7%
männlich: 37,5%
männlich: 18,2%
männlich: 54,5%
weiblich: 52%
weiblich: 62,5%
weiblich: 81,8%
weiblich: 45,5%
Alter
18–29: 1,3%
18–44: 50%
18–44: 33,3%
18–29: 0%
30–39: 4%
45–69: 50%
45–69: 66,7%
30–39: 0%
40–49: 16%
40–49: 18,2%
50–59: 54,7%
50–59: 45,5%
60–69: 24%
60–69: 36,4%
Bildung/Beruflicher Hintergrund
ohne Schulabschluss: 1,3%
Sozialmedizin: 37,5%
Arzt/Ärztin: 9,1%
ohne Schulabschluss: 0%
Hauptschulabschluss: 30,7%
Verwaltung: 62,5%
Sozialarbeiter:in oder therapeutisches Personal:
48,5%
Hauptschulabschluss: 27,3%
Realschulabschluss: 49,3%
Pflegekraft: 18,2%
Realschulabschluss: 36,4%
Abitur/Fachhochschule: 14,7%
Verwaltungsmitarbeiter:in oder sonstiger Bereich:
21,2%
Abitur/Fachhochschule: 36,4%
Universität: 4%
Universität: 0%
Reha-Typ
Orthopädisch: 45,3%
Orthopädisch: 63,6%
Orthopädisch: 36,4%
Psychosomatisch: 33,3%
Psychosomatisch: 36,4 %
Psychosomatisch: 45,5%
Beides: 21,3%
Beides: 18,2%
Nach Abschluss der zweiten Befragungsrunde konnte lediglich für eine
Forschungsfrage kein Konsens unter den Teilnehmenden hergestellt werden
(„Wie wirkt sich ein Rauchentwöhnungsprogramm in der
orthopädischen Reha auf das Behandlungsergebnis aus?“ ,
Konsenswert 38,5%). Die durchschnittliche Bewertung je Handlungsfeld und
Forschungsfrage für beide Delphi-Befragungen sowie die Konsenswerte
können Online-Anhang 1 und 2 entnommen werden.
An dem Priorisierungsworkshop haben 11 Rehabilitand:innen teilgenommen
(35,5%). Die soziodemographischen Daten der Teilnehmenden sind ebenfalls
in [Tab. 2 ] dargestellt.
Priorisierter Handlungs- und Forschungsbedarf
In [Abb. 3 ] und [4 ] sind jeweils die 10 wichtigsten
praktischen Handlungsfelder und Forschungsfragen aus der Sicht der
ehemaligen Rehabilitand:innen und Mitarbeitenden in der Rehabilitation
abgebildet.
Abb. 3 Finale Liste für den praktischen
Handlungsbedarf.
Abb. 4 Finale priorisierte Liste für den
Forschungsbedarf.
Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Priorisierung von Mitarbeitenden
und Rehabilitand:innen
Die durch die Mitarbeitenden und Rehabilitand:innen erstellten Reihenfolgen
in der Delphi-Befragung weisen sowohl für die praktischen
Handlungsfelder (Kendalls Tau : 0,40, p =0,014) als auch
für die Forschungsfragen (Kendalls Tau : 0,49,
p =0,001) eine signifikant positive mittelstarke Korrelation
auf [25 ] (Vergleich in
Online-Anhang 3 und 4 ).
Folgende Handlungsfelder wurden von beiden Gruppen sehr hoch priorisiert:
„Umsetzung eines ganzheitlichen Therapieansatzes“
(jeweils Rang 1), „Reha-Behandlung individuell
gestalten“ (Rehabilitand:innen Rang 2, Mitarbeitende Rang 3)
und „Vorbereitung der Reha“ (Rehabilitand:innen Rang
4, Mitarbeitende Rang 2). Bei den Top 10 gab es sieben
Überschneidungen. Große Unterschiede ergaben sich vorrangig
in der Bewertung der Handlungsfelder „Beteiligung von
Rehabilitand:innen in der Reha“ (Rehabilitand:innen Rang 5,
Mitarbeitende Rang 14), „Messung des Behandlungserfolges und der
Zufriedenheit von Rehabilitand:innen in der Reha“
(Rehabilitand:innen Rang 19, Mitarbeitende Rang 10) sowie
„Arbeiten im Reha-Team“ (Rehabilitand:innen Rang
17, Mitarbeitende Rang 4).
Bei den Forschungsfragen waren sich Mitarbeitende und Rehabilitand:innen
gleichermaßen einig, dass die Fragestellungen „Welchen
Einfluss hat die Motivation der Rehabilitand:innen auf das
Behandlungsergebnis?“ (Rehabilitand:innen Rang 1,
Mitarbeitende Rang 2) und „Welche Faktoren sind für die
Rehabilitand:innenzufriedenheit in der Reha relevant?“
(Rehabilitand:innen Rang 4, Mitarbeitende Rang 3) relevant für die
zukünftige Rehabilitationsforschung sind. Bei den Top 10 sechs gab
es Überschneidungen. Große Unterschiede in der Bewertung
ergaben sich bei den Forschungsfragen „Wie unterscheiden sich ein
ausdauerorientiertes und ein kraftorientiertes Trainingsprogramm im
Hinblick auf das Behandlungsergebnis bei
Rückenschmerzen?“ (Rehabilitand:innen Rang 8,
Mitarbeitende Rang 25) und „Welche Aufgaben können
Fallmanager:innen zur Unterstützung der Rehabilitand:innen
übernehmen?“ (Rehabilitand:innen Rang 26,
Mitarbeitende Rang 10).
Diskussion
Im Rahmen dieser Studie wurden erstmals für die Bereiche der
psychosomatischen und orthopädischen Rehabilitation in Deutschland gemeinsam
mit ehemaligen Rehabilitand:innen und Mitarbeitenden zukünftige Handlungs-
und Forschungsbedarfe identifiziert und priorisiert. Handlungsbedarf besteht bei der
Umsetzung von individualisierten und ganzheitlichen rehabilitativen Interventionen,
einer verbesserten Eingangsuntersuchung und Entlassung, der
Qualitätssicherung sowie bei der Unterstützung von
Rehabilitand:innen vor und nach der Rehabilitation. Die Rehabilitand:innen sahen
zudem großen Bedarf für eine stärkere Aufklärung und
Beteiligung von Rehabilitand:innen.
Forschungsbedarf besteht zu Fragestellungen, welche sich mit dem Zugang zur und den
Strukturen in der Rehabilitation (beispielsweise trägerübergreifende
Zusammenarbeit, Häufigkeit und Dauer, Nachsorgeangebot) sowie der
Ausgestaltung rehabilitativer Interventionen (individuellere Rehabilitation,
alltagstaugliche Übungen) befassen. Darüber hinaus war die Frage zur
Bedeutung der Motivation von Rehabilitand:innen für den Behandlungserfolg
von Bedeutung.
Bei einem Vergleich der Prioritäten von Mitarbeitenden und Rehabilitand:innen
wurde deutlich, dass viele Themen ähnlich hoch priorisiert wurden. Bei
einigen Themen gab es aber auch deutliche Diskrepanzen.
Einordnung des identifizierten Handlungs- und Forschungsbedarfs in den
aktuellen Forschungsstand
Die identifizierten Handlungsbedarfe nach einer individuelleren Rehabilitation
sowie der stärkeren Beteiligung von Rehabilitand:innen stimmen mit
Ergebnissen vorheriger Studien überein [18 ]
[19 ]. Auch die Verbesserung
des Zugangs zu Rehabilitation sowie die Unterstützung von Patient:innen
vor und nach der Rehabilitation waren den Teilnehmenden sowohl in dieser Studie
als auch im Projekt RehaInnovativen wichtig [18 ].
Im Gegensatz zu dem in dieser Studie identifizierten Forschungsbedarf wurden in
bereits durchgeführten Studien vorrangig indikationsspezifische Themen
(Ursache, Behandlung, Verlauf einer Erkrankung) und kaum systembezogene
Fragestellungen hoch priorisiert [12 ]
[13 ]
[14 ]
[15 ]. Eine Ausnahme stellt
eine in Deutschland durchgeführte Studie zu
Forschungsprioritäten von an Depression erkrankten Menschen und
Angehörigen dar [26 ]. Hier wurden
neben Bewältigungsstrategien für die Erkrankung auch Fragen zum
Zugang zur und Ausgestaltung der Versorgung hoch priorisiert. Ursächlich
für die Unterschiede im identifizierten Forschungsbedarf könnte
zum einen der frühere Fokus auf behandlungsbezogene Themen in den
Studien der JLA sein [12 ]. So wurden
Teilnehmende in früheren Studien der JLA explizit gebeten, Fragen,
welche sich auf ihre Behandlung beziehen, zu benennen. Zum anderen
könnten kontextspezifische Einflüsse (bspw. die unterschiedliche
Ausgestaltung von Versorgungssettings) eine Rolle spielen. So liegt der Fokus
der medizinischen Rehabilitation jenseits der Kuration auf der Wechselwirkung
zwischen Beeinträchtigungen und relevanten Umgebungsfaktoren, so dass
die funktionale Gesundheit und die systemischen Kontextfaktoren hier
erwartungsgemäß stärker im Mittelpunkt stehen als bei
vielen anderen Versorgungssettings.
Unterschiede in der Priorisierung von Mitarbeitenden und
Rehabilitand:innen
Die hohe Übereinstimmung über die Relevanz einzelner
Handlungsfelder und Forschungsfragen unter den beteiligten Mitarbeitenden und
Rehabilitand:innen in der Delphi-Befragung zeigt, dass diese Themen aus
unterschiedlicher Perspektive besonders bedeutend für die
zukünftige Ausgestaltung der Rehabilitation sind.
Die beobachteten Unterschiede in der Priorisierung ergeben sich gegebenenfalls
aus der unterschiedlichen Betroffenheit der beiden Gruppen von den jeweiligen
Themen. Rehabilitand:innen sahen beispielsweise einen höheren Bedarf
für die stärker Beteiligung von Rehabilitand:innen wohingegen
Mitarbeitende das Thema „Arbeiten im Reha-Team“ höher
priorisierten. Die Messung des Behandlungserfolges und der
Patient:innenzufriedenheit spielte für Mitarbeitende gegebenenfalls eine
größere Rolle, da dies direktes Feedback für ihre Arbeit
bedeutet. Für Patient:innen ist es möglicherweise relevanter,
akut vor Ort eine gute Behandlung zu erhalten, wohingegen die Evaluation im
Nachhinein nicht so bedeutend ist. Die Forschungsfragen zum Vergleich zweier
Behandlungsmethoden für Rückenschmerz war für
Rehabilitand:innen deutlich relevanter, möglicherweise auch hier durch
die Auswirkung der Behandlung auf die eigene Gesundheit. Fallmanager:innen
hingegen bedeuten eine neue Profession im Reha-Team und die
diesbezügliche Frage war so gegebenenfalls eher für
Mitarbeitende interessant.
Praktische Implikationen
Status Quo und Änderungsbedarf
Interessanterweise besteht mit dem identifizierten Bedarf nach
stärker individuellen rehabilitativen Interventionen genau in dem
Bereich der größte Handlungsbedarf, der für die
medizinische Rehabilitation charakteristisch ist. So ist das
bio-psycho-soziale Modell, welches für einen ganzheitlichen Blick
auf Patient:innen und deren Erkrankungen steht, grundlegend für die
Arbeit in der Rehabilitation. Gleichermaßen sind Inklusion und
Teilhabe sowie die partizipative Einbindung von Rehabilitand:innen in ihre
Behandlung fest verankerte Prinzipien [1 ]
[2 ]
[3 ]. Viele der identifizierten
Handlungsfelder weist die DRV Bund zudem bereits in ihrem Positionspapier
zur Zukunft der Rehabilitation aus dem Jahr 2010 aus [27 ]. Die Relevanz einer
individualisierten Rehabilitation für ein gutes Behandlungsergebnis
wird dort ebenso wie die Einbindung der Rehabilitand:innen in die
Therapieplangestaltung betont. Auch die Verbesserung der Zusammenarbeit von
verschiedenen Rehabilitationsträgern, die Relevanz einer guten
Vorbereitung auf die Rehabilitation und Nachsorge sowie die
Qualitätssicherung werden benannt. Somit stellt der identifizierte
Handlungs- und Forschungsbedarf größtenteils keinen neuen
Erkenntnisstand dar. Vielmehr untermauert er bereits erkannte Problemfelder.
Es scheint jedoch, dass das, was in der Theorie bereits Konsens ist, in der
Praxis noch nicht ausreichend umgesetzt wird. Der Fokus muss
zukünftig mehr auf der Bearbeitung, Entwicklung und praktischen
Umsetzung von Lösungsstrategien für die identifizierten
Bedarfe liegen. Die Implementierungsforschung bietet hierfür gute
Ansätze.
Umsetzungsmöglichkeiten in den
Rehabilitationseinrichtungen
Besonders vor dem Hintergrund der Stärkung des Wunsch- und Wahlrechts
und der stärker qualitätsorientierten Klinikauswahl und
-belegung über die Rentenversicherung (Umsetzung des Gesetzes
Digitale Rentenübersicht) ab 2023 wird es wichtig sein, sich in den
Rehabilitationseinrichtungen mit bestehenden Problemfeldern intensiv
auseinander zu setzen. Zwei Indikatoren, welche für die Beurteilung
der Qualität von Rehabilitationseinrichtungen zur Belegungssteuerung
herangezogen werden sollen, beziehen sich explizit auf die
Rehabilitand:innenzufriedenheit (Behandlungszufriedenheit und subjektiver
Behandlungserfolg) und werden durch Befragungen ermittelt. Unsere
Studienergebnisse zeigen auf, wie aus Sicht von Rehabilitand:innen die
rehabilitative Versorgung zukünftig verbessert werden kann und
liefern damit direkte Anhaltspunkte, an denen die Einrichtungen ansetzten
können. Um rehabilitative Behandlungen beispielsweise
stärker an die individuellen Bedürfnisse der
Rehabilitand:innen anzupassen, kann es sinnvoll sein, Mitarbeitende in
Bereichen der Teilhabe und Partizipation zu schulen [18 ]
[27 ]. Die DRV Bund darauf hin, dass diese Prinzipien meist nicht
ausreichend in der beruflichen Ausbildung thematisiert werden [27 ]. Unsere Ergebnisse belegen dies, da
Mitarbeitende die verstärkte Beteiligung von Rehabilitand:innen als
deutlich weniger relevant betrachteten als die Rehabilitand:innen.
Darüber hinaus müssen geeignete strukturelle Voraussetzungen
bestehen, um den Bedürfnissen der Rehabilitand:innen sowie deren
Beteiligungswünschen gerecht werden zu können. Hier besteht
ein enger Zusammenhang mit dem identifizierten Handlungsfeld der
Qualitätssicherung. Darin enthalten ist unter anderem die
Erhöhung des Personalschlüssels, um ausreichend Zeit
für eine partizipative Rehabilitation zu ermöglichen.
Umsetzungsmöglichkeiten auf systemischer Ebene
Bestimmte identifizierte Handlungsfelder lassen sich nur auf der System-Ebene
adressieren. Dazu gehören insbesondere die Vorgaben zur
Klassifikation therapeutischer Leistungen (KTL) sowie die
Reha-Therapie-Standards (RTS). Die RTS sind evidenzbasierte standardisierte
Behandlungsrichtlinien. KTL-Vorgaben dienen der Dokumentation erbrachter
rehabilitativer Leistungen. Anhand dieser wird geprüft, ob die RTS
eingehalten wurden. Es besteht somit nur ein begrenzter Handlungsspielraum
bei der Ausgestaltung einer rehabilitativen Behandlung. Um eine
individuellere Rehabilitation zu ermöglichen, müssen diese
Vorgaben und Standards aus Sicht der Studienteilnehmenden flexibilisiert
werden. Dies ist auch vor dem Hintergrund relevant, als dass die
Erfüllung der KTL-Vorgaben und RTS zukünftig ebenfalls als
Zuweisungskriterium von Rehabilitand:innen zu einer
Rehabilitationseinrichtung dienen. Unsere Ergebnisse legen nahe, dass beide
Ziele (Erfüllung der Vorgaben und individuell gestaltete
Rehabilitation) gegebenenfalls nicht immer miteinander in Einklang gebracht
werden können. Hier bedarf es geeigneter
Lösungsstrategien.
Ausblick
Um geeignete Bearbeitungs- und Lösungsstrategien für die
identifizierten Handlungs- und Forschungsbedarfe zu entwickeln und zu
implementieren ist es notwendig, alle an der rehabilitativen Versorgung
beteiligten Akteure an einen Tisch zu bringen. Innerhalb von
Strategie-Workshops können zukünftige Ziele, Hürden
und Umsetzungsstrategien für die praktischen Handlungsfelder
diskutiert und beschlossen werden. Das Aufgreifen der identifizierten
Forschungsbedarfe in zukünftigen Projekten kann
weiterführend dazu beitragen, neue Erkenntnisse bezüglich
einer verbesserten und patient:innenzentrierteren Rehabilitation zu
generieren. Innerhalb einer abschließenden Studienphase werden
solche Umsetzungsstrategien gemeinsam mit den beteiligten
Rehabilitationseinrichtungen und der DRV OL-HB entwickelt.
Limitationen
Die Ergebnisse dieser Studie sind in ihrer Generalisierbarkeit eingeschränkt.
Zum einen können die Ergebnisse auf Grund des Settings
(orthopädische und psychosomatische Rehabilitation) gegebenenfalls nicht auf
die gesamte Rehabilitation übertragen werden. Die Übereinstimmung
mit anderen Studienergebnissen sowie die Fokussierung der Handlungsfelder und
Forschungsfragen auf systemische Themen lassen jedoch vermuten, dass die
identifizierten Bedarfe auch relevant für andere Rehabilitationsbereiche
sind. Um dies zu prüfen, könnten weitere Priorisierungsstudien
für weitere Indikationsbereiche durchgeführt werden.
Zum anderen wird die Generalisierbarkeit durch die geringe Rücklaufquote
unter den ehemaligen Rehabilitand:innen und Klinik-Mitarbeitenden
eingeschränkt. Ein Grund könnte sein, dass sich Rehabilitand:innen
nicht mit der eigenen Rehabilitation sondern mit der eigenen Erkrankung
identifiziert. Das Thema der Rehabilitation ist dadurch gegebenenfalls nicht so
bedeutsam (besonders, wenn keine regelmäßige Reha-Teilnahme
erfolgt). Da wir die Studie zudem zu einer Zeit durchgeführt haben, in der
die Covid-19-Pandemie ein den Alltag bestimmendes Thema gewesen ist, hatten die
angefragten Rehabilitand:innen zu dieser Zeit möglicherweise andere Sorgen.
Dies trifft wahrscheinlich auch auf die Klinikmitarbeitenden zu. Auch wenn die
Mitarbeitenden die Studie während ihrer Arbeitszeit ausfüllen
konnten, kann es sein, dass durch die Umstrukturierungsmaßnahmen in den
Kliniken aufgrund der Pandemie wenig Raum und Zeit für andere Themen gewesen
ist.
Vor dem Hintergrund der geringen Rücklaufquote muss auch auf die Gefahr der
selektiven Teilnahme und den resultierenden Einschränkungen für die
Generalisierbarkeit der Ergebnisse hingewiesen werden. An solchen Studien nehmen
vorrangig motivierte und engagierte Personen mit höherem
sozioökonomischen Status teil, wohingegen andere Personen nicht erreicht
werden. Ein Vergleich der soziodemographischen Daten der Teilnehmenden mit der
gesamten Studienpopulation zeigte, dass unsere Stichprobe hinsichtlich des
Geschlechts und der Altersstruktur repräsentativ ist. Für andere
Stichprobencharakteristika (beispielsweise Bildung) lagen leider keine Daten
für die Gesamtstichprobe vor, sodass über die Alters- und
Geschlechtsverteilung hinaus keine Aussagen bezüglich der
Repräsentativität möglich sind.
Abschließend muss berücksichtig werden, dass unsere Ergebnisse auf
einem explorativen Vorgehen beruhen, da es bisher kein Standardverfahren zur
Priorisierung von Handlungs- und Forschungsbedarf im Gesundheitswesen gibt. Bisher
ist unklar, inwieweit die Priorisierungsmethode sich auf die
Priorisierungsentscheidungen der Teilnehmenden auswirkt [17 ]
[28 ].
Bei einem Vergleich der Prioritäten zwischen den beiden in unserer Studie
verwendeten Methoden wird deutlich, dass die Priorisierung der Handlungsfelder
große Überschneidungen aufweist, wohingegen bei den Forschungsfragen
große Unterschiede bestehen ([Abb. 3 ]
und [4 ]). Dies ist möglicherweise auf
die unterschiedlichen Priorisierungsverfahren zurückzuführen
(für eine ausführlichere Diskussion zum Vergleich beider
Priorisierungsmethoden wurde ein separates Paper eingereicht, auf das wir an dieser
Stelle verweisen [29 ]). Vor diesem Hintergrund
muss die Zusammenfassung der Prioritäten aus Workshop und Delphi-Befragung
kritisch diskutiert werden. Ziel der Zusammenfassung war es, breiter konsentierte
und methodisch unabhängigere Prioritätenlisten zu erhalten. Zudem
wird die Nutzung verschiedener Beteiligungsmethoden zu einer Thematik empfohlen, um
unterschiedlichen Beteiligungspräferenzen und auch -möglichkeiten
potenzieller Teilnehmer:innen gerecht zu werden [30 ]. Es gibt jedoch bisher kein standardisiertes Verfahren, die
Ergebnisse unterschiedlicher Methoden zusammenzufassen. Im Rahmen unserer Studie
zeigen wir eine mögliche Option auf. Die Ränge aus den jeweiligen
Einzelmethoden sollten dennoch bei der Interpretation des Gesamtergebnisses
berücksichtigt werden.
Die identifizierten Bedarfe für die Rehabilitationspraxis wurden zu einem
großen Teil bereits in vorherigen Studien und von unterschiedlichen
Stakeholdern in der Rehabilitation benannt, was zum einen die große
Bedeutsamkeit dieser Themen und zum anderen auch bestehende Umsetzungsdefizite
unterstreicht. Der Fokus muss in Zukunft auf der gemeinsamen Entwicklung von
Bearbeitungs- und Lösungsstrategien für die entsprechenden
Handlungsfelder sowie der Implementierung der erarbeiteten Strategien liegen. Da
sich die Belegung von Rehabilitationseinrichtungen durch die DRV zukünftig
konsequent an den Wünschen der Versicherten (Stärkung des Wunsch-
und Wahlrechts) und vermehrt nach der Qualität der Einrichtungen richten
wird, wird es wichtig für die Kliniken sein, sich mit bestehenden
Problemfeldern vermehrt zu beschäftigen. Unsere Studienergebnisse liefern
wichtige Anhaltspunkte, wo die Qualität der Versorgung aus
Rehabilitand:innen- und Mitarbeitendensicht verbessert werden kann. Die
identifizierten Forschungsbedarfe fokussieren vorrangig systemische Fragestellungen.
Durch die zukünftige Bearbeitung dieser Fragestellungen im Rahmen von
Implementierungsforschung kann ein wichtiger Beitrag geleistet werden, die
Rehabilitationspraxis zu verbessern.
Förderung
Das Projekt wurde über Drittmittel durch die deutsche Rentenversicherung
Oldenburg-Bremen gefördert.