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DOI: 10.1055/a-2076-8699
Originalarbeit

Die Betreuung transgeschlechtlicher Personen am Universitätsklinikum Leipzig und die Rolle Lykke Aresins zwischen 1960 und 2000

Care of Transgender Persons at the University Hospital Leipzig between 1960 and 2000
Franz Baumann
Medizinische Fakultät Bereich Geschichte, Ethik und Theorie der Medizin, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg
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Zusammenfassung

Einleitung In Hinblick auf den Umgang mit transgeschlechtlichen Personen in der DDR verzeichnet die derzeitige Forschung Leerstellen. Über die Lebensumstände dieser Menschen lassen sich bis auf wenige Einzelschicksale kaum Aussagen treffen. Bisherige Arbeiten beschränken sich auf den Großraum Berlin, doch auch in Leipzig kann in Bezug auf Transgeschlechtlichkeit eine organisierte medizinische Betreuung nachgewiesen werden.

Forschungsziele Im Folgenden ist aufzuzeigen, wie sich das Universitätsklinikum Leipzig als DDR-Behandlungszentrum für Transgeschlechtlichkeit etablierte und welche Bedeutung der Sexualwissenschaftlerin Lykke Aresin in diesem Kontext zukommt.

Methoden Unter Berücksichtigung des derzeitigen Forschungsstandes wird die Entwicklung der medizinischen und juristischen Grundpositionen zum Thema Transgeschlechtlichkeit in der DDR dargelegt und mithilfe einer Falldarstellung ein Geschlechtswechsel verdeutlicht. Mittels Analyse verschiedener zeitgenössischer Publikationen kann die Entwicklung von Leipzig als spezialisiertes Behandlungszentrum nachgewiesen werden.

Ergebnisse Bis Mitte der 1970er-Jahre waren Geschlechtsangleichungen in der DDR juristisch nicht geregelt. Folglich mussten transgeschlechtliche Menschen enorme administrative Hürden überwinden, um Geschlechtswechsel zu erreichen. Lykke Aresin setzte sich in ihrer Beratungsstelle in Leipzig bereits in den 1960er-Jahren mit dem Thema Transgeschlechtlichkeit auseinander. Sie legte Grundlagen dafür, dass sich in Leipzig ein spezielles Netzwerk etablieren konnte, das bis Anfang der 1990er-Jahre Geschlechtsangleichungen begleitete.

Schlussfolgerung Am Universitätsklinikum Leipzig bestand ein sensibilisiertes und hochspezialisiertes Team, das sich der Behandlung von transgeschlechtlichen Menschen annahm und als multiprofessionelles Zentrum genitalangleichende Operationen anbot. Geschlechtsangleichungen wurden in der DDR somit auch außerhalb der Berliner Charité organisiert. Hinweise, dass eine solche Zentrenbildung seitens des DDR-Staates angeregt wurde, lassen sich nicht eruieren. Somit ist davon auszugehen, dass medizinische Expert*innengruppen Handlungsspielräume außerhalb der staatlichen Einflusssphäre nutzten und die Betreuung von transgeschlechtlichen Personen ermöglichten.

Abstract

Introduction Knowledge about the treatment of transgender persons in the GDR remains deficient. Beyond a few individual cases, hardly any statements can be made about the living conditions of these people. Previous research has focused on the greater Berlin area, but there is evidence that comprehensive transgender care also existed in Leipzig.

Objectives The following paper assesses how the University Hospital Leipzig established itself as a GDR transgender care center as well as the impact that sexologist Lykke Aresin had in this context.

Methods The development of medical and legal points of view on the subject of transgender in the GDR is retraced from research literature and a case study is used to illustrate the transition process implemented at this time. An analysis of various publications is able to show the development of Leipzig as a transgender care center.

Results Until the mid-1970s, gender transitions in the GDR were not legally regulated. Consequently, transgender people had to overcome enormous administrative hurdles in order to achieve their gender transition. As early as the 1960 s, Lykke Aresin addressed the issue of transgender in her counseling center in Leipzig. She laid the foundations for the establishment of a special network in Leipzig that assisted transitions until the early 1990 s.

Conclusion The University Hospital Leipzig housed a unique team that focused on transgender care and offered genital reassignment surgeries as part of a multiprofessional center. Gender transitions in the GDR were thus also handled professionally outside of the Berlin Charité hospital. There are no indications that the GDR state encouraged the formation of such centers. It can therefore be assumed that medical expert groups made use of scopes for action outside the state’s sphere of influence and facilitated the development of care for transgender persons.



Publication History

Article published online:
05 June 2023

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