Schlüsselwörter
unerfüllter Kinderwunsch - Paare - APIM - Selbstwirksamkeit - psychosoziale Risikofaktoren
Einleitung
Circa 9% aller Männer und Frauen im reproduktiven Alter sind vom unerfüllten Kinderwunsch
betroffen [1]. Männer und Frauen unterliegen meist
einer hohen psychischen Belastung bei Infertilität und ihrer medizinischen Behandlung,
wodurch sich bei einem Teil der Patienten und Patientinnen emotionale Störungen manifestieren
können
[2]
[3]
[4]
[5]. Es zeigte sich bislang, dass Frauen im Vergleich zu Männern Infertilität als belastender
erleben (bzw. angeben) und höhere Level an
Depressivität und infertilitätsbezogenen Stress aufweisen [3]
[6]
[7].
Durch die Entwicklung von assistierten reproduktiven Therapien (ART) ist es möglich
geworden, Paare mit Infertilität bei der Erfüllung des Kinderwunsches zu unterstützen.
Die im Jahr 2018 an
das ESHRE-Konsortium gemeldeten Schwangerschaftsraten von In-vitro-Fertilisation (IVF),
intrazytoplasmatischer Spermieninjektion (ICSI) und Frozen-Embryo-Transfer (FER) lagen
pro Aspiration
bei 25,5%, 22,5% und 28,8% [8]. Eine erfolglose Behandlung führt bei Frauen oft zu einem Anstieg negativer Emotionen,
die auch nach
aufeinanderfolgenden erfolglosen Zyklen der Kinderwunschbehandlung anhalten können
[2]. Auch (wiederholte) Fehlgeburten während ART werden
oft als stark emotional belastend erlebt [9].
Die ESHRE-Leitlinien empfehlen, den SCREENIVF-Fragebogen zu nutzen, um Patientinnen
und Patienten vor einer IVF-Behandlung als Risikopatienten bezüglich emotionaler Probleme
zu identifizieren
und somit an eine spezialisierte psychosoziale Betreuung (Kinderwunschberatung oder
Psychotherapie) verweisen zu können [6].
Selbstwirksamkeit entspricht der Wahrnehmung, dass man in der Lage ist, kognitive,
affektive und motivationale Selbstregulierungsprozesse zu nutzen, und steht als psychologische
Ressource im
Zusammenhang mit einer erfolgreichen Krankheitsbewältigung [10]. In neueren Studien konnten bei Paaren mit Infertilität psychologisch
protektive Effekte von Resilienz auf unfruchtbarkeitsbedingtem Stress und das psychologische
Wohlbefinden auch innerhalb der Paare festgestellt werden [11]
[12].
Ungewollt kinderlose Patientinnen und Patienten, die sich für eine Kinderwunschbehandlung
entscheiden, können auch von einer hohen subjektiv wahrgenommenen Selbstwirksamkeit
bezogen auf die
Bewältigung der Behandlungsanforderungen und die Kommunikation mit dem Partner oder
der Partnerin profitieren und müssten somit weniger als Risikopatienten oder -patientinnen
hinsichtlich
psychosozialer Risikofaktoren gelten [13]
[14].
Ziel dieser Studie war die Testung von Unterschieden zwischen Mann und Frau bezüglich
einerseits des protektiven Faktors der Selbstwirksamkeitserwartung und andererseits
der emotionalen
Belastung (Ängstlichkeit, Depressivität, mangelnde soziale Unterstützung und negative
Kognitionen in Form von mangelnder Akzeptanz und Hilflosigkeit) bei unerfülltem Kinderwunsch.
Zusätzlich
wurde der Zusammenhang zwischen Selbstwirksamkeit bei Mann und Frau mit ungewollter
Kinderlosigkeit sowohl innerhalb der Person als auch zwischen den Partnern ermittelt
in Bezug auf die
jeweiligen psychosozialen Risiken. Als Hypothese wurde angenommen, dass hohe Selbstwirksamkeitswerte
mit niedrigen Risikoscores sowohl bei der eigenen Person als auch beim Partner bzw.
der
Partnerin einhergehen.
Material und Methoden
Setting und Fragebogen
Es handelt sich um eine multizentrische, nicht interventionelle, quantitative Querschnittsstudie.
Die Fragebogen (SCREENIVF-R und SWUK, sowie ein soziodemografischer Fragebogen) wurden
an 5
Kinderwunschzentren in Deutschland (Heidelberg und Berlin), Österreich (Innsbruck)
und der Schweiz (St. Gallen und Basel) verteilt. Alle an einer Kinderwunschbehandlung
teilnehmenden 321
Paare und 79 Einzelpersonen wurden durch persönlichen Kontakt im jeweiligen Kinderwunschzentrum
rekrutiert. Der Erhebungszeitraum war von Mai 2018 bis Juli 2019. Das Ethikvotum der
Ethikkommission der Medizinischen Fakultät Heidelberg mit dem Zeichen S-123/2018 liegt
seit dem 12.03.2018 vor. Mit der Registrierungsnummer DRKS00014260 ist die Studie
im Deutschen Register
klinischer Studien (DRKS) registriert.
SCREENIVF-R
Der SCREENIVF wird verwendet, um Patienten mit erhöhtem Risiko für Depression und
Ängstlichkeit vor Beginn einer IVF-Behandlung zu identifizieren [15]. Zuvor wurden Angst, Depression, negative Kognitionen in Form von Hilflosigkeit
und geringer Akzeptanz von Fruchtbarkeitsproblemen sowie fehlende soziale
Unterstützung als Risikofaktoren für zunehmende emotionale Probleme festgestellt [16]. Basierend auf diesen 5 Risikofaktoren wurde im
Jahr 2010 der SCREENIVF mit einer Sensitivität von 69% und einer Spezifität von 77%
entwickelt [15].
Der Fragebogen SCREENIVF-R besteht aus insgesamt 34 Items, mit 5 Items für State-Ängstlichkeit,
5 Items für Trait-Ängstlichkeit, die auf einer kurzen Version des Spielberger State
and
Trait-Anxiety Inventory (STAI) basieren [17], 7 Items für Depression, als verkürzte Version des Beck Depression Inventory, in
dieser
Studie in der überarbeiteten Version II (BDI-II) [18], 5 Items für soziale Unterstützung, abgeleitet aus dem „Inventory of Social
Involvement“ (ISI) [19] und 12 Items für negative Kognitionen bezogen auf Hilflosigkeit und Akzeptanz bei
Fertilitätsproblemen,
entnommen aus dem Illness-Cognition-Fragebogen für IVF-Patienten [16]. Die Skalierung erfolgte jeweils mithilfe einer 4-stufigen
Likert-Skala (1–4), und die Punktzahl für jeden Risikofaktor wurde durch Summierung
der Antworten für jedes Item berechnet. Demnach lagen die Gesamtpunktzahlen für Ängstlichkeit
zwischen
10 und 40 (höhere Werte entsprechen einem erhöhtem Risiko), für soziale Unterstützung
zwischen 5 und 20 (niedrigere Werte entsprechen einem erhöhtem Risiko), für Hilflosigkeit
(höhere
Werte entsprechen einem erhöhtem Risiko) und für Akzeptanz (niedrigere Werte entsprechen
einem erhöhtem Risiko) zwischen 6 und 24. Die Skalierung der Depressivitäts-Skala
reichte von 0 bis
3. Somit lagen die Gesamtpunktzahlen für Depressivität zwischen 0 und 21 (höhere Werte
entsprechen einem erhöhtem Risiko).
SWUK
Zur Messung der Selbstwirksamkeit im Zusammenhang mit Unfruchtbarkeit und ihrer medizinischen
Behandlung haben Cousineau et al. die Infertility Self Efficacy Scale (ISE) – auf
Deutsch:
Selbstwirksamkeit bei unerfülltem Kinderwunsch (SWUK) – entwickelt und validiert [13]. Das Selbstauskunftsinstrument kann sowohl von
Frauen als auch von Männern, die von Infertilität betroffen sind, verwendet werden,
und es sind 2 sprachlich an diese beiden Geschlechter angepasste Versionen verfügbar.
Die Skala besteht aus insgesamt 16 Items, welche die Wahrnehmung und Überzeugung der
Teilnehmenden mit Unfruchtbarkeit hinsichtlich ihrer Fähigkeit, kognitive, emotionale
und
verhaltensbezogene Fähigkeiten einzusetzen, erfassen. Die Skalierung erfolgte auf
einer Likert-Skala, die von „überhaupt nicht zuversichtlich“ (1) bis „sehr zuversichtlich“
(9) reicht. Zur
Auswertung wurden die einzelnen Items addiert, deren Gesamtpunktzahl zwischen 16 und
144 variieren kann.
Soziodemografische Daten
Die soziodemografischen Daten umfassten das Alter, den Bildungsabschluss, den ausgeübten
Beruf, die Zeitstruktur des Berufes, den Familienstand, vorhandene Kind(er), die Dauer
der
Partnerschaft, des Kinderwunsches und der Kinderwunschbehandlung sowie die subjektive
Ursache des unerfüllten Kinderwunsches. Zusätzlich wurden die Stärke des und die Belastung
durch den
unerfüllten Kinderwunsch(es) jeweils auf einer kontinuierlichen Skala mit einer Länge
von 5 cm ermittelt.
Datenanalyse
Für die deskriptive Analyse der soziodemografischen Parameter und für die Paarvergleiche
wurden nur die 320 heterosexuellen Paare berücksichtigt. Teilnehmende, die nicht mindestens
80% der
Items beantworteten, wurden von der jeweiligen Analyse ausgeschlossen. Je nach Skalenniveau
der Variablen wurde der ungepaarte t-Test bzw. der Mann-Whitney-U-Test oder der χ2-Test
verwendet, um soziografische Parameter zu analysieren. Der t-Test für gepaarte Stichproben
bzw. der Wilcoxon-Vorzeichen-Rang-Test wurden genutzt, um einen Paarvergleich der
Risikofaktoren
des SCREENIVFs und der Selbstwirksamkeitswerte des SWUKs durchzuführen. Mithilfe des
Akteur-Partner-Interdependenz-Modells (APIM) wurden die Paare als Analyseeinheit betrachtet,
was ein
besseres Verständnis der zwischenmenschlichen Faktoren im Zusammenhang mit der psychischen
Belastung bei unerfülltem Kinderwunsch ermöglicht. Das APIM ([Abb. 1]) berücksichtigt bei seiner Analyse 2 zentrale Effekte: den Akteureffekt (a1 und a2) und den Partnereffekt (p1 und p2).
Abb. 1 Akteur-Partner-Interdependenz-Modell. a1 und a2 = Akteureffekte, p1 = Partnereffekt (Frau → Mann), p2 = Partnereffekt (Mann → Frau).
Dabei wird der Einfluss der eigenen unabhängigen Variable auf die eigene abhängige
Variable als Akteureffekt und der Einfluss auf die abhängige Variable des Partners
als Partnereffekt
bezeichnet. In unseren APIM-Analysen wurden die Selbstwirksamkeitswerte als unabhängige
Variablen und die psychologischen Risikofaktoren (Ängstlichkeit, Depression, Mangel
an sozialer
Unterstützung und Akzeptanz, Hilflosigkeit) als abhängige Variablen betrachtet und
getrennt für Frauen und Männer berechnet.
Für alle Analysen, außer die des APIMs, wurde das Softwareprogramm IBM SPSS Statistics
Version 27 genutzt. Zur Berechnung des APIM-Modells wurde das Web-Programm APIM_SEM
für
unterscheidbare Dyaden verwendet: Stas L, Kenny DA, Mayer A, Loeys T (in press). Giving Dyadic Data Analysis Away: A
User-Friendly App for Actor-Partner Interdependence Models. Personal
Relationships. Available from:
https://apimsem.ugent.be/shiny/apim_sem/
. P < 0,05 wurde als statistisch signifikant
angesehen.
Ergebnisse
Soziodemografische Daten
Insgesamt wurden in der Kinderwunschambulanz der Universitäts-Frauenklinik Heidelberg
614 Fragebogen verteilt, von denen 217 Personen an der Studie teilnahmen (Responserate
= 35,3%). Die
Responserate liegt nur aus Heidelberg vor. In der gesamten Studie wurden 721 Patienten
und Patientinnen eingeschlossen, wobei es sich hier um 391 Frauen (54,2%) und 330
Männer (45,8%)
handelte. Unter den 721 Teilnehmenden befanden sich 321 Paare, darunter 320 heterosexuelle
Paare, und 79 Einzelpersonen. Von den 320 Paaren stammten 63,2% aus Deutschland (D),
17,2% aus
Österreich (A) und 19,7% aus der Schweiz (CH). Die soziodemografischen Daten der untersuchten
heterosexuellen Paare sind in [Tab. 1] aufgeführt.
Von den Teilnehmenden waren 60,4% verheiratet und 38,1% mit ihrem Partner oder Partnerin
lebend. Die mittlere Dauer der Partnerschaft lag bei den Teilnehmenden durchschnittlich
bei
7,81 ± 4,5 Jahren. Es gaben insgesamt 64,9% der Frauen und 91,2% der Männer an, ganztags
zu arbeiten.
Tab. 1
Überblick der soziodemografischen Daten der analysierten Paare.
|
Frauen
|
Männer
|
|
|
MW ± SD
|
n
|
MW ± SD
|
n
|
p-Wert
|
|
Die Daten werden als Mittelwert ± Standardabweichung oder n (%) angegeben. Statistische
Analyse durch unabhängigen t-Test oder χ2-Test, sofern zutreffend. NS = nicht
signifikant
|
|
Alter
|
33,04 ± 4,39
|
318
|
35,93 ± 5,86
|
316
|
< 0,001
|
|
Kinderlosigkeit
|
82,8%
|
264/319
|
77,9%
|
247/317
|
NS
|
|
hoher Schulabschluss (≥ Abitur/Fachhochschule)
|
75,0%
|
237/316
|
72,8%
|
230/316
|
NS
|
|
Dauer Kinderwunsch (in Jahren)
|
2,66 ± 2,19
|
314
|
2,66 ± 2,18
|
310
|
NS
|
|
Dauer Kinderwunschbehandlung (in Jahren)
|
0,82 ± 1,37
|
267
|
0,88 ± 1,62
|
267
|
NS
|
|
Stärke Kinderwunsch
|
4,22 ± 0,79
|
318
|
4,04 ± 0,84
|
318
|
= 0,005
|
|
Belastung Kinderwunsch
|
3,31 ± 1,19
|
316
|
2,57 ± 1,33
|
317
|
< 0,001
|
Risikofaktoren und Selbstwirksamkeit – Unterschiede zwischen Frauen und Männern
Die Gesamtwerte für die Selbstwirksamkeit und die jeweiligen Risikofaktoren sind in
[Tab. 2] aufgeführt. Mittels gepaarten t-Tests, bzw.
Wilcoxon-Vorzeichen-Rang-Tests, wurde der Unterschied der Mittelwerte bzw. Mediane
zwischen Männern und Frauen innerhalb der Paare in den verschiedenen Risikobereichen
untersucht. Von
den fünf Risikofaktoren wiesen vier eine signifikante Diskrepanz mit knapp mittlerer
Effektstärke auf (Depressivität, Ängstlichkeit, Akzeptanz und Hilflosigkeit).
Tab. 2
Unterschiede zwischen Frauen und Männern in den Selbstwirksamkeitswerten und Risikobereichen
(innerhalb eines Paares).
|
Anzahl der Paare
|
Frauen
|
Männer
|
p-Wert
|
Effektstärke
|
|
|
Md ± IQAa MW ± SDb
|
Md ± IQAa MW ± SDb
|
|
|
|
Die Daten werden je nach Skalenniveau als Median (Md) ± Interquartilsabstand (IQA)
oder Mittelwert (MW) ± Standardabweichung (SD) angegeben. Statistische Analyse durch
a = Wilcoxon-Vorzeichen-Rang-Test mit Korrelationskoeffizient r (r) als Effektstärke
oder b = t-Test für abhängige Stichproben mit Cohen’s d (d) als
Effektstärke
|
|
Selbstwirksamkeit
|
307
|
100 ± 30a
|
115 ± 24a
|
< 0,001a
|
r = 0,6
|
|
Depressivität
|
302
|
2 ± 4a
|
0 ± 2a
|
< 0,001a
|
r = 0,41
|
|
Ängstlichkeit
|
313
|
20,6 ± 5,33b
|
17,83 ± 4,83b
|
< 0,001b
|
d = 0,45
|
|
Akzeptanz
|
302
|
12 ± 7a
|
15,5 ± 6a
|
< 0,001a
|
r = 0,46
|
|
Hilflosigkeit
|
306
|
11 ± 5a
|
9 ± 6a
|
< 0,001a
|
r = 0,47
|
|
soziale Unterstützung
|
305
|
19 ± 4a
|
19 ± 4a
|
0,878a
|
r = 0,01
|
Männer (Md = 115) zeigten eine höhere Selbstwirksamkeitserwartung verglichen zu Frauen
(Md = 100) (z = 10,44, p < 0,001, r = 0,6). Die Dauer des Kinderwunsches korrelierte
gering positiv
mit Ängstlichkeit (ρ = 0,154, p < 0,01) und Hilflosigkeit (ρ = 0,173, p < 0,01) bei
Frauen. Bei Männern korrelierten Hilflosigkeit und Kinderwunschdauer positiv miteinander
(ρ = 0,204,
p < 0,01). Bei Frauen und bei Männern zeigten sich schwache positive Korrelationen
der Dauer der Kinderwunschbehandlung mit den Werten der Ängstlichkeit und Hilflosigkeit
und negative mit
den Selbstwirksamkeitswerten. Zusätzlich stellte sich bei Frauen eine schwach positive
Korrelation zwischen der Dauer der Kinderwunschbehandlung und Depressivität heraus.
Aufgrund der
geringen absoluten Höhe dieser statistisch signifikanten Zusammenhänge (Range r = 0,11–0,23)
wurden diese Korrelationen eher als Artefakte aufgrund der Stichprobengröße und weniger
als
klinisch relevant eingeschätzt, weshalb auf eine eingehendere Analyse verzichtet wurde.
Analyse der Paare: APIM-Ergebnisse
In allen 5 Risikobereichen konnten sowohl für Frauen als auch für Männer signifikant
protektive Effekte (p < 0,001, mittlere bis große Effektstärke) der Selbstwirksamkeit
auf den
jeweiligen eigenen Risikofaktor gefunden werden (Akteureffekt Mann und Frau) ([Tab. 3]).
Tab. 3
Akteur- und Partnereffekte von Selbstwirksamkeit auf Risikofaktoren.
|
Selbstwirksamkeit
|
Depressivität
|
Ängstlichkeit
|
Akzeptanz
|
Hilflosigkeit
|
soziale Unterstützung
|
|
Signifikante Werte sind fett markiert.
a1 = standardisierter Akteureffekt (Mann), a2 = standardisierter Akteureffekt (Frau)
p1 = standardisierter Partnereffekt (Frau → Mann), p2 = standardisierter Partnereffekt (Mann → Frau)
r = partielle Korrelation als Effektstärke
* p < 0.05, ** p < 0.01, *** p < 0.001
|
|
Akteureffekte
|
|
a1 (r)
|
−0,51*** (−0,463)
|
−0,59*** (−0,554)
|
0,47*** (0,443)
|
−0,52*** (−0,470)
|
0,33*** (0,285)
|
|
a2 (r)
|
−0,49*** (−0,467)
|
−0,61*** (−0,574)
|
0,57*** (0,537)
|
−0,52*** (−0,507)
|
0,23*** (0,206)
|
|
Partnereffekte
|
|
p1 (r)
|
−0,1 (−0,118)
|
0,03 (0,031)
|
0,12*(0,113)
|
−0,07 (−0,083)
|
0,14* (0,140)
|
|
p2 (r)
|
−0,15** (−0,164)
|
−0,08 (−0,125)
|
0,02 (0,036)
|
−0,13** (−0,141)
|
0,01 (0,005)
|
Die Selbstwirksamkeitswerte des Mannes zeigten eine signifikante negative Korrelation
von −0,15 (p < 0,01, kleine Effektstärke) mit den Depressivitätswerten der Frau (Partnereffekt
Mann
→ Frau) ([Tab. 3]). Hinsichtlich der Hilflosigkeit wurde eine signifikante negative Korrelation von
−0,13 (p < 0,01, kleine Effektstärke)
zwischen den Selbstwirksamkeitswerten des Mannes und den Hilflosigkeitswerten der
Frau festgestellt (Partnereffekt Mann → Frau) ([Tab. 3]).
Die Selbstwirksamkeitswerte der Frau waren positiv signifikant mit der Akzeptanz beim
Mann (Partnereffekt Frau → Mann) mit einem Effekt von 0,12 (p < 0,05, geringe Effektstärke)
und mit
der sozialen Unterstützung beim Mann (Partnereffekt Frau → Mann) mit einem Effekt
von 0,14 (p < 0,05, geringe Effektstärke) korreliert ([Tab. 3]). Alle Partnereffekte waren ingesamt deutlich niedriger als die Akteureffekte.
Diskussion
Es hat sich bestätigt, dass der unerfüllte Kinderwunsch mit einer hohen psychischen
Belastung sowohl bei Frauen als auch bei Männern einhergeht. Frauen zeigten verglichen
zu Männern ein
höheres Risiko, an Depressivität, Ängstlichkeit, Hilflosigkeit und mangelnder Akzeptanz
des unerfüllten Kinderwunsches zu leiden. Selbstwirksamkeit hatte einen protektiven
Einfluss auf die
eigenen Risikofaktoren und (in geringerem Ausmaß) auf die Risikofaktoren des Partners
bzw. der Partnerin. Sowohl das psychologische Wohlbefinden der Frau als auch des Mannes
waren jeweils von
der Selbstwirksamkeitserwartung des Partners bzw. der Partnerin beeinflusst.
Nach der ESHRE-Leitlinie war zu erwarten, dass Frauen eher an Depressivität, Angstzuständen,
Stress und/oder psychiatrischen Komorbiditäten leiden (bzw. diese angeben) als Männer
[6]. Dies bestätigt sich durch die Daten unserer Studie, in der Frauen – im Paarvergleich
– ein höheres Risiko aufwiesen, unter Depressivität,
Ängstlichkeit, fehlender Akzeptanz des unerfüllten Kinderwunsches und Hilflosigkeit
zu leiden als Männer. Diese Ergebnisse bestätigen die bei Frauen häufig feststellbare
hohe psychische
Belastung bei unerfülltem Kinderwunsch. Ein Erklärungsansatz für die höhere psychische
Belastung von Frauen im Vergleich zu Männern besteht in traditionellen Rollenbildern,
in denen die
Mutterschaft stärker mit dem weiblichen Rollenbilder korreliert als die Vaterschaft
mit Männlichkeit [20]. In elterlichen Rollen wird von
Frauen eher erwartet, die primäre Betreuungsperson im häuslichen Bereich zu sein,
indes Männern eher die Versorgerrolle durch Erwerbstätigkeit zugewiesen wird. Noch
immer verinnerlichen junge
Frauen und Männer diese gesellschaftlichen Erwartungen und entwickeln Überzeugungen
bezüglich der sozialen Rollen, die sie annehmen sollten [21]. Frauen zeigten ebenfalls im Paarvergleich zu ihren Männern ein geringeres Maß an
Selbstwirksamkeit. Es ist möglich, dass Männer bezüglich der Angabe ihrer
Selbstwirksamkeit und auch der der psychologischen Risikofaktoren versuchten, der
sozialen Erwünschtheit zu entsprechen und sich selbst tendenziell überschätzen: Männer
sehen sich selbst oft
als „Fels in der Brandung“ und folgen somit eher der gesellschaftlich erwarteten Rolle
[22].
Nach den Ergebnissen dieser Studie ist die Selbstwirksamkeitserwartung der Frau bzw.
des Mannes mit der eigenen und der psychischen Belastung des Partners bzw. der Partnerin
verbunden. Es
konnte festgestellt werden, dass hohe Selbstwirksamkeitswerte der Frau mit hohen Werten
des Mannes in den Bereichen Akzeptanz und soziale Unterstützung einhergehen (Partnereffekt
Frau → Mann).
Wurden beim Mann hohe Selbstwirksamkeitswerte identifiziert, so konnte man bei der
Frau niedrige Werte von Depression und Hilflosigkeit beobachten (Partnereffekt Mann
→ Frau). Eine mögliche
Interpretation dieser (insgesamt allerdings schwachen) Partnereffekte besteht darin,
dass der Mann durch seine Partnerin kognitiv und auf der interpersonellen Ebene gestärkt
wird, wohingegen
die Frau sich durch ihren Partner emotional und intrapsychisch unterstützt wahrnimmt.
Auch die ESHRE-Leitlinie geht davon aus, dass die emotionalen Reaktionen beider Mitglieder
des Paares auf den unerfüllten Kinderwunsch mit der Reaktion des Partners zusammenhängen
[6]. Es wird beschrieben, dass bei Paaren neben den emotionalen Reaktionen auch die
depressiven Symptome jedes Partners mit dem eigenen und dem
infertilitätsspezifischen Leid des Partners verbunden sind.
Diese Studie ist eine der ersten, die den Zusammenhang zwischen Selbstwirksamkeitserwartung
und infertilitätsverbundenen Stress sowie psychologischem Risikoprofil untersucht.
Es konnten in
unseren Ergebnissen des Akteur-Partner-Interdependenz-Modells Akteureffekte mit großen
Effektstärken bei Männern und Frauen bezüglich der Selbstwirksamkeit auf die Risikobereiche
Depressivität, Ängstlichkeit, Hilflosigkeit und mangelnde Akzeptanz ermittelt werden.
Auch in dem Bereich der mangelnden sozialen Unterstützung wurden moderate Effektstärken
bei den
Akteureffekten der beiden Geschlechter nachgewiesen. Dies unterstreicht, dass ein
hoher Grad an Selbstwirksamkeit mit einem geringeren psychologischen Risikoprofil
einhergeht. In anderen
Studien wurde der positive Einfluss des protektiven Faktors Resilienz auf das psychologische
Risikoprofil bei infertilen Patienten und Patienten dargestellt [11]
[23]: Bei Zhang et al. im Jahr 2021 zeigte sich der protektive Effekt von Resilienz
der Ehemänner auf ihren eigenen infertilitätsbedingten Stress und ihr posttraumatisches
Wachstum sowie das ihrer Frauen, sowie bei Bhamani et al. im Jahr 2020 der positive
Zusammenhang von
Resilienz und der Lebensqualität bei pakistanischen Paaren.
Eine große Stärke der Studie ist, dass im Vergleich zu anderen Studien das Paar und
nicht nur die Frau und der Mann separat betrachtet wurde. Aufgrund der großen Teilnehmerzahl
von 721
Teilnehmenden (davon 320 Paare) kann auf eine Repräsentativität der Patienten und
Patientinnen bei Kinderwunschbehandlung geschlossen werden. Trotz der großen Teilnehmerzahl
lag die
Responserate insgesamt aus Heidelberg nur bei 35,5%, was auf bereits bestehende psychologische
Probleme und/oder Sprachprobleme zurückzuführen sein könnte. Zudem ist es möglich,
dass eher
stark belastete Patienten und Patientinnen den Fragebogen ausfüllten als weniger belastete
Patienten und Patientinnen und somit die Stichprobe für die Grundgesamtheit nicht
repräsentativ ist
(Selektionsbias). Zusätzlich besaßen 74,9% der Frauen und 73,2% der Männer einen überdurchschnittlichen
Schulabschluss (Selektionsbias). Es konnten wegen der gering vertretenen Anzahl der
lesbischen Paare (n = 1) nur die heterosexuellen Paare in die Analysen der Paare eingeschlossen
werden, wodurch keine Repräsentativität bezüglich der homosexuellen Paare vorliegt
(und auch
bezüglich anderer sexueller Identitäten). Es muss zusätzlich erwähnt werden, dass
die Effektgrößen der Partnereffekte sowohl bei Frauen als auch bei Männern klein waren.
Es wurden nur
Patienten und Patientinnen mit unerfülltem Kinderwunsch der 5 Kinderwunschkliniken
mit in die Studie aufgenommen. Dementsprechend kann keine Aussage über die Paare mit
unerfülltem Kinderwunsch
gemacht werden, die sich nicht (mehr) in einer medizinischen Behandlung befinden.
Somit können die Ergebnisse dieser Studie nicht auf die gesamte Patientenpopulation
ungewollt Kinderloser
verallgemeinert werden.
Schlussfolgerung
Aus den vorliegenden Daten unserer Studie folgt eine eindeutige Empfehlung für eine
paar-orientierte Beratungsstrategie bei Paaren mit unerfülltem Kinderwunsch. Zusätzlich
sollte auch in
zukünftigen Studien das Paar als Einheit im Vordergrund der Analysen stehen.
Gerade in einer Situation, die mit großer Hilflosigkeit bei beiden Partnern einhergeht
– insbesondere in der Wartezeit auf den Schwangerschaftstest – kann die Wahrnehmung
und Förderung der
hilfreichen Selbstwirksamkeitserwartung dem Paar vermutlich Halt und Orientierung
geben (Erstellung von „Fahrplänen“) [24]. Dies stellt
ein neues Beratungskonzept dar, wodurch die Patienten und Patientinnen sowie ihre
Partner und Partnerinnen besser mit dem Behandlungsablauf und eventuellen Behandlungsmisserfolgen
(keine
Schwangerschaft bzw. Fehlgeburt) zurechtkommen könnten.
Zur Identifizierung der Patienten und Patientinnen mit Risikofaktoren für emotionale
Probleme sollten spezifische Screening-Instrumente genutzt werden. Dies ermöglicht
den Paaren mit
unerfülltem Kinderwunsch die Information über eine direkte Weiterleitung an psychosoziale
Beratungsstellen. Die beiden Fragebogen (SCREENIVF-R und SWUK) könnten in weiteren
prospektiven
Studien genutzt werden, um in Zukunft den Verlauf der psychischen Belastung bei Frauen
und Männern während ihrer Fruchtbarkeitsbehandlung zu erfassen.