Z Sex Forsch 2023; 36(02): 112-114
DOI: 10.1055/a-2078-0146
Nachruf

Ken Plummer (4. April 1946 – 4. November 2022)

Leben, Lehren, Lieben. Zwischen Queerer Sexualforschung und Kritischem Humanismus
Christian Klesse
Department of Sociology, Manchester Metropolitan University, UK
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Prof. Dr. Ken Plummer (Foto: Travis Shiu Ki Kong[1])

Im Alter von 76 Jahren ist Prof. Dr. Ken Plummer im November letzten Jahres verstorben. Sein Tod beschloss ein kreatives Leben, welches er – unter anderem – dem Wissensgewinn um Fragen des Begehrens, des sexuellen Erlebens und der weitreichenden Ignoranz hinsichtlich der Vielfalt intimer und sexueller Praxen widmete. Mit Ken Plummer verloren wir einen der originellsten Pioniere der kritischen sozialwissenschaftlich orientierten Sexualforschung und der LGBTQIA +-Studien. Diejenigen, die vertrauten Umgang mit ihm hatten, werden seine Lebensfreude, seinen Genusssinn, seine Offenheit und Empathie, seinen freisinnigen Intellekt und unbegrenzten Wissensdurst vermissen. Sein radikal-humanistischer Ansatz und seine Ablehnung jeglicher Orthodoxie in Fragen methodischer Herangehensweisen, wissenschaftlicher Darstellung oder konzeptioneller Durchdringung bereicherten und förderten interdisziplinäre Ansätze in der Sexualforschung über mehrere Jahrzehnte hinweg. Sein Lebenswerk umfasst eine Vielzahl an Büchern und mehr als 150 Aufsätze und Buchkapitel. Darüber hinaus gründete er die international sehr einflussreiche sexualwissenschaftliche Zeitschrift „Sexualities“, die er bis zum Jahre 2012 in Eigenregie herausgab.

Ken Plummer war einer der ersten offen schwulen Autoren innerhalb der britischen soziologisch-orientierten Sexualwissenschaft und etablierte zusammen mit anderen Vorstreiter*innen Lesbischwule Studien als anerkannte Disziplin des Forschungs- und Lehrbetriebes. Obwohl Ken Plummer sich selbst philosophisch dem Pragmatismus und Symbolischen Interaktionismus verpflichtet sah, setzte er sich intensiv mit verschiedensten Traditionen und theoretischen Ansätzen auseinander, immer um Dialog und eine integrative Diskussionskultur bemüht. Insbesondere sein Spätwerk fokussiert auf die Verantwortung der Soziologie und kritischen Sexualforschung und eine ethisch fundierte Position hinsichtlich postmoderner globaler Wertkonflikte um sexuelle und geschlechtliche Vielfalt.

Ken Plummer erblickte das Licht der Welt in Palmers Green in Nord-London, ging in London zur Schule und studierte Mitte der 1960er-Jahre Soziologie (mit einem Fokus auf Sozialpsychologie) am Enfield College, wo ihn Stan Cohen mit dem Symbolischen Interaktionismus und der Devianztheorie vertraut machte. Noch in den Jahren der Illegalisierung erkundete Ken Plummer die schwule Bar-Szene in Soho und hatte sein Coming-out im Jahre 1966. Wenige Jahre später wurde er aktives Mitglied der Gay Liberation Front, die am 13. Oktober 1970 an der London School of Economics (LSE) gegründet wurde, der Universität, an der er auch seine Doktorarbeit in Soziologie vorbereitete. Im Jahr 1975 nahm er schließlich eine Stelle als Lehrkraft für Sozialpsychologie und Devianzsoziologie am Department of Sociology der University of Essex in Colchester an, wo er für die nächsten 30 Jahre Generationen von Studierenden beglücken würde. Schon im darauffolgenden Jahr knüpfte er eine Verbindung mit dem Department of Sociology an der University of California in Santa Barbara, die eine langjährige Lehrtätigkeit an dieser Institution begründete (bis 2004). Im Jahre 1978 zog er nach Colchester, wo er seinen Lebenspartner Everard Longland traf, mit dem er bis an sein Lebensende in Wivenhoe zusammenwohnte. Nach schwerer Krankheit und Bedarf an einer Lebertransplantation ging Ken Plummer 2005 in Rente. Die Jahre nach seiner Pensionierung sollten sich als eine sehr produktive Zeit erweisen, geprägt durch eine intensive Publikationstätigkeit, durch die er versuchte, insbesondere seine eigene Theorie eines Kritischen Humanismus zu systematisieren und die methodischen und theoretischen Ansätze seines wohl erfolgreichsten Werkes „Telling Sexual Stories“ ([Plummer 1995]) zu vertiefen.

Aufgrund der Kürze dieses Nachrufes kann ich nur einige seiner wichtigsten Publikationen würdigen. Sein Buch „Sexual Stigma“ ([Plummer 1975]) lieferte ein Manifest des radikalen sozialen Konstruktivismus, der sich zu einem zentralen Paradigma der sozialwissenschaftlich orientierten Sexualforschung der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhundert entwickelte. Ken Plummer modifiziert hier die Skripttheorie von John H. Gagnon und William S. Simon ([Gagnon and Simon 1977]) zu einer dezidiert symbolisch interaktionistischen Theorie der Homosexualität. Die durch Ken Plummer herausgegebenen Sammelbände „The Making of the Modern Homosexual“ ([Plummer 1981]) und „Modern Homosexualities:“ ([Plummer 1992]) liefern theoretische Grundlagen und empirische Fallstudien für eine konstruktivistische Perspektive in den Lesbian and Gay Studies.

„Telling Sexual Stories“ (1995) untersucht die Machtverhältnisse, welche Erzählkulturen und sexuelle Geschichten strukturieren. Hier fokussiert Ken Plummer vor allem auf die Relevanz sexueller Erzählungen (wie z. B. Geschichten des Coming-outs, des Erlebens und Überlebens sexueller Gewalterfahrungen sowie der Sucht und Suchtbewältigung) sowohl in sozialen Bewegungen als auch in der Populärkultur. Das Erzählen von Geschichten, die Schaffung von Öffentlichkeit, Kontrolle von Narrativen, Regulierung Narrativ-geleiteter Affekte usw., all diese Dinge fungieren als Kernelemente seiner neuen Theorie der Macht und Gegenmacht im gesellschaftlichen Wertewandel. In „Intimate Citizenship“ ([Plummer 2003]) vertieft Plummer diese Perspektive durch eine Weiterentwicklung von Jürgen Habermas’ Theorien vom Strukturwandel der Öffentlichkeit sowie deren Kritik durch Nancy Fraser ([Fraser 1990]) zu einer innovativen Theorie lesbischwuler oder queerer Gegenöffentlichkeiten als Widerstandspraxen. In diesen Werken werden Fragen des politischen Konflikts um Fragen der sexuellen Differenz auf eine Art verhandelt, die dominante Machtpositionen hinterfragt, um sozialen Wandel mit dem Ziel egalitärer Vielfalt zu ermöglichen.

In seinem Spätwerk (d. h. Publikationen nach der Pensionierung in 2005) entwickelt Ken Plummer seinen Ansatz einer narrativen Soziologie durch Werke wie „Cosmopolitan Sexualities“ ([Plummer 2015]) und „Narrative Power“ ([Plummer 2019]) weiter. Eine Theorie der Narrative ist auch ein zentrales Element seines letzten Buches „Critical Humanism“ ([Plummer 2021]), in welchem er seine Argumente für einen kosmopolitischen Kritischen Humanismus ([Plummer 2001]) als normative Position der Ethik entwickelt. Diese Phase seines Werkes ist sowohl durch Bezüge auf postmoderne Leitgedanken (wie Differenz, Multiplizität, Globalisierung) als auch auf einen (letztendlich modernen) universellen aufklärerischen Humanismus gekennzeichnet, den Ken Plummer jedoch nicht eurozentrisch, sondern bewusst als historisches Welterbe mit einer komplexen Genealogie deutet. In der immer wiederkehrenden Betonung der Allgegenwärtigkeit von sexueller und kultureller, gelebter, gefühlter und verkörperlichter Differenz nähert sich sein Werk manchen Prämissen Queerer Theorie und Weltsicht an, während es andere (wie Dekonstruktion, Relativismus, Anti-Subjektivimus) oft radikal ablehnt.

Ken Plummers ambivalentes Verhältnis zur Queer Theory wird in vielen seiner Texte seit den 1990er-Jahren sehr direkt benannt, am deutlichsten sicherlich in dem mit Arlene Stein verfassten Text „‘I can’t even think straight’. ‘Queer Theory’ and the Missing Sexual Revolution in Sociology“ ([Stein und Plummer 1994]). Queere Theorie war in seiner Sicht vor allem eine theoretische Verengung, die in ihrer Leidenschaft für Abstraktion uns darüber hinaus auch die Messiness des körperlichen Erlebens (ob es sich nun um Sex oder Krankheit handelt) vergessen lässt ([Plummer 1998], [2012]).

In einer groß angelegten Herausgabe dokumentiert er in vier Bänden die Vielschichtigkeit soziologischer Forschung zu Sexualität ([Plummer 2002]). Über sein sexualwissenschaftliches Werk hinaus veröffentlichte er auch hervorragende Dokumentationen zur Geschichte allgemeiner soziologischer Theorie, insbesondere in Bezug auf den Symbolischen Interaktionismus ([Plummer 1991], [1997]). Die Lehre lag ihm ebenfalls am Herzen, was ihn dazu veranlasste, auch einige Lehrbücher zu schreiben ([Macionis und Plummer 2012]; [Plummer 2010]).

Ken Plummer war ein ausgezeichneter Lehrer und PhD Supervisor. Ich selbst hatte das Privileg und Vergnügen, als Doktorand am Department of Sociology an der University of Essex in den Jahren von 1997 bis 2003 an einigen seiner Vorlesungen und Seminare teilnehmen zu können. Besonders gerne erinnere ich mich an unsere PhD-Arbeitstreffen, in welchen er mir mit Ratschlägen und kritischem Feedback zur Seite stand. Er hatte ein ausgezeichnetes Augenmaß für Lücken, Strukturschwächen und konzeptionelle Unklarheiten und vermochte mir gleichzeitig, Sicherheit und Zuversicht in meine eigene Arbeit zu vermitteln. Das Beste und Außergewöhnlichste war jedoch der vorzügliche Humor, mit dem er unsere Sitzungen gestaltete. Ich habe nie mehr so viel in akademischen Arbeitstreffen gelacht wie in diesen Sitzungen. Soziologisches Forschen sollte Spaß machen und Freude bereiten! Das war eine der wertvollsten Lehren, die ich aus meiner Zusammenarbeit mit Ken Plummer mitgenommen habe. Die Stimmen von ehemaligen Student*innen von ihm auf der Webseite „Tributes paid to Professor Ken Plummer“ sind ein Zeugnis für die positive Wirkung, die er durch seinen engagierten und gleichzeitig lockeren und entspannten Stil auf Studierende haben konnte, z. B. diejenige von Elisabeth Voges (BA Sociology, 1993 to 1996): „Ken made me fall in love with Sociology in my first year at Essex. I changed to a Sociology degree and because of him, became a teacher of A level Sociology. […] I am so incredibly grateful to have had the privilege of being taught by this colourful, kind and imaginative person” ([University of Essex 2022]).

Auch Ex-Kolleg*innen und Freund*innen erinnern sich an angenehme Eigenschaften und Charakterzüge: „He had a joyful laugh and a love of life“, resümiert Prof. Peter Nardi, Emeritus Professor of Sociology, Pitzer College, Claremont, California ([University of Essex 2022]). Andere erwähnen seinen Sinn für Genuss, Kurzweiligkeit und Unterhaltung oder seine Liebe für ABBA, Broadway-Musicals, Michael Feinstein and Stephen Sondheim.

Doch Ken Plummer war auch ein Kämpfer. Sein Werk beschäftigt sich durchgehend mit politischen Fragen, oft mit Konfliktlinien innerhalb feministischer oder LGBTQIA + -Politiken. In seinen letzten Büchern positioniert er sich wiederholt klar hinsichtlich der globalen Culture Wars, in denen Queers, Trans*-Personen und andere minorisierte Gruppen immer wieder als Angriffsfläche dienen. Doch sein Ansatz war doch immer ein progressiv-liberaler, nicht unbedingt ein radikaler oder gar revolutionärer. Er selbst drückt das in einer autobiografischen Reflexion zum Jahre 1968 folgendermaßen aus: „I have spent most of my life in fact wanting to be a Marxist, and not quite being able to make it: intellectually, politically or emotionally! Being gay made me a young engaged person and I was definitely on the side of all the liberal causes of that time with a very strong left leaning“ ([Plummer 2008]).

Ein Kämpfer war Ken Plummer auch im Umgang mit Krankheit. In seinem autobiografischen Text „My Multiple Sick Bodies“ ([Plummer 2012]) setzt er sich mit seiner Erfahrung von Leberversagen und Organtransplantation auseinander, beschreibt eindringlich und in drastischen, ungeschminkten Bildern Krankheit sowohl als Kampf als auch eine Möglichkeit, Öffnung und Einladung, sich selbst, den eigenen Körper und das Leben, neu zu erkunden. Er überlebte diese Krise, auch dank einer Organspende. Die Erfahrung machte ihn zu einem überzeugten Verfechter von Organspende-Programmen. So begegnete er seiner Krankheit mit Kreativität und Aktion, doch gleichzeitig verwies die Erfahrung auch auf die grundlegende Prekarität des menschlichen Lebens. Ich lese den folgenden Auszug aus seinen autobiografischen Fragmenten auch unter dem Zeichen von Krankheitserfahrung, selbst wenn Krankheit als solche nicht direkt benannt wird: „I believe that everything we do as humans (and sociologists) is saturated with creativity and action, language and materiality, ethics and power, ceaseless change and contingency, and multifarious plurality. […] I worry that sociology can be driven by too much form, too much method, too much theory, too much abstraction. And not enough precarious human social life“ ([Plummer 2008]).

Der Tod ist ohne Zweifel die ultimative Manifestation der „Prekarität des sozialen menschlichen Lebens“. Danach bleibt nur: Erinnerung, individuell und kollektiv – und Empathie und Solidarität mit denen, die den Verlust am schmerzlichsten erfahren. Ken Plummer hinterlässt seinen Partner Everard, mit dem er seit 2006 in einer Civil Partnership verbunden war, seinen Neffen Jon, weitere Verwandtschaft sowie Freund*innen, Ex-Kolleg*innen und ehemalige Studierende in tiefer Trauer. Die Ermutigung zu einer bewussten gemeinschaftlichen Erinnerungspraxis war auch etwas, das Ken Plummer selbst ganz besonders am Herzen lag. Das wird verdeutlicht durch sein starkes Interesse an persönlichen Erzählungen, seine Wertschätzung einer Methodik dokumentarischer lebensgeschichtlicher Forschung ([Plummer 2001]) und seine intensive Bemühung um die Genese reflektiver institutioneller Erinnerungskulturen, wie sie in der Herausgabe einer umfangreichen Geschichte zu 50 Jahren des Departments of Sociology der University of Essex (Plummer 2014) zum Ausdruck kam. Es ist nun an uns, Ken Plummers Beitrag zur Realisierung einer queeren und humanistischen Sexualforschung und einer Gesellschaft, die geschlechtliche und sexuelle Vielfalt bekräftigt und ermöglicht – anstatt sie zu tabuisieren und zu unterdrücken – in unserer Erinnerung zu bewahren und durch Erinnerung am Leben zu erhalten, sie in unseren Gedanken, Erzählungen, Forschungen, Diskussionen und Gemeinschaftspraxen weiterzuentwickeln.



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Article published online:
05 June 2023

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