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DOI: 10.1055/a-2060-1198
Volkmar Sigusch (11. Juni 1940 – 7. Februar 2023)

Volkmar Sigusch war ein unablässiger Erfinder ([Briken und Dekker 2015]). „Meine Bücher sind meine Kinder“, sagte er mir einmal in einem persönlichen Gespräch. Er hat viele geschrieben und bewegte sich mit ihnen weit hinaus ins Reich der Sexualwissenschaft, die er sich aus dem „Gefühl der Sexualität als solche“ ([Sigusch 1988]:1) in den letzten 200 Jahren nach „Zerfall der religiösen Weltsicht“ (ebd.) und dem „Aufkommen des Kapitalismus“ (ebd.) entwickeln sah und zu deren Erkenntnissen er mit seinen Arbeiten mehr als ein halbes Jahrhundert so maßgeblich beigetragen hat. Als Sexualforscher konstruierte und dekonstruierte, mystifizierte und demystifizierte, neologisierte und paläogisierte er. Er seufzte (ebd.: 4), kämpfte, rief zwischen und kämpfte weiter. Er kämpfte an der Seite des Sexualsubjekts – vor allem für Gerechtigkeit. In dem in seiner Lieblingsstadt Lissabon verfassten Manifest der kritischen Sexualwissenschaft ([Sigusch 1988]) lautet die zentrale Botschaft: „Kritische Sexualwissenschaft denkt vom Widerspruch her, versucht, den Prozess der Aufklärung dialektisch zu begreifen, geht beidem nach, Licht und Schatten, auch in sich selber“ (ebd.: 4; Hervorhebung von PB). Sie will „zur Befreiung des Sexuellen beitragen und kommt spätestens als Praxis nicht umhin, dessen Zügelung zuzuarbeiten“ (ebd.: 5). Die „sexuelle Frage“ ist damit für Sigusch groß – so groß immerhin, dass sie „immer auch für die Frage nach dem Sinn des Lebens, nach Glück und Leidenschaft“ steht (ebd.: 5).
Die „Furie des Biologischen“ (ebd.:11) war ihm – wie eine rationalistische oder affirmative Sexualwissenschaft – verdächtig, ja bisweilen zuwider. Sexualwissenschaft dürfe nicht als Naturwissenschaft missverstanden werden; sie müsse auch durch die Psychoanalyse hindurchgehen. Sigusch kämpfte für die Anerkennung des Subjektiven und nicht Verstehbaren, den von ihm so bezeichneten „irreduziblen Sexualrest“ (ebd.: 14): „Dass das wissenschaftlich gefasste Sexuelle zum ungefassten im Widerspruch steht, gibt die Unwahrheit jeder Sexualwissenschaft preis“ (ebd.: 13). So versuchte Sigusch wieder und wieder, „in der Denkbewegung von Kant über Hegel und Marx bis Adorno“ (ebd.: 14) Verbindungen herzustellen.


Jeder Sexualforscher konstruiert seine und „arbeitet mit seiner eigenen Sexualgeschichte“ ([Stoldt und Sigusch 2008]). Sigusch kontrollierte die Preisgabe seiner eigenen Geschichte und arbeitete mit ihr. Was ich in den folgenden Sätzen über ihn schreibe, ist an vielen Stellen von ihm verfasste, subjektive Geschichte, wie er sie mir vor einigen Jahren im Zusammenhang mit der geplanten und damals gescheiterten Überführung von Teilen seiner Bibliothek an das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf aufgeschrieben hat: Am 11. Juni 1940 in Bad Freienwalde/Oder geboren, floh er kurz vor dem Bau der Mauer in Berlin als Student der Humboldt-Universität nach Westberlin. Er studierte Medizin, Psychologie und Philosophie in Frankfurt am Main und Hamburg. Dabei wurde er von so gegensätzlichen Denkern wie den Vertretern der Kritischen Theorie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in Frankfurt/Main und den Psychiatern und Sexualwissenschaftlern Hans Bürger-Prinz und Hans Giese in Hamburg beeinflusst. Am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf promovierte er parallel zu seiner psychiatrischen Facharztweiterbildung zum Dr. med. und habilitierte sich 1972 für das Fach „Sexualwissenschaft“, das damit zum ersten Mal als selbstständiges Universitätsfach anerkannt wurde. Seine Antrittsvorlesung 1972 hatte den Titel „Konzeption einer Sexualmedizin“.
Kurz darauf wurde Sigusch auf den damals neugegründeten Lehrstuhl für Sexualwissenschaft im Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main berufen. Sigusch war von 1973 bis 2006 Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft im Klinikum der Goethe-Universität sowie zugleich mehr als 20 Jahre lang gewählter Geschäftsführender Direktor des Zentrums der Psychosozialen Grundlagen der Medizin des Klinikums. Außerdem war er seit 1974 doppeltberufener Professor für Spezielle Soziologie (Soziologie der Sexualität) im dortigen Fachbereich Gesellschaftswissenschaften.
Sigusch legte als Erster eine empirische, klinische und theoretische Begründung des Faches Sexualmedizin vor und gilt daher als Pionier der deutschen und europäischen Sexualmedizin. Sein erstes sexualmedizinisches Buch „Ergebnisse zur Sexualmedizin“ ([Sigusch 1972]) erreichte eine Auflage von 120 000 Exemplaren. Es war 1972 das weltweit erste Buch, das „Sexual Medicine“ oder „Sexualmedizin“ im Titel führte. 1975 eröffnete er die erste deutsche Sexualmedizinische Ambulanz mit Krankenkassenzulassung. Von 1977 bis 1986 fand der von ihm konzipierte „Frankfurter Fortbildungskurs für Sexualmedizin“ statt, an dem Ärztinnen und Ärzte und Psychologinnen und Psychologen teilnahmen.
Von 1978 bis 1982 und von 1997 bis 2000 war Sigusch Erster Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS). In den 1970er-Jahren gehörte er dem Nobelkommittén des Karolinska Institutet in Stockholm zur Vergabe des Medizin-Nobelpreises an. 1973 gründete Sigusch zusammen mit Gunter Schmidt und den damals führenden US-amerikanischen Sexualforscher*innen (u. a. dem Alfred Kinsey-Nachfolger Paul Gebhard, William Masters und Virginia Johnson, Richard Green und John Money) die International Academy of Sex Research (IASR). Die international führenden Fachzeitschriften “The Journal of Sex Research” und “Archives of Sexual Behavior” beriefen ihn als Co-editor, die Society for the Scientific Study of Sex, New York, als Fellow, die Harry Benjamin International Gender Dysphoria Association als Charter Member. Über 40 Jahre lang gab Sigusch die Monografienreihe „Beiträge zur Sexualforschung“ heraus. 1988 begründete er zusammen mit anderen Forscher*innen unsere Zeitschrift, die erste mit Peer-Review-Verfahren arbeitende, deutschsprachige „Zeitschrift für Sexualforschung“, die er 20 Jahre lang mitherausgab.
Mehrere europäische und amerikanische Universitäten zeichneten ihn als Leading Scientist aus, zum Beispiel die Scuola Superiore Roma und die American University Washington. Zuletzt erhielt Sigusch 2019 den Sigmund-Freud-Kulturpreis.
Volkmar Sigusch veröffentlichte mehr als 700 wissenschaftliche Arbeiten, darunter mehr als 40 medizinische, soziologische und philosophische Bücher, zum Beispiel [„Exzitation und Orgasmus bei der Frau“ (1970)], [„Jugendsexualität“ (mit Gunter Schmidt) (1973)], [„Therapie sexueller Störungen“ (1975)], [„Sexualität und Medizin“ (1979)], [„AIDS als Risiko“ (1987)], [„Geschlechtswechsel“ (1992a)] und [„Praktische Sexualmedizin“ (2020)]. Sein in mehreren Auflagen erschienenes Lehrbuch „Sexuelle [Störungen und ihre Behandlung“ (1996)] gilt als Standardwerk der Sexualmedizin und Psychotherapie. Als Sexualtheoretiker legte er u. a. die Werke [„Vom Trieb und von der Liebe“ (1984a)], [„Die Mystifikation des Sexuellen“ (1984b)], [„Kritik der disziplinierten Sexualität“ (1989)], [„Anti-Moralia“ (1990)], [„Neosexualitäten“ (2005a)], [„Freud und das Sexuelle“ (mit Ilka Quindeau) (2005)], [„Sexuelle Welten“ (2005b)], „Auf der Suche nach der sexuellen Freiheit“ (2011) sowie „Sexualitäten. Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten“ (2013) vor, die internationale Beachtung fanden. Seine Abhandlung [„Die Mystifikation des Sexuellen“ (1984b)] ist 1992 in die französische „Encyclopédie philosophique universelle“ als ein Werk des Jahrhunderts aufgenommen worden ([Sigusch 1992b]). Siguschs Werke sind in viele Sprachen übersetzt worden – zuletzt ins Chinesische mit Förderung des Goethe-Instituts für die Übersetzung von „Sexualitäten. Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten“ ([Sigusch 2013], [2018]).
Siguschs breiten Einfluss belegt die Übernahme seiner Disziplinen überschreitenden Wortschöpfungen, zum Beispiel cisgender und zissexuell, Hylomatie, Liquid Gender, neosexuelle Revolution und Neosexualitäten, Differentia sexualis specifica, orgastische Manschette und Status orgasticus.
In den letzten Jahrzehnten hatte sich Sigusch stark auf die Geschichte des Faches Sexualwissenschaft konzentriert, insbesondere auf die Verfolgung und Vertreibung der jüdischen Sexualforscher*innen durch die Nationalsozialisten. Finanziell unterstützt von der von Jan Philipp Reemtsma gegründeten Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur barg er Nachlässe von aus dem Land getriebenen Sexualwissenschaftler*innen in Israel und den USA. 2008 erschien seine mehrfach ausgezeichnete 700-seitige „Geschichte der Sexualwissenschaft“. Zusammen mit dem Medizinhistoriker Günter Grau gab er 2009 das weltweit erste, 800 Seiten umfassende „Personenlexikon der Sexualforschung“ heraus, für das Forscher*innen aus aller Welt Beiträge verfasst haben.
In der Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verstrickungen seiner Lehrer und der Bedeutung, die das für das Fach, die Fachgesellschaft DGfS und ihn persönlich hatte, blieb Sigusch für seine Verhältnisse zurückhaltend. Offensichtlich erlebte er sich hier zu nah an den ersten Förderern für die ihm sonst so eigene, scharfe Kritik. Er räumte dazu allerdings ein: Die „zweite Generation [der DGfS], zu der Gunter Schmidt, Volkmar Sigusch und Eberhard Schorsch zählen, sah in den sechziger und siebziger Jahren über die Verstrickungen und den Opportunismus ihrer wissenschaftlichen Vorväter hinweg“ ([Sigusch 2008]: 427). Gemeint war hier unter anderem die bis in die achtziger Jahre kolportierte Lüge des Psychiatrieprofessors Hans Bürger-Prinz, die Hamburger Universitätspsychiatrie sei unter seiner Leitung nicht an der Ermordung von Psychiatriepatient*innen beteiligt gewesen.
Wo viel Licht ist, ist auch Schatten. Die Schließung seines renommierten Frankfurter Instituts für Sexualwissenschaft, das damit nur von diesem einen, so außergewöhnlichen Lehrstuhlinhaber geleitet wurde, ist ein eigentümliches Schicksal in der Geschichte des bedrohten Faches Sexualwissenschaft, für dessen Institutionalisierung sich Sigusch so eingesetzt hatte. Siguschs Maßstäbe hatten es seinem wissenschaftlichen Nachwuchs im Umfeld des Instituts offensichtlich nicht leicht gemacht, zur Habilitationsreife heranzuwachsen.
So lernten wir uns 2006 kennen, als Andreas Hill und ich – als in Hamburg kurz vor der Habilitation stehende potenzielle Bewerber auf seine Nachfolge – ihn zu einem ersten persönlichen Gespräch in Frankfurt in einem italienischen Restaurant treffen durften. Seine Gastfreundschaft und freundschaftliche Zugewandtheit und der intellektuelle Genuss in den folgenden Jahren an Abenden voll von Anekdoten, Weisheit und Poesie hat in meiner Erinnerung großen Platz und wird mich weiterhin bei allem Denken über Grundsätzliches in unserem Fach begleiten.
Manche meinten, Sigusch sei verbittert gewesen, er aber meinte sich in Rage. „Es ist eine Tatsache, dass wir es im Westen nicht geschafft haben, eine Ars erotica zu entwickeln, wie es sie ansatzweise in Asien gibt. Wir haben es nur zu einer Kulturbeutel-Kultur gebracht“ ([Haberl und Sigusch 2015]). „Entscheidend wäre die Entfaltung einer Ars erotica, das heißt einer allgemeinen Liebes- und Sexualkultur samt Gleichstellung aller Geschlechter und Menschen, also eine Kultur, die wir bisher nicht hatten. In einem menschenverachtenden und räuberischen Gesellschaftssystem wie dem Kapitalismus kann es eine solche erotische Liebes- und Sexualkultur nicht geben“ ([Hain und Sigusch 2019]).
Wir können uns diesen Sigusch als einen glücklichen Menschen vorstellen. Aber das von ihm fortwährend beklagte sexuelle und geschlechtliche Elend bleibt. Und damit auch sein Vermächtnis an uns: die kritische Sexualwissenschaft. Wir sollten „kritisch, aber im persönlichen Einzelfall zugleich gelassen“ (ebd.) sein. Hier war er für mich persönlich ein wichtiger Berater. Danke, Volkmar. „Là-bas.“
Publikationsverlauf
Artikel online veröffentlicht:
05. Juni 2023
© 2023. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany
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Literatur
- Briken P, Dekker A. Dem Erfinder Volkmar Sigusch zum Geburtstag. Z Sexualforsch 2015; 28: 295-296
- Haberl T, Sigusch V. „Ich bin in Rage angesichts unserer Sexualkultur“. Süddeutsche Zeitung Magazin. 25.05.2015 Als Online-Dokument: https://sz-magazin.sueddeutsche.de/sex/ich-bin-in-rage-angesichts-unserer-sexualkultur-81298
- Hain S, Sigusch V. Keine Freiheiten im kritischen Sinne. Ein Interview mit Volkmar Sigusch über die Dämmerung der kritischen Sexualwissenschaft. Platypus Review Winter. 2019 Als Online-Dokument: https://platypus1917.org/2019/01/12/keine-freiheiten-im-kritischen-sinne-interview-volkmar-sigusch-kritische-sexualwissenschaft/
- Quindeau I, Sigusch V. Hrsg. Freud und das Sexuelle. Neue psychoanalytische und sexualwissenschaftliche Perspektiven. Frankfurt/M., New York, NY: Campus; 2005
- Sigusch V. Exzitation und Orgasmus bei der Frau. Physiologie der sexuellen Reaktion. Stuttgart: Enke; 1970
- Sigusch V. Ergebnisse zur Sexualmedizin. Köln: Wissenschafts-Verlag; 1972
- Sigusch V, Schmidt G. Jugendsexualität. Dokumentation einer Untersuchung. Stuttgart: Enke; 1973
- Sigusch V. Hrsg Therapie sexueller Störungen. Stuttgart: Thieme; 1975
- Sigusch V. Sexualität und Medizin. Köln: Kiepenhauer & Witsch; 1979
- Sigusch V. Vom Trieb und von der Liebe. 2., durchgesehene Auflage. Frankfurt/M., New York, NY: Campus; 1984. a
- Sigusch V. Die Mystifikation des Sexuellen. Frankfurt/M., New York, NY: Campus; 1984. b
- Sigusch V. Hrsg. AIDS als Risiko. Über den gesellschaftlichen Umgang mit einer Krankheit. Hamburg: Konkret-Literatur-Verlag; 1987
- Sigusch V. Was heißt kritische Sexualwissenschaft?. Z Sexualforsch 1988; 1: 1-29
- Sigusch V. Kritik der disziplinierten Sexualität. Aufsätze 1986–1989. Frankfurt/M., New York, NY: Campus; 1989
- Sigusch V. Anti-Moralia. Sexualpolitische Kommentare. Frankfurt/M., New York, NY: Campus; 1990
- Sigusch V. Geschlechtswechsel. Hamburg: Klein; 1992. a
- Sigusch V. La mystification du sexuel. Paris: Presses Universitaires de France; 1992. b
- Sigusch V. Hrsg Sexuelle Störungen und ihre Behandlung. Stuttgart: Thieme; 1996
- Sigusch V. Neosexualitäten. Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion. Frankfurt/M., New York, NY: Campus; 2005. a
- Sigusch V. Sexuelle Welten. Zwischenrufe eines Sexualforschers. Gießen: Psychosozial; 2005. b
- Sigusch V. Geschichte der Sexualwissenschaft. Frankfurt/M., New York; NY: Campus: 2008
- Sigusch V. Auf der Suche nach der sexuellen Freiheit. Über Sexualforschung und Politik. Frankfurt/M., New York, NY: Campus; 2011
- Sigusch V. Sexualitäten. Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten. Frankfurt/M., New York, NY: Campus; 2013
- Sigusch V. Sexualitäten. Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten [als zweibändiges Werk auf Chinesisch]. Peking: Social Sciences Academic Press (China); 2018
- Sigusch V. Praktische Sexualmedizin. Eine Einführung. Durchgesehene Neuausgabe mit einem aktuellen Vorwort von Volkmar Sigusch. Frankfurt/M., New York, NY: Campus; 2020. [2005]
- Sigusch V, Grau G. Hrsg. Personenlexikon der Sexualforschung. Frankfurt/M., New York; NY: Campus: 2009
- Stoldt T, Sigusch V. „Das Geschlechtliche Elend ist gewaltig.“ Welt 12.06.2008. Als Online-Dokument: https://www.welt.de/welt_print/article2093722/Das-geschlechtliche-Elend-ist-gewaltig.html