CC BY-NC-ND 4.0 · Gesundheitswesen 2023; 85(06): 495-504
DOI: 10.1055/a-2055-0904
Originalarbeit

Versorgungsforschung in Deutschland in Zeiten von COVID-19: Wie beeinflusst die Pandemie Forschungsprozesse, Methoden und die persönliche Situation von Forschenden? Eine Online-Befragung

Health Services research in Germany in Times of COVID-19: How Does the Pandemic Influence Research Processes, Methods and the Personal Situation of Researchers? An Online Survey
1   Abteilung Organisationsbezogene Versorgungsforschung, Department für Versorgungsforschung, Fakultät für Medizin und Gesundheitswissenschaften, Carl von Ossietzky Universitat Oldenburg, Oldenburg, Germany
,
1   Abteilung Organisationsbezogene Versorgungsforschung, Department für Versorgungsforschung, Fakultät für Medizin und Gesundheitswissenschaften, Carl von Ossietzky Universitat Oldenburg, Oldenburg, Germany
,
1   Abteilung Organisationsbezogene Versorgungsforschung, Department für Versorgungsforschung, Fakultät für Medizin und Gesundheitswissenschaften, Carl von Ossietzky Universitat Oldenburg, Oldenburg, Germany
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Amelie Pawel
1   Abteilung Organisationsbezogene Versorgungsforschung, Department für Versorgungsforschung, Fakultät für Medizin und Gesundheitswissenschaften, Carl von Ossietzky Universitat Oldenburg, Oldenburg, Germany
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1   Abteilung Organisationsbezogene Versorgungsforschung, Department für Versorgungsforschung, Fakultät für Medizin und Gesundheitswissenschaften, Carl von Ossietzky Universitat Oldenburg, Oldenburg, Germany
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1   Abteilung Organisationsbezogene Versorgungsforschung, Department für Versorgungsforschung, Fakultät für Medizin und Gesundheitswissenschaften, Carl von Ossietzky Universitat Oldenburg, Oldenburg, Germany
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1   Abteilung Organisationsbezogene Versorgungsforschung, Department für Versorgungsforschung, Fakultät für Medizin und Gesundheitswissenschaften, Carl von Ossietzky Universitat Oldenburg, Oldenburg, Germany
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Zusammenfassung

Die COVID-19 Pandemie hat nicht nur massive Auswirkungen auf das gesellschaftliche Leben und das Gesundheitssystem, sondern auch auf die Rahmenbedingungen der Versorgungsforschung. Der Einfluss der Pandemie auf Forschungsprozesse, Methoden und die persönliche Situation der Forschenden ist bisher kaum empirisch untersucht. Geleitet von der Frage, wie Forschungsprozesse und Methoden an die Herausforderungen durch COVID-19 angepasst werden und wie Forschende den Einfluss der Pandemie auf ihre persönliche Situation wahrnehmen, wurde von Juni bis Juli 2021 eine Online-Befragung unter Versorgungsforschenden durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass sich bei einem Großteil der Forschungsprojekte Verzögerungen aufgrund von Problemen bei der Rekrutierung und/oder der Datenerhebung ergeben haben. Von den Antwortenden, die bereits Daten seit Beginn der Pandemie (März 2020) erhoben hatten, konnten knapp zwei Drittel die Datenerhebung in der ursprünglich geplanten Form nicht umsetzen und es wurde vor allem auf digitale Zugänge und Erhebungsmethoden gesetzt. Die Auswertung der Freitexte zeigte, dass die Pandemie sich auf alle Phasen des Forschungsprozesses massiv auswirkt: Zentrale Herausforderungen sind unter anderem der erschwerte Zugang zum Feld, Probleme bei der Erreichung der Fallzahlen und die Sorge um die Datenqualität. In Bezug auf die persönliche Situation beklagen Forschende die Einschränkung persönlicher Kontakte, die damit einhergehende fehlende Sichtbarkeit und gleichzeitig profitieren sie von den niedrigschwelligen digitalen Kontaktmöglichkeiten. Insgesamt zieht die Studie eine erste Bilanz des Einflusses der COVID-19 Pandemie auf die Versorgungsforschung und -forschende. Sie zeigt, dass nach dem ersten „Schock“ mit dem ersten Lockdown im März 2020 durchaus pragmatische und dabei häufig innovative Wege gefunden wurden, Projekte auch unter den Bedingungen der Pandemie durchzuführen. Die in diesem Kontext verstärkte Nutzung von digitalen Kommunikations- und Erhebungsformen bringt zahlreiche Herausforderungen, jedoch auch methodische Impulse mit sich.


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Abstract

The COVID-19 pandemic has a massive impact on social life, the healthcare system, and also on health services research. However, the effects of the pandemic on research processes, methods, and the personal situation of researchers has not been investigated so far. Guided by the question of how research processes and methods are adapted to the challenges posed by COVID-19 and how researchers perceive the impact of the pandemic on their personal situation, an online survey of health services researchers was conducted from June to July 2021. The results showed that a large proportion of research projects have had delays due to recruitment and/or data collection issues. Two-thirds of the respondents who had already collected data since the beginning of the pandemic (March 2020) were unable to collect data in the originally planned form and relied primarily on digital data collection methods. The analysis of the open-ended survey responses showed that the pandemic had a massive impact on all phases of the research process: key challenges included difficult field access, problems in achieving planned sample sizes, and concerns about data quality. Regarding their personal situation, researchers perceived the reduction of personal contacts, and the resulting lack of visibility as negative, while at the same time they benefited from the easy digital contact possibilities. Overall, the study provides an initial assessment of how the COVID-19 pandemic affected health services research and researchers. It shows that after the initial “shock” of the first lockdown in March 2020, pragmatic and often innovative ways were found to carry out projects under the pandemic conditions. However, the increased use of digital communication forms and data collection methods brings numerous challenges, but also methodological impulses.


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Hintergrund

Der Ausbruch der COVID-19 Pandemie und die gegen die Verbreitung des Virus ergriffenen Maßnahmen und deren Folgen haben bis heute massive Auswirkungen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Die stationäre und ambulante Gesundheitsversorgung ist besonders stark von der Pandemie betroffen und der bereits vor der Pandemie bestehende Personalmangel verschärft sich zunehmend [1] [2] [3]. Im Zuge dessen haben sich international auch für die Versorgungsforschung die Rahmenbedingungen vor allem durch die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung (z. B. Kontaktbeschränkungen) stark verändert [4]. Dies betraf zu Beginn der Pandemie mit dem ersten Lockdown im März 2020 jene Forschungsvorhaben, in denen ein persönlicher Kontakt zum Untersuchungsfeld notwendig war und deren Zielgruppen, z. B. multimorbide oder hochaltrige Personen, im Kontext der Pandemie als besonders vulnerabel eingeschätzt wurden [5] [6] [7]. Charakteristisch für die Versorgungsforschung ist, dass nicht nur verschiedene Bevölkerungs- oder Patient:innengruppen, sondern auch das Versorgungssetting selbst, seine Prozesse, Strukturen und Akteur:innen als Kontextfaktoren oder als eigene Untersuchungsgegenstände in den Blick genommen werden. Für die Versorgungsforschung typische Studien, wie z. B. die Implementierung und Evaluation komplexer Interventionen, machen es sehr häufig notwendig, dass sich die Forschenden selbst ins Feld begeben [8]. Darüber hinaus geht es oftmals darum, Wirksamkeitsnachweise einer Intervention zu erbringen, wofür eine hinreichend große Anzahl und/oder Varianz von Fällen rekrutiert werden muss. Dies kann per se eine Herausforderung darstellen und wird durch die Pandemiebedingungen zusätzlich erschwert.

Erste wissenschaftliche Veröffentlichungen zur Lage der Gesundheits- und Versorgungsforschung während der COVID-19 Pandemie zeigen, dass Forschungsprojekte angepasst oder sogar pausiert werden mussten und Forschende pragmatische Wege finden mussten, um in der Dynamik des Pandemiegeschehens wenigstens eingeschränkt handlungsfähig zu bleiben [9] [10]. So fand unter anderem ein Umschwenken auf „krisensichere“ Datenerhebungsmethoden, wie z. B. Telefoninterviews oder Online-Befragungen, statt [11] [12]. Allerdings wurden als Reaktion auf die Pandemie auch neue Fördermaßnahmen aufgelegt und Forschungsprojekte und -kooperationen angeregt [13] [14]. Neben den Auswirkungen auf Forschungsprojekte hatte die COVID-19 Pandemie Folgen für die berufliche – und damit auch die persönliche – Situation von Forschenden, die während der Pandemie durch das Arbeiten von zu Hause aus und eine wissenschaftliche Vernetzung im virtuellen Raum geprägt war [15] [16]. Es zeigte sich, dass es während der Pandemie zu einer Entgrenzung von Arbeit und Privatleben kam, wovon insbesondere Forschende mit Sorgeverpflichtungen betroffen waren [17] [18].

Der Einfluss der Pandemie auf Forschungsprozesse in der Versorgungsforschung wurde bislang kaum empirisch untersucht. Zudem fehlt es an empirischer Evidenz, wie sich die Einschränkungen und Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf die individuelle berufliche Situation von in der Versorgungsforschung tätigen Wissenschaftler:innen auswirken. Diese Frage ist nicht nur auf Ebene der einzelnen Forschenden persönlich relevant, sondern wird sich auch darauf auswirken, als wie attraktiv die Versorgungsforschung als Berufsfeld wahrgenommen wird. Folgenden zwei Fragestellungen lagen der Untersuchung zu Grunde:

1) Wie passen Forschende in der Versorgungsforschung laufende und geplante Forschungsprozesse und Methoden an die Herausforderungen durch COVID-19 an? Wie bewerten sie diese Anpassungen?

2) Wie nehmen Forschende den Einfluss der Pandemie auf ihren Arbeitsalltag und ihre wissenschaftliche Karriere wahr?


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Methode

Die Befragung wurde als Querschnittstudie online mittels eines standardisierten Fragebogens mit einem Anteil zusätzlicher offener Fragen durchgeführt. Dieser wurde in einem qualitativen Pretest unter Anwendung der Think-Aloud Technik (kognitiver Pretest) mit in der Versorgungsforschung Tätigen (n=3) auf Verständlichkeit, Praxistauglichkeit und Vollständigkeit geprüft [19]. Daraufhin wurde der Schwerpunkt des Fragebogens angepasst (personen- statt projektbezogene Fragen) und es wurden einzelne Items in ihrem Wortlaut oder ihren Antwortmöglichkeiten modifiziert. Zielgruppe der Befragung waren Wissenschaftler:innen und wissenschaftlich tätige Kliniker:innen im Feld der Versorgungsforschung.

Die Datenerhebung erfolgte von Juni bis Juli 2021. Die Teilnehmenden wurden gebeten, ihre Angaben auf den Zeitraum seit Beginn der Pandemie (dieser wurde pragmatisch mit dem ersten bundesweiten Lockdown im März 2020 festgelegt) bis zum Zeitpunkt der Erhebung zu beziehen. Der Fragebogen bildet, neben personenbezogenen Angaben, die wesentlichen Phasen des Forschungsprozesses sowie Einschätzungen zu den jeweils vorgenommenen methodischen Anpassungen aufgrund der Pandemie und deren Einfluss auf die individuelle berufliche Situation der Teilnehmenden ab (siehe Fragebogen im Online-Supplement).

Datenerhebung

Die Rekrutierung der genannten Zielgruppe fand mit einer offenen Einladung mit einem Link zur Befragung über den Newsletter des Deutschen Netzwerks Versorgungsforschung (DNVF) statt. Als Mitglieder erhalten Fachgesellschaften, Wissenschaftliche Institute und Forschungsverbünde, Juristische Personen und Personenvereinigungen als auch natürliche Personen den Newsletter. Außerdem wurde der Aufruf noch einmal per E-Mail direkt an alle DNVF-Mitgliedsfachgesellschaften (n=59) sowie an Hochschulen (n=37) mit für die Versorgungsforschung relevanten Studiengängen und/oder Forschungsaktivitäten mit der Bitte um Verbreitung weitergeleitet. Zusätzlich wurde die Einladung zur Befragung in den persönlichen wissenschaftlichen Netzwerken der Autor:innen verbreitet.

Die Erhebung erfolgte mit der Software SoSci Survey (Version 3.2.44) und wurde anonym (ohne Dokumentation der IP-Adresse der Teilnehmenden) durchgeführt. Aufgrund der anonymen Durchführung der Befragung bestand keine Beratungspflicht durch eine Ethikkommission (Medizinische Ethikkommission Oldenburg, Aktenzeichen 2021–060, Bescheid vom 26.03.2021).


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Datenanalyse

Die Auswertung der standardisiert erhobenen Befragungsdaten erfolgte mittels deskriptiver Statistik (JSL und AZ) mit der Statistiksoftware SPSS Version 27. Fragebögen wurde in die Analyse eingeschlossen, wenn mindestens 70% der standardisierten Items oder ein Freitextfeld ausgefüllt wurde. Die schriftlichen, offenen Antworten wurden mit qualitativer Inhaltsanalyse ausgewertet (HS, AP und MvK) [20]. Dabei wurde zunächst deduktiv ein Kategoriensystem orientiert an den Items des Fragebogens entwickelt. Die induktive Auswertung erfolgte in einem ersten Schritt innerhalb der Angaben zu einzelnen Items. In einem zweiten Schritt wurden übergreifende Themen identifiziert und diese systematisch den Phasen des Forschungsprozesses (differenziert in Forschungsfragen und -ziele, Studiendesign, Feldzugang, Projektmanagement und -kommunikation, Datenerhebung, Datenanalyse, Publikation und Dissemination) zugeordnet. Die inhaltsanalytische Auswertung erfolgte mit der Software MAXQDA Analytics Pro (2020, 22.0.1.). Das Material wurde zunächst von eine:r Forscher:in kodiert und anschließend mit mindestens eine:r zweiten Forscher:in zum Zwecke der Validierung besprochen. Bei abweichenden Einschätzungen wurde das Material im Auswertungsteam (HS, AP und MvK) diskutiert bis Konsens erzielt wurde.


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Ergebnisse

Die quantitativen und qualitativen Ergebnisse werden integriert dargestellt. Bei den Angaben zu Prozenten handelt es sich um gültige Prozent der Personen, die die Frage beantwortet haben (durch Abbrüche und Filterfragen ergeben sich unterschiedliche Fallzahlen).

Rücklauf und Stichprobenbeschreibung

Insgesamt erhielten wir 308 (teil-)ausgefüllte Fragebögen, wovon 239 Fragebögen mit insgesamt 1455 ausgefüllten Freitextfeldern in die Analyse eingeschlossen wurden. [Tab. 1] gibt einen Überblick über die Charakteristika der teilnehmenden Personen.

Tab. 1 Charakteristika der Stichprobe.

Funktion der Teilnehmenden (n=198, Mehrfachantworten mögl.)

n

gültige%

Institutsleiter*in und/oder Professor*in

42

21,2

Wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in

143

72,7

Kliniker*in

20

10,1

Sonstige

18

9,1

Erfahrung in der Versorgungsforschung in Jahren (n=197)

n

gültige%

0–5 Jahre

80

40,6

6–10 Jahre

56

28,4

11–15 Jahre

26

13,2

>15 Jahre

35

17,8

Institution (n=170, Mehrfachantworten mögl.)

n

gültige%

Hochschule

170

85,4

Außeruniversitäre Forschungseinrichtung

15

7,5

Einrichtung der Patient*innenversorgung

40

20,1

Industrie

3

1,5

Sonstige

9

4,5

Disziplinen (n=198, Mehrfachantworten mögl.)

n

gültige%

Gesundheitswissenschaften

71

35,9

Medizin

56

28,3

Psychologie

43

21,7

Sozialwissenschaften

27

13,6

Pflegewissenschaften

23

11,6

Rehabilitationswissenschaften

12

6,1

Physiotherapie

6

3,0

Sportwissenschaften

6

3,0

Soziale Arbeit

4

2,0

Andere Disziplinen

25

12,6

Derzeit im Promotionsprozess (n=193)

n

gültige%

Ja

60

30,5

Nein

137

69,5


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Einfluss der Pandemie auf Forschungsprojekte in der Versorgungsforschung

Der Großteil der Antwortenden hatte seit Beginn der Pandemie mindestens ein Forschungsprojekt geplant (n=117, 52,0%) oder befand sich zum Zeitpunkt der Befragung in der Planung eines oder mehrerer Forschungsprojekte (n=134, 59,6%). Seit Beginn der Pandemie hatten 37,9% (n=86) bereits ein oder mehrere Forschungsprojekte abgeschlossen oder befanden sich aktuell in der Durchführung (n=196, 86,3%).

Im Hinblick auf den Feldzugang und -aufenthalt ergaben sich massive Einschränkungen durch die Pandemie. Für 39,2% (n=87) der Antwortenden war ein Feldaufenthalt überhaupt nicht möglich und 51,4% (n=114) gaben an, dass der Feldaufenthalt nur mit Maßnahmen möglich (gewesen) sei. Die Entwicklung von Hygienekonzepten und die Einhaltung der aktuell geltenden Präventionsmaßnahmen, aber auch eine Reduzierung der Feldkontakte (auch durch telefonische und digitale Lösungen zur Datenerhebung) wurden dabei in den Freitextfeldern besonders häufig genannt.

Mehr als drei Viertel (n=170, 78,0%) der Antwortenden schätzten die Zielgruppen ihrer Forschungsprojekte als besonders vulnerabel im Kontext der Pandemie ein. In den offenen Antworten wird eine erhöhte Vulnerabilität mit individuellen gesundheitsrelevanten Merkmalen, z. B. chronische Krankheiten, kognitive Einschränkungen wie Demenz, onkologische Erkrankungen oder Schwangerschaft, mit einem bestimmten Setting, z. B. Menschen in Pflegeheimen, Krankenhäusern oder Unterkünften für Geflüchtete, aber auch mit der beruflichen Tätigkeit im Gesundheitswesen (Pflegekräfte und anderes Gesundheitspersonal) begründet. Dabei lagen die Gründe für diese Einschätzung zum einen in einem erhöhten Risiko für einen schweren Verlauf bei einem ohnehin schon eingeschränkten Gesundheitszustand und zum anderen insbesondere bei Personengruppen mit psychischer Erkrankung in einem durch die Pandemie zusätzlich erschwerten Zugang zu gesundheitlichen Versorgungsleistungen. Diese Gründe trugen laut den Teilnehmenden neben den allgemeinen Kontaktbeschränkungen zu einem zusätzlich erschwerten Feldzugang bei.

Wenige Antwortende gaben an, die Planung (n=17, 7,6%) bzw. ein bereits laufendes Forschungsprojekt (n=13, 5,7%) aufgrund der Pandemie abgebrochen zu haben. Allerdings gab die große Mehrheit der Antwortenden an, dass sich ihre Forschungsprojekte verzögert hätten (siehe [Tab. 2]). Hauptgrund waren hier Probleme bei der Rekrutierung und/oder der Datenerhebung (n=144, 73,1%). Ein weiteres Problem war die pandemiebedingt erschwerte Vereinbarkeit von Beruf und Familie innerhalb des Projektteams (n=54, 27,4%). Für ca. die Hälfte der mit Drittmitteln geförderten Projekte (n=95, 47,7%) wurde eine zeitliche Verlängerung oder Aufstockung der Mittel beantragt (siehe [Tab. 2]).

Tab. 2 Verzögerungen und Anpassungsbedarfe im Projektverlauf.

Kam es in einem Ihrer Forschungsprojekte aufgrund der Pandemie zu Verzögerungen im Projektverlauf? (n=197, Mehrfachantworten mögl.)

n

gültige%

Ja, aufgrund von Problemen bei der Rekrutierung und/oder Datenerhebung

144

73,1

Ja, aufgrund von Problemen bei Bewerbungs- oder Einstellungsprozessen

27

13,7

Ja, aufgrund von Problemen bei der Nutzung bestimmter Software für z. B. die Datenanalyse aus dem Home Office

23

11,7

Ja, aufgrund von Problemen bei der Publikation von Studienergebnissen

15

7,6

Ja, aufgrund von erschwerter pandemiebedingter Vereinbarkeit von Beruf und Familie innerhalb des Projektteams

54

27,4

Ja, aus sonstigen Gründen

26

13,2

Keine Verzögerungen

24

12,2

Musste in einem Ihrer Forschungsprojekte ein Antrag auf eine Verlängerung oder Aufstockung der Drittmittelfinanzierung gestellt werden oder ist es absehbar, dass dies notwendig sein wird? (n=199, Mehrfachantworten mögl.)

n

gültige%

Ja, ist notwendig

39

19,6

Ja, wurde bereits beantragt

45

22,6

Ja, wurde bereits bewilligt

50

25,1

Nein

47

23,6

Noch nicht absehbar

44

22,1

Haben sich bezüglich der Anpassungen Ihrer geplanten oder laufenden Forschungsprojekte in einem der folgenden Bereiche Fragen ergeben? (n=202, Mehrfachantworten mögl.)

n

gültige%

Ethische Fragen

40

19,8

Rechtliche Fragen

42

20,8

Methodische Fragen

121

59,9

sonstige Fragen

15

7,4

Es haben sich keine Fragen ergeben.

66

32,7

Wo haben Sie Antworten auf diese Fragen erhalten? (n=133, Mehrfachantworten mögl.)

n

gültige%

Ethikkommission

21

15,8

Datenschutzabteilung

36

27,1

Rechtsabteilung

7

5,3

Förderinstitution

21

15,8

Projektpartner*innen

64

48,1

Kolleg*innen

87

65,4

Eigene Recherche (z. B. Internet)

73

54,9

An anderer Stelle

8

6,0

Ich habe die gesuchten Informationen nicht erhalten.

7

5,3

Die meisten offenen Fragen ergaben sich für die Antwortenden in Bezug auf methodische Anpassungen (n=121, 59,9%), dabei waren Kolleg:innen die wichtigsten Ratgebenden (n=87, 65,4%) (siehe [Tab. 2]).


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Anpassungen im Forschungsprozess

Ein Großteil der Antwortenden (n=150, 68,2%) gab an, pandemiebedingt Anpassungen im Verlauf der Planung oder Durchführung von Forschungsprojekten vorgenommen zu haben. Initiiert wurden diese Anpassungen meist von den Forschenden selbst (n=160, 78,4%), teilweise von Projektpartner:innen (n=52, 25,5%) und seltener von Förderinstitutionen (n=14, 6,9%), wie etwa in dieser Freitextantwort erläutert: „DLR insistierte auf der Planung verschiedener Szenarien, unter denen das Projekt weiterfinanziert oder auch nicht wurde.“ (Datensatz 318). Zum Zeitpunkt der Datenerhebung gaben ca. ein Viertel der Antwortenden (n=49, 26,3%) an, dass die Aufforderung, die Pandemie im Forschungsprozess zu berücksichtigen, bereits in der Förderausschreibung formuliert war. 11,8% (n=22) berichteten, dass sie eine solche Aufforderung nach erfolgter Bewilligung erhalten hätten.

Der Umgang von Fördermittelgebern mit der Pandemie und die Kommunikation mit den Empfänger:innen reichte von Entgegenkommen „Sachverhalt [dass der Projektstart verschoben werden musste] wurde verstanden und anerkannt“ (Datensatz 1302) bis hin zu „Erschreckend wenig Verständnis beim Projektträger für Auswirkungen der Pandemiesituation auf Forschung“ (Datensatz 697). Außerdem wurden einige Wissenschaftler:innen explizit dazu aufgefordert, den Einfluss der Pandemie auf das Projekt und seine Ergebnisse z. B. im Rahmen von Publikationen zu reflektieren und Erhebungsinstrumente entsprechend anzupassen.

Fast die Hälfte (n=87, 43,3%), der Antwortenden gab an, verschiedene methodische Szenarien hinsichtlich der Datenerhebung entwickelt zu haben, um auf die dynamische Entwicklung der Pandemie reagieren zu können. In den offenen Antworten zu diesem Aspekt wurde vor allem angegeben, dass auf digitale Formate umgestiegen worden sei. Dies betraf meistens die Datenerhebung, aber z. B. auch die Schulung von Fachpersonal im Feld, an das die Datenerhebung zum Teil delegiert wurde, oder die Kommunikation mit Projektpartner:innen. Außerdem mussten Fallzahlen neu kalkuliert und insgesamt wurde ein hohes Maß an Flexibilität hinsichtlich der dynamischen Entwicklung der Pandemie und den damit verbundenen Restriktionen von allen Beteiligten an den Tag gelegt:

„Regelmäßiger Kontakt zu den Kooperationspartnern und gemeinsames Aushandeln von Zeitkorridoren, wo eine persönliche Datenerhebung möglich ist. Flexible Gestaltung der Datenerhebungsphase.“ (Datensatz 905)


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Datenerhebung(en) während der Pandemie

Die meisten Antwortenden (n=166, 82,6%) hatten seit Beginn der Pandemie Datenerhebungen durchgeführt, wovon gut zwei Drittel (n=145, 71,4%) die Datenerhebung nicht in der geplanten Form umsetzen konnte (siehe [Abb. 1]). Dies betraf vor allem Datenerhebungen mit persönlichem Kontakt und dabei insbesondere Einzel- oder Gruppeninterviews (n=100, 41,8%). In der Pandemie überwiegen kontaktlose, digitale Erhebungsformen.

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Abb. 1 Formen der Datenerhebung, die aufgrund der Pandemie nicht eingesetzt werden konnten und während der Pandemie eingesetzte Formen der Datenerhebung.

Die Ergebnisse unserer Befragung zeigen, dass sich die Pandemie und die damit einhergehenden Rahmenbedingungen und Restriktionen auf alle Phasen des Forschungsprozesses – von der Formulierung des Forschungsinteresses, über die Planung und Durchführung der Studie, bis hin zur Publikation der Ergebnisse – auswirkt. In [Abb. 2] sind zentrale Themen hinsichtlich Anpassungen und Herausforderungen in den spezifischen Phasen des Forschungsprozess als Ergebnis der Auswertung der offenen Antworten zusammengefasst.

Zoom Image
Abb. 2 Zentrale Themen hinsichtlich Anpassungen und Herausforderungen im Forschungsprozess (Auswertung der offenen Antwortformate).

Prägende Themen und Herausforderungen, die laut Aussagen der Teilnehmenden Konsequenzen auf allen Ebenen des Forschungsprozesses haben, sind der erschwerte Feldzugang bzw. das Forschen in einem den Forschenden ganz oder zum Teil verschlossenen Feld, Fragen der Fallzahlkalkulation und des Samplings und die Frage nach der Qualität der unter diesen Umständen erhobenen Daten, sowie das dominante Thema der (teilweisen) Digitalisierung von Forschungsprozessen.


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Bewertung pandemiebedingter Anpassungen durch Forschende

Trotz aller Einschränkungen und Schwierigkeiten, die bei der Planung und Durchführung von Forschungsprojekten berichtet wurden, scheinen sich auch erfolgreiche Strategien und methodische Zugänge entwickelt zu haben. Ungefähr drei Viertel der Antwortenden (n=142, 70,3%) gaben an, dass sie Methoden, die sich während der Pandemie bewährt haben, auch nach dem Wegfall der pandemiebedingten Restriktionen anwenden würden. Auch hier ist das Thema Digitalisierung vorherrschend. In [Tab. 3] sind die Vor- und Nachteile, die die Befragten im Einsatz digitaler Methoden bei der Datenerhebung sehen, dargestellt.

Tab. 3 Vor- und Nachteile digitaler Methoden bei der Datenerhebung.

Welche der folgenden Vorteile haben sich durch den Einsatz elektronischer/digitaler Methoden zur Datenerhebung (webbasiert/Telefon etc.) ergeben? (n=142)

n

gültige%

Zeitersparnis

88

62,0

Kostenersparnis

81

57,0

bessere Erreichbarkeit der Zielgruppe

39

27,5

sonstige Vorteile

24

16,9

keine Vorteile

27

19,0

Welche der folgenden Nachteile haben sich durch den Einsatz elektronischer/digitaler Methoden zur Datenerhebung (webbasiert/Telefon etc.) ergeben? (n=137)

n

gültige%

Umgang mit Technik für Zielgruppe schwierig

76

55,5

Umgang mit Technik für Forschende schwierig

18

13,1

Zeitprobleme aufgrund Umstellung der Methode

32

23,4

Mimik/Gestik fehlt zur Einordnung des Gesagten

61

44,5

Datenschutzrechtliche Probleme

48

35,0

Antwortverhalten zurückhaltender

39

28,5

Sonstiges

18

13,1

Keine Nachteile

18

13,1

In den offenen Antworten finden sich vielfältige Einschätzungen zu digitalen Zugängen in den Projekten. Insbesondere Projekt-, Team-, Netzwerktreffen in digitale Formate zu verlegen, trifft auf viel Anklang, da Ressourcen gespart werden können und geografische Barrieren wegfallen. Auch Expert:innen und Akteure des Gesundheitswesens können auf digitalem Wege niedrigschwellig erreicht werden und:

„StudienteilnehmerInnen schienen sich Zuhause wohler zu fühlen, was die Interviewsituation erleichterte.“ (Datensatz 1202)

Als vorrangiger Nachteil der Anwendung digitaler Wege der Datenerhebung wird bei der Beantwortung der standardisierten Items die fehlende Kompetenz einzelner Zielgruppen, mit der dafür notwendigen Technik umzugehen, genannt (n=76, 55,5%). In den offenen Antworten wird dies noch spezifiziert: so mussten teilweise Teilnehmende ausgeschlossen werden (was Probleme bezüglich der Fallzahlen nach sich zieht) oder auf Telefoninterviews ausgewichen werden:

„Wesentliche, v. a. nonverbale Interaktionsanteile (Augenkontakt) können bei dieser Form der Datenerhebung kaum genutzt/berücksichtigt werden.“ (Datensatz 711)

Insgesamt sehen es die Befragten bei digitalen Methoden oft kritisch, dass nonverbale Interaktionsanteile über Mimik, Gestik und Augenkontakte schwerer erfasst und analysiert werden können:

„Bei bestimmten Fragestellungen und Zielgruppen ist die direkte Interaktion/Kommunikation in qualitativen Interviews und Gruppendiskussionen allerdings nur sehr bedingt durch technikgebundene Interaktion/Kommunikationsformate "vollwertig ersetzbar"“ (Datensatz 1094)

Auch der Kontext und das Setting (z. B. das Wohnumfeld), aus dem heraus Proband:innen agieren, bleiben den Forschenden bei digitalen Zugängen weitgehend verschlossen. Technikgebundene Kommunikationsformate sind außerdem schwierig, wenn Netzwerkverbindungen schwach und Audioaufnahmen schwer zu verstehen sind. Ebenso empfinden Forschende den Feldzugang bei digitalen Zugängen als schwieriger und die „Teilnahmequote deutlich geringer, weniger Daten erhalten“ (Datensatz 1085).


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Die COVID-19 Pandemie und die persönliche Situation von Forschenden

Die Befragten machten vielfältige Angaben zu den Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf ihre persönliche Situation. In den Freitextfeldern zeigt sich, dass die negativen Auswirkungen der Pandemie (n=198 Kodierungen) die positiven (n=94 Kodierungen) überwiegen, dass aber einzelne Aspekte (z. B. der digitale Austausch) ein gleichzeitiges Für und Wider mit sich bringen.

Negative Auswirkungen der Pandemie auf Vernetzung und Karriere

Als belastend empfinden die Befragten die COVID-19 Pandemie besonders aufgrund der Einschränkungen im persönlichen (nicht-digitalen) Kontakt mit anderen Forschenden. Es fehlen Austausch und Vernetzungsmöglichkeiten, die durch digitale Kommunikationsformen nicht gleichwertig ersetzt werden können. Digitale Begegnungen werden als „sehr kurz“ (Datensatz 647), „weniger lebhaft“ (Datensatz 362) oder „nicht genauso nachhaltig wie persönliche Treffen“ (Datensatz 1296), „schwieriger“ (Datensatz 617) und „unpersönlicher“ (Datensatz 289) bewertet. Teilweise führt diese Form der Kommunikation zu Konflikten. Zudem fehlen die positiven zwischenmenschlichen Erlebnisse und die Highlights, der „Spaß“, den Präsenzveranstaltungen wie z. B. Kongresse in den wissenschaftlichen Arbeitsalltag bringen:

„Der soziale Teil der Zusammenarbeit fehlt, der online schwer zu ersetzen ist. Auch Konferenzen machen online deutlich weniger Spaß und man hat dort nicht den Benefit des Netzwerkens“ (Datensatz 650)

Negativ bewertet wurde auch, dass aufgrund der Pandemie die Möglichkeit für Weiterbildungen erschwert ist oder sich die Arbeit an wissenschaftlichen Qualifikationen (z. B. Dissertation) verzögert. Dies wurde teilweise durch den erhöhten planerischen Aufwand in Forschungsprojekten begründet:

„Planung der Änderungen und multiple Ängste im Team, der Projektpartner sowie Durchführung nach [C]ovid regeln nehmen unendlich viel Zeit in Anspruch, keine Zeit für Artikel oder Promotion“ (Datensatz 999)

Auch die eigene wissenschaftliche Sichtbarkeit ist laut einigen Forschenden eingeschränkt. Vereinzelt berichteten Befragte auch über zusätzliche Belastungen, die durch die schlechte Vereinbarkeit von Beruf und familiären Verpflichtungen (z. B. Kinderbetreuung) im Homeoffice verursacht wurden.


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Positive Auswirkungen der Pandemie auf Vernetzung und Karriere

Neben den negativen Folgen wurden aber auch positive Auswirkungen der Pandemie auf den Kontakt, den Austausch und die Vernetzung mit anderen Forschenden berichtet. Dies liegt aus Sicht der Teilnehmenden hauptsächlich an den digitalen Kommunikationsmöglichkeiten, die den Kontakt zwischen Forschenden fördern und vereinfachen, weil sie einen ortsunabhängigen, ressourcenschonenden Austausch ermöglichen und:

„…mehr Personen teilnehmen können, da An- und Abreise entfällt. So ist es möglich einen breiteren Teilnehmer:innenkreis kennenzulernen.“ (Datensatz 404)

Die digitale Vernetzung wurde durchaus auch als „leicht[er]“ (Datensatz 978), „effektiv[er]“ (Datensatz 851), „unkompliziert[er]“ (Datensatz 857) und „nachhaltiger […] als „Feiern“ an Kongressabenden“ (Datensatz 909) empfunden. Positiv wurde auch bewertet, dass eine Teilnahme an digitalen Veranstaltungen oder Fortbildungen niedrigschwellig möglich ist und dass ungeachtet des erhöhten Aufwandes in den Projekten „(zwischenzeitlich) mehr Zeit für Datenauswertungen und Publikationen“ (Datensatz 431) zur Verfügung stand.

Bei den individuell wahrgenommenen Auswirkungen der Pandemie sind wenig Unterschiede zwischen Promovierenden und Nicht-Promovierenden erkennbar. Während Nicht-Promovierenden sich eher mit einer erhöhten Arbeitsverdichtung konfrontiert sahen, äußerten Promovierende hingegen Sorgen in Bezug auf Verzögerungen ihrer Promotion.


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Diskussion

Die Befragung wurde ca. 15 Monate nach dem ersten Lockdown (im März 2020) durchgeführt. Damit hatten die Teilnehmenden schon einige Erfahrung mit der Durchführung von Forschungsprojekten unter Pandemiebedingungen gesammelt, der Arbeitsalltag der Forschenden stand aber noch stark unter dem Eindruck der Pandemie und die Forschungsprozesse unterlagen großen (Planungs-)Unsicherheiten, z. B. in Bezug auf den Verlauf der Pandemie und Möglichkeiten und Wirkung der Impfungen. Vor diesem Hintergrund sind unsere Ergebnisse einzuordnen und zu diskutieren.

Insgesamt, so zeigen es unsere Ergebnisse, erfordert das Pandemiegeschehen flexible und pragmatische Lösungen und Anpassungsleistungen auf Seiten der Forschenden. Vor allem auf methodischer Ebene hat die Versorgungsforschung einen Digitalisierungsschub erhalten, der viele Einschränkungen und Herausforderungen mit sich bringt, aber auch neue Perspektiven auf wissenschaftlicher und persönlicher Ebene bietet.

Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf Forschungsprozesse und Methoden in der Versorgungsforschung

Die Versorgungsforschung zeichnet sich durch eine große Nähe zu dem von ihr untersuchten Feld aus. Viele Forschungsprojekte kommen nicht ohne direkten Kontakt zu ihren Zielgruppen und Untersuchungssettings aus und sind dabei oft auf Kollaboration und direkte Mitwirkung von relevanten Akteur:innen im Feld (z. B. medizinisches und pflegerisches Personal) angewiesen. Unsere Ergebnisse machen deutlich, dass trotz diverser Hygienemaßnahmen und methodischer Anpassungen für einen Großteil der Befragten ein Zugang zum Feld in den Wochen und Monaten nach dem ersten Lockdown um Frühjahr 2020 nur beschränkt oder gar nicht möglich war.

Insbesondere persönliche Formen der Datenerhebung (z. B. persönliche Interviews oder Beobachtungen) konnten aufgrund des begrenzten Feldzugangs nicht durchgeführt werden und es kam zu einer Verschiebung hin zu Interviewformen ohne persönlichen Kontakt (z. B. Online-Befragungen, Video- oder Telefoninterviews). Aber auch diese Formen der Datenerhebung stellten Forschende vor Herausforderungen. So werden mangelnde technische Fähigkeiten der Teilnehmenden, schlechte Internetverbindungen oder Datenschutzbestimmungen von Kliniken oder Universitäten als Hürden beschrieben [12]. Padala et al. [5] plädieren dafür, Studien unter COVID-19-Bedingungen inklusiver zu gestalten und z. B. Studienteilnehmende selbst entscheiden zu lassen, welche Erhebungsform – mit oder ohne persönlichem Kontakt – sie bevorzugen. Auch in der vorliegenden Befragung klang an, dass Anpassungen bei der Datenerhebung auf Vorschlägen (z. B. die Befragung doch telefonisch durchzuführen) von Studienteilnehmenden hin vorgenommen wurden. Aus anderen Erhebungen zu Forschung mit älteren Personen während der Pandemie gibt es Hinweise, dass diese Präferenzen vor allem vom subjektiven Sicherheitsempfinden der Teilnehmenden abhängen [21].

Obwohl die Verschiebung hin zu digitalen Erhebungsmethoden auch einige Chancen ermöglicht und mitunter positiv bewertet wird, war die Frage nach der Qualität der Daten und die Validität der daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen von zentraler Bedeutung für die befragten Forschenden. Vor allem die Fallzahlplanung in quantitativen Projekten stellte aus Sicht der Befragten ein großes Problem dar und auch andere Autor:innen verweisen auf die Problemlagen, mit denen sich stark standardisierte Forschungsvorhaben wie randomisiert-kontrollierte (klinische) Studien während der Pandemie konfrontiert sehen [22]. Weniger stark auf Standardisierung angewiesene Studiendesigns können dem gegenüber flexibler an das dynamische Geschehen angepasst werden. So sichern pragmatische Lösungen wie digitale Zugänge oder die Delegation der Datenerhebung an Kontaktpersonen im Feld Forschenden zwar eine gewissen Handlungsfähigkeit, bergen jedoch das Risiko, dass Methoden nicht mehr auf Basis der Fragestellung, sondern im Hinblick auf die Durchführbarkeit (unter Pandemiebedingungen) ausgewählt werden. Reichertz befürchtet für den Kontext qualitativer Forschung, dass Methoden und die so generierten Ergebnisse unter der Pandemie „weniger tief und weniger begründet und nicht valide“ [15] sein könnten. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass gerade qualitative Forschung unter den veränderten Rahmenbedingungen nicht ihr volles Potenzial entfalten kann, wenn z. B. im Rahmen von Telefon- oder Video-Interviews Gestik oder Mimik nicht adäquat erfasst werden. Diese Annahme wurde auch von Teilnehmenden der vorliegenden Studie geäußert. Gleichzeitig berichten viele der Befragten von explizit positiven Erfahrungen, z. B. mit Telefoninterviews, die in der qualitativen Methodenliteratur als nicht zu favorisierende Form der Datenerhebung eher abgelehnt und deshalb wenig intensiv behandelt werden [23]. Hier ergeben sich Ansatzpunkte für eine Neubewertung von tradierten methodischen Überzeugungen, die durch die radikal veränderten Rahmenbedingungen im Kontext der Pandemie herausgefordert werden.


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Auswirkung auf die persönliche Situation Forschender im Feld der Versorgungsforschung

Die Befragten machten vielfältige Angaben zu den Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf ihre persönliche Situation. Die persönliche Vernetzung und wissenschaftliche Karriere werden von Forschenden in der Versorgungsforschung als überwiegend negativ beeinflusst von der COVID-19 Pandemie empfunden, was hauptsächlich auf die digitalen Kommunikationsmedien zurückzugeführt wird. Gerade für Nachwuchsforschende sind z. B. Kongresse oder andere Veranstaltungen eine wichtige Gelegenheit, um die eigenen Forschungsergebnisse zu präsentieren und somit die persönliche Sichtbarkeit zu erhöhen und sich auch mit anderen Forschende zu vernetzen [vgl. auch 11]. Eine im ersten „Pandemiesommer“ Befragung von Postdocs kommt zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Ungefähr zwei Drittel der Befragten vermuteten, dass sich die COVID-19 Pandemie negativ auf ihre Karriere auswirken würde und sie wegen der Pandemie ein Jobangebot verpasst hätten [24].

Insbesondere Forschende mit familiären Verpflichtungen waren bzw. sind durch die COVID-19 Pandemie belastet. Dies wird hauptsächlich mit der Betreuung von (schulpflichtigen) Kindern zu Hause und die dadurch erschwerte Vereinbarkeit von Familie und Arbeit begründet. Die Studienergebnisse machen zudem deutlich, dass es dadurch bei ca. einem Viertel der Befragten zu Verzögerungen im Projektverlauf kam. In einer Online-Umfrage von Mitarbeitenden der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel fanden die Autor:innen ebenfalls heraus, dass die Betreuung von Kindern zu Hause während der COVID-19 Pandemie als eine Mehrbelastung wahrgenommen wurde, wobei Frauen und Männer hiervon gleichermaßen betroffen waren [25].


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Methodische Reflexion und Limitationen

Wir konnten mit unserer Befragung eine große Bandbreite an Sichtweisen und Erfahrungen von Forschenden aus verschiedensten für die Versorgungsforschung relevanten Disziplinen abbilden. Die Möglichkeit zur Freitextantwort wurde umfassend und keinesfalls nur stichpunktartig genutzt und die qualitativen Ergebnisse leisten einen wertvollen Beitrag zur Einordnung und vertieften Darstellung der quantitativen Ergebnisse. Dennoch handelt es sich um eine nicht-repräsentative Stichprobe einer schwer eingrenzbaren Grundgesamtheit. Die Versorgungsforschung ist per se gekennzeichnet von zahlreichen Schnittstellen mit anderen Feldern und Disziplinen und viele Forschende sind mit ihren Forschungsprojekten diese Grenzen überlappend angesiedelt, sodass eine zuverlässige Rekrutierung ausschließlich von Versorgungsforschenden unrealistisch ist. Darüber hinaus ließ sich eine eindeutige Zugehörigkeit zur Versorgungsforschung aufgrund der Anonymität der Online-Befragung nicht überprüfen und es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Personen mehrmals an der Befragung teilgenommen haben.

Zudem erwies sich die Definition und Operationalisierung der Perspektive der Befragung – Projektebene vs. Personenebene – als methodische Herausforderung. Obwohl das eigentliche Ziel darin lag, Anpassungen bezüglich der Abläufe und Methoden innerhalb des Forschungsprozesses zu erfassen, wurde sich dafür entschieden, nach den projektübergreifenden Erfahrungen einzelner Personen zu fragen. Die Annahme war, dass viele der Teilnehmenden in mehr als ein Forschungsprojekt involviert waren. Die Ergebnisse lassen sich daher nicht eindeutig auf projektspezifische Forschungsprozesse beziehen. Eine Limitation liegt in der reduzierten Fallzahl bei einigen Items aufgrund nicht vollständig ausgefüllter Fragebögen.


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Ausblick

Die diskutierten Ergebnisse erlauben eine erste Bilanz zu den Folgen der COVID-19 Pandemie auf die Versorgungsforschung und -forschende. Durch die Pandemie haben sich das Feld und die Gegenstände der Versorgungsforschung und damit auch die Forschungsbedingungen und methodischen Zugänge verändert. Nach dem ersten „Schock“, unter dem Forschende mit Beginn des ersten Lockdowns standen, wurden pragmatische und dabei häufig innovative Wege gefunden, Projekte auch unter den Bedingungen der Pandemie durchführen zu können. Im Zuge dessen wurden neue methodische Kompetenzen erlernt und erprobt und es ergaben sich zahlreiche Forschungsfragen und Perspektiven. Aktuell sind es nicht mehr primär die Pandemiebedingten Einschränkungen, sondern allgemeine Entwicklungen wie der gravierende Personalmangel und steigende Kosten im Gesundheitswesen auf der einen, sowie die Sorge vor massiven Kürzungen in Drittmittelbudgets auf der anderen Seite, die die Versorgungsforschung beschäftigen. Im Sinne einer gute Versorgungsforschung, die resilient auch mit einschneidenden Einflüssen wie denen durch die COVID-19 Pandemie umgehen kann, halten wir die folgenden Punkte für essentiell und möchten sie zur Diskussion unter Forschenden, Fördermittelgebenden und politischen Entscheidungsträger:innen stellen:

  • Eine gezielte Reflektion unter Forschenden zum Einfluss der methodischen Anpassungen während der Pandemie auf die Qualität und Aussagekraft von Studien in der Versorgungsforschung: Was sind die Potenziale und Grenzen neuer, vor allem digitaler, methodischer Ansätze und wie können sie weiterentwickelt werden?

  • Versorgungsforschung in Zeiten großer dynamischer Unsicherheiten: Wie können angemessene Rahmen- und Förderbedingungen für die Versorgungsforschung geschaffen werden, damit ihre Potenziale zur Lösung der gravierenden Probleme im Gesundheitswesen bestmöglich genutzt werden können?

  • Mehr Flexibilität trotz eher starrer (Förder-)Vorgaben: Wie können geförderte Forschungsprojekte die notwendige Flexibilität aufbringen, um sich an Dynamiken im Feld und unvorhergesehen Ereignisse wie die COVID-19 Pandemie anzupassen?

  • Gezielte Unterstützung: Wie können Forschende, die besonders von Ereignissen wie der COVID-19 Pandemie betroffen sind, z. B. der wissenschaftliche Nachwuchs, Personen mit Care-Verpflichtungen, aber auch Forschende, die mit vulnerablen Zielgruppen und/oder mit kontaktintensiven Methoden forschen, sinnvoll unterstützt werden?


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Danksagung

Wir danken den Mitgliedern der Arbeitsgruppen Qualitative Methoden und organisationsbezogene Versorgungsforschung im Deutschen Netzwerk Versorgungsforschung für Ihre konstruktiven Rückmeldungen bei der Fragebogenentwicklung und ihre Unterstützung bei der Durchführung der Befragung. Wir bedanken uns auch bei den Beteiligten der DGRW-Umfrage „Lösungsstrategien für die Reha-Forschung unter Pandemiebedingungen“ für den kollegialen Austausch und die Einsicht in ein Erhebungsinstrument zur Erhebung der Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf die Rehabilitationsforschung. Die Ergebnisse dieser Befragung sowie eines anschließenden Forums auf dem Rehabilitationswissenschaftlichen Kolloquiums wurden auf der Website der DGRW veröffentlicht: https://dgrw-online.de/wp-content/uploads/Abschlussbericht-DGRW-Umfrage.pdf.

Zusätzliches Material


Korrespondenzadresse

Helge Schnack
Carl von Ossietzky Universitat Oldenburg, Abteilung Organisationsbezogene Versorgungsforschung, Department für Versorgungsforschung, Fakultät für Medizin und Gesundheitswissenschaften, Ammerländer Heerstraße 114-116
26129 Oldenburg
Germany   

Publication History

Article published online:
14 June 2023

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Abb. 1 Formen der Datenerhebung, die aufgrund der Pandemie nicht eingesetzt werden konnten und während der Pandemie eingesetzte Formen der Datenerhebung.
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Abb. 2 Zentrale Themen hinsichtlich Anpassungen und Herausforderungen im Forschungsprozess (Auswertung der offenen Antwortformate).