Hamostaseologie 2023; 43(04): 306-308
DOI: 10.1055/a-2031-7804
Mitteilungen des Vorstandes des Berufsverbandes der Deutschen Hämostaseologen e.V. (BDDH)

Nachtrag zur kritischen Diskussion über das Deutsche Hämophilieregister (DHR) anlässlich der GTH-Jahrestagung in Frankfurt 2023, aktuelle Informationen zur Gefährdung der Versorgung mit Blutplasmaprodukten und Aus für Siemens Atellica in Deutschland

Jürgen Koscielny
1   Charité Universitätsmedizin, Berlin
,
Günther Kappert
2   Gerinnungszentrum Rhein-Ruhr (GZRR), Duisburg
,
Christoph Sucker
3   Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) COAGUMED Gerinnungszentrum Berlin
4   Medizinische Hochschule Brandenburg Theodor Fontane, Brandenburg an der Havel
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Abstract

Nachtrag zur kritischen Diskussion über das Deutsche Hämophilieregister (DHR) anlässlich der GTH-Jahrestagung in Frankfurt 2023

Mittlerweile sind drei Monate seit der BDDH-Veranstaltung im Rahmen der GTH-Jahrestagung in Frankfurt vergangen. Mehrere Referenten hatten hier konstruktiv-kritische Kritik an der aktuellen Gestaltung und Datenabfrage des Deutschen Hämophilieregisters (DHR) geübt. Die Kritik der Ärzteschaft wurde auch durch eine Mitgliederumfrage des BDDH-Vorstandes gestützt. Aus dem Auditorium, sowohl von Ärzten als auch von Vertretern der pharmazeutischen Industrie, gab es ebenfalls viel Zustimmung. Obwohl auch Vertreter des DHR bei der Veranstaltung anwesend waren, hat der Vorstand des BDDH bislang keinerlei Feedback erhalten. Dies ist enttäuschend, da der Vorstand gerne konstruktive Gespräche mit den Vertretern des DHR geführt hätte, um eine benutzerfreundlichere Gestaltung des DHR und bessere Nutzung der erhobenen Daten zu ermöglichen. Offensichtlich wird seitens des DHR kein Bedarf hierfür gesehen.


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Blutplasmaprodukte – Versorgung absehbar gefährdet!

Seit einigen Jahren weisen die Verbände in konzertierten Aktionen die Politik darauf hin, dass die Sicherstellung der Versorgung mit Blutplasmaprodukten zunehmend gefährdet ist und ein hohes Risiko für Engpässe besteht. Bisher gab es leider kaum Verbesserungen. Die Politik hat zwar die zugespitzte Lage mittlerweile erkannt, doch Maßnahmen wie das Verbot der Diskriminierung bei der Spenderauswahl für Blut- und Plasmaspenden oder die sehr begrenzte Ausnahme von Immunglobulinen vom erweiterten Preismoratorium sind nicht ausreichend, um der unverändert kritischen Versorgungssituation entgegenzuwirken. Die Verbände begrüßen die Aktivitäten im „Arbeitskreis Blut“ des Robert Koch-Instituts, doch diese schreiten zu langsam voran, denn die Lage hat sich in den letzten Jahren dramatisch verschlechtert.

Blutplasmaprodukte sind anders als andere Arzneimittel

Blutplasma ist ein einzigartiger biologischer Rohstoff, der nicht synthetisch hergestellt werden kann. Für daraus hergestellte Präparate wird es auch auf absehbare Zeit keine therapeutischen Alternativen geben. Die Verfügbarkeit von Blutplasma ist von der freiwilligen Bereitschaft zur Blut- bzw. Plasmaspende abhängig und somit per se begrenzt. Die Herstellung von Blutplasmaprodukten ist hochkomplex, erfordert eine mehrmonatige Produktionsvorlaufzeit, notwendige strenge Qualitätskontrollen und viel Know-how. Es gibt nur wenige qualifizierte und hochspezialisierte Anbieter, die sich den Herausforderungen der Wirkstoffherstellung und -produktion stellen. Rohstoffengpässe führen – wie bei keinem anderen Arzneimittel – zeitverzögert (7-12 Monate bis zum fertigen Präparat) zu Lieferengpässen, welche sich in Versorgungsengpässen manifestieren können.

Die aktuelle Situation ist dramatisch

Der limitierten Verfügbarkeit von Blutplasma und Blutplasmaprodukten, dramatisch verstärkt durch den Corona-Pandemie-bedingten Einbruch der Spendenanzahl, steht ein stetig wachsender Bedarf an Blutplasmapräparaten gegenüber. Dieser wird in den nächsten Jahren durch bessere und schnellere Diagnostik, ein erweitertes Indikationsspektrum verbunden mit dem demografischen Wandel und einer steigenden Lebenserwartung, noch größer werden. Die weltweite Blutplasmaknappheit wirkte sich auch in Deutschland auf die Verfügbarkeit von Immunglobulin-Präparaten aus, wobei die gemeldeten Lieferengpässe (BfArM-Lieferengpassliste) letztlich zu einem massiven Versorgungsengpass führten. Für viele Patientinnen und Patienten sind die Lieferengpässe in ihrem Alltag deutlich spürbar (z. B. reduzierte Dosierungen, Ausweitung der Anwendungsintervalle) – mit teils dramatischen Auswirkungen. Da Blutplasmapräparate häufig bei der Behandlung von seltenen Erkrankungen zum Einsatz kommen, sind sie in besonderem Maße versorgungsrelevant. Viele Patientinnen und Patienten sehen sich daher einer bedrohlichen Situation ausgesetzt, bei den Patientenorganisationen laufen die Telefone heiß. Laut einer kleinen Anfrage an die Bundesregierung (Drucksache 20/4072) vom 16.11.2022 sieht die Bundesregierung allerdings unverständlicherweise keine Gefährdung der Versorgung mit Blutplasmaprodukten und bezieht sich dabei auf Daten des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI). Das aktuelle Meldesystem zur Herstellung und zum Verbrauch von Blutprodukten scheint demnach nicht geeignet zu sein, auftretende Versorgungsengpässe frühzeitig zu erkennen, denn das PEI veröffentlicht die Berichte gemäß § 21 TFG zu den Auswertungen erst mit großer Zeitverzögerung. Folglich besteht gar nicht die Möglichkeit, Versorgungsengpässe zeitnah erkennen zu können.

Was eilig politisch umzusetzen wäre…

  • Verbesserung von Informationsangeboten zur Aufklärung der Bevölkerung über die Möglichkeiten der Blutplasmaspende

  • Verbesserung der Rahmenbedingungen für Blutplasmaspende und -sammlung

  • Verringerung der Abhängigkeit von Blutplasmaimporten aus dem nicht-europäischen Ausland durch Ausweitung der Blutplasmaspende EU-weit. Neben weiteren Maßnahmen beinhaltet dies u.a. auch die Positionierung Deutschlands für den Erhalt der Möglichkeit, Spendern eine pauschale Aufwandsentschädigung zu gewähren.

  • Erhalt und ggf. Ausbau der hiesigen Produktionsstandorte in Deutschland und der EU

  • Abschaffung der Parallelimportförderung

  • Abschaffung der Rabattverträge für Blutplasmapräparate (derzeit ausgenommen Hämophilie A und B), wie bei den Impfstoffen

  • Verbot einer ausschließlich kostengetriebenen „aut-idem“-Substitution für Blutplasmaprodukte

  • Ausnahmeregelungen für Blutplasmapräparate von Standard-Kostendämpfungsmaßnahmen wie Herstellerabschlag und Preismoratorium

  • Anpassung des aktuellen Meldesystems zu Daten gemäß § 21 TFG zur frühzeitigen Erkennung von Versorgungsengpässen

Viele dieser Maßnahmen ließen sich sofort im Rahmen des Arzneimittellieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetzes (ALBVVG) umsetzen! Daher haben bereits zahlreichen Aktivitäten mit Vertretern aus der Politik, u.a. Gesundheitsausschuss des Bundestages, stattgefunden und werden auch zukünftig stattfinden.

Support für Siemens Atellica COAG 360 wird eingestellt!

Erst vor wenigen Jahren wurde der Gerinnungsanalyzer Atellica COAG 360 von der Siemens Healthineers AG eingeführt, auf dem deutschen Markt beworben und vertrieben. Dessen Performance wendet sich insbesondere an Zentren, die viele verschiedene Spezialteste der Hämostase durchführen. Neben Koagulometrie, Photometrie und Nephelometrie können mit diesem Testsystem auch LOCI („luminescent oxygen channeling assays“) und Aggregometrien durchgeführt werden. Dies war auch für einen der Autoren der Beweggrund, diese Analyzer anzuschaffen und unter schwierigen Bedingungen – bei hohem Eigengewicht mit dem Kran über Dachfenster in der 5. Etage – vier Geräte liefern zu lassen. In Deutschland als Hauptabsatzmarkt sind bereits 90 bis 95 dieser Geräte in Zentren und Kliniken installiert worden, teilweise erfolgte dies erst vor wenigen Monaten.

Im Mai 2023 erreichte den Vorstand des BDDH auf Umwegen über Mitglieder, die Nachricht, dass dieser Analyzer bald nicht mehr vom Hersteller supportet wird. Hersteller und Vertrieb hatten bis dato erstaunlicherweise keine entsprechende Meldung ausgegeben. Als „End of Life“ wird nun der Oktober 2024 angegeben. Dies sei eine globale Entscheidung von Siemens Healthineers, welches sich auf das Joint Venture mit Sysmex fokussieren wolle und so nur noch diese Gerätelinie im Konzern halten werde. Einen ähnlichen Kahlschlag erleben zurzeit auch weitere Teile des Portfolios von Siemens Healthineers, betreffend insbesondere ältere Geräte mit LOCI-Technologie und Blutbildautomaten.

Für die betroffenen Labore schlägt die Siemens Healthcare GmbH den Umstieg auf einen Sysmex-Analyzer vor. Dies löst gerade in akkreditierten Laboratorien einen immensen Arbeitsaufwand, verbunden mit hohen Kosten, mit vollständig neuer Evaluation des Systems mit allen darauf laufenden Siemens- und Fremdtesten, Anbindung an die EDV, Festlegung von Referenzbereichen für verschiedene Patientengruppen, u.v.m. aus.

Zumindest haben die wichtigsten Vertriebe für Fremdreagenzien diese nach CE und demnächst auch nach IVD in Kombination mit Geräten der Firma Sysmex zertifiziert. Alternativ steht jedem enttäuschten Kunden von Siemens Healthcare nun natürlich frei, zu einem Mitbewerber von Siemens Healthcare abzuwandern. Manche Testverfahren müssen künftig – unabhängig von der Art des gewählten künftigen Analyzers - auf andere Analyzer verlagert werden, da diese nur auf dem COAG 360 zur Verfügung standen: So muss das Prothrombinfragment (F1 + 2) künftig wieder mit einem ELISA bestimmt werden, die Aggregometrie muss mit einem Aggregometer erfolgen.

Nicht nachvollziehbar und ärgerlich ist die Informationspolitik der Siemens Healthcare GmbH, die solch wichtige Entscheidungen nicht adäquat kommunizierte, sondern erst auf Nachfrage bestätigte und nicht auf alle Kunden proaktiv zugegangen ist. Auch bleibt die Frage aktuell offen, woher bei diesem Unternehmen die Manpower kommen soll, 95 Systeme innerhalb eines Jahres zu ersetzen. Insgesamt hätten wir viel Potenzial für die Gerinnungsanalytik mit dem COAG 360 in Deutschland gesehen und bedauern diese Managemententscheidung, die ohne adäquate Kommunikation über die Situation und die Erfordernisse in Deutschland hinweg getroffen wurde.

Für den Vorstand des BDDH:

PD Dr. Jürgen Koscielny

Dr. Günther Kappert

PD Dr. Christoph Sucker


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No conflict of interest has been declared by the author(s).

Address for correspondence

PD Dr. Christoph Sucker
Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) COAGUMED Gerinnungszentrum Berlin, Berlin
Germany   

Publication History

Article published online:
31 August 2023

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