Pneumologie 2023; 77(07): 413-414
DOI: 10.1055/a-2101-3036
Editorial

Etablierung von Intensivnachsorge-Ambulanzen – mehr Fragen als Antworten

Establishing critical care outpatient clinics – more questions than answers
Stefan Kluge
 1   Klinik für Intensivmedizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
,
Tobias Welte
 2   Klinik für Pneumologie und Infektiologie, Medizinische Hochschule Hannover
› Author Affiliations

Der Artikel von Sticht und Malfertheiner in dieser Ausgabe der „Pneumologie“ wirft die Frage auf, ob für Patienten mit Post-Intensive-Care-Syndrom (PICS) spezielle Intensivnachsorge-Ambulanzen etabliert werden sollten und welche Disziplin besonders geeignet ist für die Therapiesteuerung dieser Gruppe [1]. Das Post-Intensive-Care-Syndrom (PICS) beschreibt einen Symptomkomplex aus physischen, kognitiven und psychischen Einschränkungen bei Patienten, die einen schweren Krankheitsverlauf oder Intensivaufenthalt überstanden haben. Diese Fragestellung hat natürlich viele Parallelen zu der gerade sehr intensiv geführten Diskussion, ob wir spezielle Post-COVID-Ambulanzen benötigen, auch wenn es zwischen den Krankheitsbildern pathophysiologisch erhebliche Unterschiede gibt.

Der Arbeitskreis „Long-COVID“ des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer fordert die Einrichtung von spezialisierten Post-COVID-Syndrom-Zentren an Einrichtungen der Maximalversorgung [2]. Solche Strukturen existieren bereits an einigen Universitätskliniken in Deutschland.

In internen Beratungen sowohl mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) als auch mit dem Bundesministerium für Gesundheit wurde zudem diskutiert, die Fokussierung auf COVID19 zu verlassen und weitergehend von einem Post-Infektionskrankheitssyndrom zu sprechen, da eine dem Post-COVID ähnliche Symptomatik auch für viele andere Infektionskrankheiten (z.B. nach EBV-Infektionen) bekannt ist. Pathophysiologisch scheint die immunologische Antwort des Erkrankten, also die Wirtsreaktion, für das Erkrankungsbild verantwortlich, die aber nur bedingt abhängig vom Erreger selbst ist. Für eine Erregerpersistenz als Stimulus der Symptomatik gibt es zum jetzigen Zeitpunkt jedenfalls keinen Anhalt.

Wir stimmen mit den Autoren völlig überein, dass die Pneumologie in der Therapiesteuerung dieser komplexen Krankheitsbilder eine besondere Rolle einnehmen muss. Schließlich liegen sowohl beim Post-Intensive-Care-Syndrom als auch bei Long-COVID oft pulmonale Symptome wie Luftnot und Husten vor, die eine Abklärung durch den Pneumologen erfordern. Beachtet werden muss aber, dass es sich sowohl beim Post-Intensive-Care-Syndrom als auch bei Long-COVID um „Multisystemerkrankungen“ mit sehr vielfältigen Symptomen und extrem variablen Beschwerdebildern handelt. Da bei beiden Entitäten mehrere Organsysteme betroffen sein können, ist eine interdisziplinäre (u. a. durch Einbeziehung von Allgemeinmedizin, Innerer Medizin, Infektiologie, Kardiologie, Pneumologie, Rheumatologie, Pädiatrie, Neurologie, HNO, Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik, Physikalischer und Rehabilitativer Medizin sowie Schmerzmedizin) und sektorenverbindende Zusammenarbeit in Kooperation mit den Haus- und Fachärzten notwendig. Zudem muss definiert werden, welche Patientengruppen rein ambulant und welche stationär betreut werden sollen und wann eine Anbindung an spezialisierte Zentren (z. B. beim Chronic-Fatigue-Syndrom) notwendig ist. Bei Long-COVID besteht die Problematik, dass Long-COVID weiterhin nicht klar definiert ist und letztendlich weiterhin eine Ausschlussdiagnose darstellt. Bis heute gibt es keine pathognomonischen Untersuchungsergebnisse oder laborchemischen Befunde, sodass für die Überweisung an eine spezielle Ambulanz (auch aufgrund der hohen Nachfrage) eine Vorselektion sinnvoll erscheint.

Grundsätzlich ist es denkbar, dass eine gezielte poststationäre Versorgung der erwähnten Patientengruppen die Behandlungsqualität verbessern könnte. Belege dafür liegen derzeit nicht vor. Das Fehlen von evidenzbasierten Behandlungen schürt zusätzlich die Frustration der betroffenen Patienten und ihrer Kliniker.

Die Autoren diskutieren korrekterweise weitere offene Fragen [1]: Wann ist der richtige Zeitpunkt für einen solchen Termin in einer Spezialambulanz? Welche Patienten profitieren von einer Behandlung? Ist die Integration solcher Ambulanzen in bereits etablierte Rehabilitationsstrukturen möglich? Nicht zuletzt besteht auch die Problematik einer ungeklärten Vergütungssituation, die dem Aufbau solcher Nachsorgeambulanzen im Weg steht.

Unseres Erachtens sind für besondere und schwer erkrankte Patienten spezielle Nachsorge-Ambulanzen sicherlich sinnvoll, der überwiegende Teil der klinischen Versorgung sollte aber im ambulanten Bereich erfolgen. Hospitalisierte Patient*innen und Patient*innen mit massiver Erschöpfung und Belastungsintoleranz sollten einer stationären Rehabilitationsmaßnahme zugeführt werden.

Die unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie erstellte S1-Leitlinie Long/Post-COVID konstatiert zudem: Besteht nach COVID-19 eine alltags- und/oder berufsrelevante Beeinträchtigung durch Dyspnoe und körperliche Minderbelastbarkeit/Fatigue, soll sowohl bei Krankenhausentlassung als auch bei Long/Post-COVID zu einem späteren Zeitpunkt bei Nichtausreichen ambulanter Heilmittel die Verordnung einer (teil-)stationären pneumologischen Rehabilitation erfolgen [1].

Letztlich spiegelt der Artikel das Strukturproblem des deutschen Gesundheitswesens am Beispiel eines besonderen Bereichs, der Rehabilitationsmedizin, wider. Die Aufgabenbereiche von stationärer und ambulanter Rehabilitation sind schlecht definiert, beide Bereiche kooperieren zu wenig in der Versorgung. Letztlich macht eine stationäre Rehabilitation gerade bei komplexen Krankheitsbildern – und das ist das Post-Intensivstationssyndrom genau wie das Post-COVID-Syndrom – keinen Sinn, wenn sie nicht von einer ambulanten Weiterbehandlung gefolgt wird. Auch die Übergänge zwischen den Versorgungsstrukturen sind schlecht definiert: Was macht – und kann – der hausärztliche Bereich? Wann braucht es eine fachärztliche Versorgung? Wann Spezialambulanzen? Eine Reform des Gesundheitswesens, die dem hohen Anspruch gerecht werden will, muss die Notwendigkeiten klar definieren und sektorübergreifend Lösungen schaffen. Bisher gibt es hierzu viele Ankündigungen, aber wenig greifbare Konzepte.



Publication History

Article published online:
13 July 2023

© 2023. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany