Zeitschrift für Palliativmedizin 2023; 24(06): 277-278
DOI: 10.1055/a-2053-1347
Editorial

Reformvorschläge zur Notfallversorgung – wird es Zeit für die „Notfall-SAPV“ in der ambulanten Palliativversorgung?

Liebe Leserin, lieber Leser,

im Notfall optimal versorgt sein, wer möchte das nicht? Notfälle können zu jeder Zeit und in jeder Situation auftreten, auch im palliativen Kontext.

Um die Notfallversorgung in Deutschland fit für die Zukunft zu machen, hat das Bundesgesundheitsministerium im Februar 2023 ein Reformkonzept vorgestellt, das auf den Empfehlungen der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung basiert[1]. Unter anderem ist vorgesehen, „integrierte Leitstellen“ flächendeckend zu etablieren, die noch mehr können, als Krankenwagen, Rettungswagen, Notarzt oder andere Rettungsmittel zu alarmieren: Sie sollen mithilfe von qualitätsgesicherten Ersteinschätzungsinstrumenten das am besten geeignete Versorgungsangebot für den Hilfesuchenden ermitteln und einsetzen können. Dafür soll den Leitstellen ein „breites, gut abgestimmtes Repertoire an Versorgungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen“. Die Aufzählung des Repertoires in dem Empfehlungspapier ist ziemlich breit, unter anderem wird auch „ambulante Palliativversorgung“ genannt.

Was damit konkret gemeint ist, bleibt noch offen. Insofern macht es Sinn, sich frühzeitig Gedanken zu machen. Es könnte z. B. darauf hinauslaufen, dass Leitstellen in Zukunft SAPV-Teams direkt einschalten und zu unbekannten Patienten schicken können – auch völlig unabhängig davon, ob der Patient bereits SAPV erhält oder nicht. Auch dass beispielsweise der Kassenärztliche Notdienst oder der Rettungsdienst bei einem Patienten vor Ort ein SAPV-Team anfordert, wenn kein Transport ins Krankenhaus indiziert oder gewünscht ist, sondern vielmehr die ambulante Versorgung sichergestellt werden muss, könnte in das regelhafte Spektrum der künftigen Notfallversorgung gehören. Näheres (Inhalte, Strukturen, Kriterien etc.) ist noch nicht ausgearbeitet, es handelt sich bislang lediglich um Vorschläge. Deshalb geht es zunächst um die grundsätzliche Frage: Wäre eine solche Neuerung (nennen wir sie an dieser Stelle „Notfall-SAPV“) sinnvoll?

Ich halte Notfall-SAPV für eine grundsätzlich richtige und wichtige Neuerung im Gesamtkontext einer Reform der Notfallversorgung in Deutschland. Wenn ein Mensch in eine Notsituation gerät, muss er sich darauf verlassen können, optimale Hilfe zu bekommen. Das gilt für jeden Notfall – auch einen palliativen. Sicherlich nicht immer wird dafür ein SAPV-Team akut eingeschaltet werden müssen, aber in manchen (Not)Fällen kann gerade die SAPV mit ihrer Kompetenz und Erfahrung der entscheidende Faktor sein, um unnötige Krankenhauseinweisungen zu vermeiden und unheilbar kranken Menschen den Verbleib zu Hause zu ermöglichen, wenn dies ihr Wunsch ist. Dies gilt als selbstverständlich bei denjenigen Patienten, die bereits von einem SAPV-Team versorgt werden. Und es muss auch selbstverständlich werden bei denjenigen unheilbar Kranken, die Palliativversorgung in einer Krisen- oder Notfallsituation benötigen, ohne zuvor eine SAPV-Verordnung vom Hausarzt oder Krankenhaus erhalten zu haben.

An dieser Stelle wird nicht nur mir in manchen Diskussionen entgegnet, dass wir lieber die frühzeitige Integration von Palliativversorgung („early integration“) konsequenter umsetzen sollten anstatt eine „Notfall-SAPV“ aufzubauen, die dann gezwungen wäre, bei unbekannten Patienten akut die „Kohlen aus dem Feuer zu holen“. Rechtzeitige SAPV-Versorgung mit vorausschauender Versorgungsplanung und individuellen Notfall- und Krisenplänen kann unnötige Rettungseinsätze und Krankenhauseinweisungen oftmals verhindern. Da stimme ich vollkommen zu! Allerdings ist es für mich keine überzeugende Argumentation gegen die geplanten Reformvorschläge.

Denn: Wir leben (und sterben) nicht immer in einer idealen palliativmedizinischen Welt. Die Realität sieht leider so aus, dass Patient*innen teilweise keine rechtzeitige Verordnung und damit keine regulär geplante Aufnahme in die SAPV erhalten, obwohl dies sinnvoll wäre. Dafür kann es ganz unterschiedliche Gründe geben (nicht erkannter Bedarf, Unwissenheit, ungenügende Patientenaufklärung oder Arzt-Patient-Kommunikation, falsche Prioritätensetzung usw.). In den wenigsten Fällen sind die Patient*innen selbst dafür verantwortlich. Es wird realistisch betrachtet immer Patient*innen geben, die nachts oder am Wochenende in eine palliative Notfallsituation ohne bestehende SAPV-Anbindung kommen, selbst wenn „early integration“, Advance Care Planning und Notfall- und Krisenpläne (hoffentlich!) mehr Verbreitung finden. Den Betroffenen, An- und Zugehörigen oder beispielsweise dem Personal in stationären Pflegeeinrichtungen bleibt dann im Notfall oft nur der Anruf bei der Leitstelle, nicht selten mit der Folge von potenziell vermeidbaren Krankenhauseinweisungen, die am tatsächlichen Versorgungsbedarf vorbeigehen und dem Wunsch der Patient*innen widersprechen.

In solchen Situationen könnte es ein Segen für manche Patient*innen sein, wenn die Leitstelle statt des Rettungsdienstes – oder zusätzlich – ein SAPV-Team involviert oder vielleicht der Rettungsdienst vor Ort ein SAPV-Team nachfordern kann. In solchen Notsituationen könnte im Sinne eines pragmatischen, patientenorientierten Vorgehens auf eine umfassende formale und inhaltliche SAPV-Aufnahmeprozedur zugunsten der akuten Problemlösung verzichtet werden. Die praktische Umsetzung, einschließlich der strukturellen, inhaltlichen und rechtlichen Voraussetzungen ist, wie beschrieben, noch völlig unklar. Dies gibt Raum, Modelle zu entwickeln, zu erproben und mit wissenschaftlichen Methoden der Versorgungsforschung zu evaluieren. Die Kriterien für eine „Notfall-SAPV“ müssen fundiert erarbeitet werden; keinesfalls können und sollen SAPV-Teams den Rettungsdienst ersetzen.

Eines jedoch ist völlig klar: Das deutsche Gesundheitswesen steht vor tiefgreifenden Veränderungen, die alle Versorgungsbereiche betreffen, so auch die Notfall- und Palliativversorgung. Die Einführung einer gut konfigurierten „Notfall-SAPV“ wäre dabei ein sinnvoller, patientenorientierter Baustein. Für die SAPV-Teams würde dies zweifellos neue Herausforderungen bedeuten und die gewohnten Strukturen und Arbeitsweisen verändern. Veränderungen können verunsichern und Widerstände auslösen. Leitend für den Umgang mit den aktuellen Reformvorschlägen sollten jedoch Offenheit, Veränderungsbereitschaft und Mut sein, Neues zu gestalten – mit Blick auf das Wohl der Menschen, die in Not sind.

Mit herzlichen Grüßen

Ihr

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Nils Schneider



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Article published online:
27 October 2023

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